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Große Worte - nüchtern verstanden
von Wilhelm Stählin

Zu einigen Stellen des Jakobus-Briefes

LeerWir sind ständig in Gefahr, uns an Worten zu berauschen und uns mit Worten zu betrügen. Es gibt in unserem christlichen Sprachgebrauch einige Worte, die in diesem Sinne besonders verführerisch sind. Sie haben sozusagen einen doppelten Boden, der es uns besonders leicht macht, uns und andere über ihre Tiefe zu täuschen. Wir haben uns angewöhnt, in Bibelworten, in Predigten, in Gebeten diese Worte in einer sehr reichen, gefüllten Bedeutung zu gebrauchen; sie sind dann gleichsam geladen mit einem gewichtigen Inhalt, so daß wir unbedenklich die größten Dinge von ihnen aussagen und die kühnsten Erwartungen daran knüpfen. Aber wir können nicht hindern, daß die gleichen Worte auch in einem sehr viel flacheren, harmloseren und unverbindlicheren Sinn verstanden und gebraucht werden; wir versäumen beides, das seicht plätschernde Bächlein unserer landläufigen Redeweise und das unergründliche Meer tiefer Weisheit voneinander zu unterscheiden, und so entsteht ein peinliches Mißverhältnis zwischen jenen hochgespannten Versicherungen und unseren leichthin gesprochenen Worten, die wie allzu schwache Stützen die Last, die auf ihnen ruhen soll, nicht zu tragen vermögen.

LeerDer Brief, der unter dem Namen des Jakobus im Neuen Testament steht, hat manchen aufmerksamen Bibellesern große Verlegenheit bereitet, weil er von so wichtigen Fragen wie der nach dem Verhältnis von Glauben und Werfen ganz anders zu denken und zu lehren scheint, als wir es bei dem Apostel Paulus gelernt haben; Luther war nicht der einzige unter den großen Lehrern der Kirche, der eben aus diesem Grunde diesem Brief gram war und ihm wenig Lob spenden wollte. Aber liegt solche scheinbar unüberbrückbare Verschiedenheit nicht zu einem guten Teil daran, daß Jakobus dieselben Worte, die bei Paulus sehr geladen und hintergründig sind, in jener anderen, harmlosen und oberflächlichen Weise gebraucht? Und entspricht nicht dieser Sprachgebrauch des Jakobus unheimlich genau der Art, wie eben diese Worte allgemein gebraucht und verstanden werden? Darum ist seine Warnung sehr begründet und sehr notwendig, nicht diesen Worten, so wie sie normalerweise verwendet und verstanden werden, jene ungeheuren Dinge zuzuschreiben, die nur dann gelten, wenn ein sehr viel tieferer Sinn sich mit ihnen verbindet.

LeerEinige wenige Beispiele, die sich vermehren ließen, werden deutlich machen, was mit all dem gemeint ist.


1. Vom „Hören”

LeerIm 50. Kapitel des Jesaja-Buches bekennt der Knecht Gottes von sich selbst: „Der Herr hat mir das Ohr geöffnet, daß ich höre wie ein Jünger.” Nur wem Gott das Ohr geöffnet hat, kann so „hören”, daß er ein Jünger wird, der seinem Herrn „gehorcht” und „gehört”. Dieses Hören ist ein inneres Schicksal, das über den Weg des Hörenden entscheidet und verfügt. Es wird darum in der Heiligen Schrift immer wieder mit dem lebendigen Prozeß verglichen, den das Samenkorn im fruchtbaren Erdreich erleidet und hervorruft; es ist ein Lebensvorgang, der die innigste Verbindung zwischen dem Boden und dem in ihn eingesenkten Keim in sich schließt. Genau so verbindet sich bei dem echten „Hören” die göttliche Wahrheit, die zu einem Menschen dringt, mit seinem Herzen, das heißt mit seinem Wesensgrund selbst. Jeder Gottesdienst zielt auf dieses Hören, und nur die Menschen, bei denen es zu einer solchen befruchtenden Begegnung kommt, haben im vollen Sinn „das Wort” „gehört”.

LeerAber man muß sitch vor Verwechslungen hüten. Wir hören tausend Dinge, ohne daß das Ackerland unseres Herzens den Keim eines neuen Lebens in sich aufnimmt; wir hören ungezählte Bibelworte, Predigten, Ansprachen, ohne daß im tieferen Sinn irgend etwas an uns geschieht. Ja, es scheint ein unheimliches Gesetz zu walten, wonach durch die Menge dessen, was wir hören, die Fähigkeit, wirklich zu hören, immer mehr verkümmert. Es wäre lächerlich, wenn wir von diesem äußerlichen und oberflächlichen Hören jene großen und tiefgreifenden Wirkungen erwarteten, die ans dem echten Hören erwachsen. Ein flüchtiger Eindruck, der wie die rasch wechselnden Bilder eines Films vorübergleitet, hinterläßt in der Seele keine bleibenden Spuren; ehe der Keim hätte Wurzel schlagen können, ist er durch die Flut neuer Worte und Bilder hinweggeschwemmt. In diesem Sinn warnt der Jakobus-Brief (1, 22 f.) vor dem Selbstbetrug des Menschen, der „nur” Hörer ist und „Nur-Hörer” bleibt. Man kann diese Warnung nicht dadurch entkräften, daß man sagt, hier sei vom Hören in einem allzu flachen Sinn geredet; denn diese Redeweise ist nicht flacher, als unser Hören selbst in unzähligen Stunden ist. Hören und Hören ist zweierlei, und weil es dieses bloße Hören gibt, bei dem in Wahrheit nichts geschieht, muß unaufhörlich davor gewarnt werden, den Wert dieses Hörens für das geistliche Leben zu überschätzen.


2. Vom „Glauben”

LeerDie Art, wie wir in unserer kirchlichen Tradition vom „Glauben” reden, ist fast etwas wie eine Geheimsprache der in diesen Sprachgebrauch Eingeweihten. Wir meinen damit eine Bewegung, die sich in der Tiefe des Herzens vollzieht: ein Mensch hört willentlich auf, sein eigener Herr zu sein; er übergibt sich selbst, fast wie einen Gefangenen, in die Hand Gottes und überläßt sich seiner Führung. Er verzichtet darauf, durch eigene Leistung den Wert seiner Existenz zu begründen oder zu erhöhen, und vertraut sich gänzlich den tragenden und leitenden Kräften der himmlischen Welt an; ja er „gelobt” sich opfernd an seinen Gott, um aus der Hand der Gnade sein Leben neu zu empfangen. Dieser Glaube bedeutet eine kopernikanische Wendung und gibt dem Lebensganzen eine neue beherrschende Mitte. Nichts kann so bleiben, wie es ohne den Glauben gewesen ist; die glaubende Hinwendung und Hingabe an Gott bringt Früchte hervor, die die Gestalt des Lebens in allen Bereichen verändern. Von diesem Glauben sagt die Kirche - und zwar nicht nur die Kirche der Reformation -, daß er die einzige Gott wohlgefällige Haltung des Menschen sei und daß wir allein durch ihn in den Zustand gelangen, in dem Gott uns haben will.

LeerAber ist es nicht ein fast hoffnungsloses Bemühen, diesen tiefen Sinn des Wortes Glauben einem weiteren Kreis von Menschen nahezubringen? Sie hören aus dem Grundwort unserer kirchlichen Sprache nichts anderes heraus, als was diese Vokabel im Gebrauch des Alltags bedeutet; sie sagen: „ich glaube”, und sie wollen damit sagen: ich meine, ich halte es für möglich und nicht für ganz unwahrscheinlich; ich neige zu der Auffassung und schließe mich, da man schon nichts Sicheres wissen kann, diesen oder jenen mir einleuchtenden Überzeugungen an. So lauert hinter jedem „Glaubenssatz” das Fragezeichen, und jeder „Glaube” trägt ausgesprochen oder unausgesprochen den Vorbehalt eines unverbindlichen „Vielleicht”; und damit wird all das, was die Sprache der Kirche von dem Wert und der Kraft des Glaubens sagt, zu einem seelengefährlichen Unsinn. Diese religiösen Meinungen, denen irgend jemand „huldigt”, weil er noch keinen durchschlagenden Grund hat, ihnen den Abschied zu geben, haben überhaupt keine Kraft. Sie formen den Menschen genau so wenig wie jenes unverbindliche Hören. Es geschieht überhaupt nichts; und wenn ein solcher Glaube „zerbricht”, so sollten wir darüber nicht allzu betrübt sein; Meinungen werden durch Erfahrungen widerlegt; und man darf nicht das Haus des Lebens auf einen so trügerischen Grund bauen wollen.

LeerIn diesem Sinn sagt der Jakobus-Brief sehr nüchtern, daß niemand durch den „Glauben” gerettet wird; auch die Teufel haben bestimmte religiöse Vorstellungen und Überzeugungen und bleiben doch, was sie sind. Es ist gut, daß diese harten Worte in der Bibel stehen; gut für alle die, die den tieferen. Sinn nicht zu fassen vermögen, in dem wir vom Glauben reden.


3. Vom „Zweifel”

LeerMan kann in einer sehr respektvollen Weise vom Zweifel sprechen. Ist nicht der echte Zweifel das genaue Gegenkeil einer eigensinnigen und rechthaberischen Art, die sich auf die einmal gewonnenen Überzeugungen versteift und sich den Fragen, die hier aufbrechen, geflissentlich verschließt? Strahlt nicht um den Zweifel etwas von der Würde unbestechlicher Ehrlichkeit, der die Wahrheit mehr gilt als die eigene Meinung, und die lieber die Ruhe des Herzens als den Gehorsam unter der erkannten Wahrheit opfert? Wer den Zweifel nicht kennt und nie erfahren hat, wie furchtbar er uns anfechten kann, kann der das kühne Wagnis des Glaubens ermessen? Gehören nicht die Stunden, da der Zweifel an der Seelenkraft nagt, zu dem schweren Weg aller derer, die es auf Gott gewagt haben? Darum sind wir dankbar dafür, daß die Bibel uns in den Psalmen und in den Geschichten des Alten wie des Neuen Testaments Einblick gibt in jene dunklen Stunden, da die Frommen und Heiligen, die Knechte und Boten Gottes gezweifelt haben; um so mehr Gewicht hat der Glaube, zu dem sich ihre Seele durchgerungen hat.

LeerAber wir sollten nicht die großen Nöte der großen Seelen mißbrauchen, um uns mit der Schwachheit unseres Herzens dahinter zu verstecken. Das Wort „Zweifel” deutet auf die „Zwiefalt” (im Gegensatz zu Einfalt), auf die Zwiespältigkeit unseres Herzens, das unfähig, vielleicht auch einfach zu feige ist, um sich wirklich zu entscheiden. Es gibt ein Verharren in der Halbheit, ein ewig schillerndes Ja-Nein, das nirgends die Kraft zu einem vollen Ja, und nirgends zu einem vollen Nein aufbringt; ein eitles Jonglieren mit Problemen, das geradezu Angst hat vor wirklichen Antworten; ein Gerede, das sich ewig im Kreis dreht, weil es sich gar nicht der Probe aussetzt, ob man auf dem eingeschlagenen Weg zum Ziele kommt. Diese Art von Zweifel hat mit dem Ernst der echten Frage und mit der Würde des angefochtenen Herzens nichts gemein, sondern sie ist bloß das Symptom einer seelischen Erkrankung, das Symptom einer dauernd mit sich selbst zerspaltenen Seele, das tödliche Gegenbild der Einfalt, der allein die Verheißung gegeben ist.

LeerDer Jakobus-Brief hält sich nicht auf mit dem großen und ehrwürdigen Zweifel, sondern er sagt sehr nüchtern von dem zwiespältigen Menschen, daß der Zweifler nichts von Gott empfängt und daß er der Nußschale gleicht, die ohne Halt und Tiefgang von den Wogen der wechselnden Gedankenströme hin- und hergeworfen wird. „Laß uns einfältig werden!”


4. Von der Versuchung

LeerWir beten im Vaterunser, Gott wolle uns nicht in Versuchung führen. Keine Erklärung kann die unheimliche Möglichkeit wegwischen, die hinter dieser Bitte sichtbar ist: Gott selber führt seine Auserwählten in Versuchung; er bringt sie in Gefahr, damit sie sich bewähren und im Widerstand gegen die verführerischen Mächte erstarken. Gott selber handelt wie ein Ritter, der seine Knappen in den ernsten Kampf sendet und ihre Niederlage riskiert, um sich ihres Siegs zu freuen. Niemand kann leichten Herzens von dieser bedrohlichen Möglichkeit reden; niemand selbstsicher sich freuen auf die plötzlich hereinbrechende Stunde, von der keiner weiß, ob er darin zuschanden wird oder als Sieger daraus hervorgehen darf. Aber die Stunde der Versuchung gehört ebenso notwendig zu dem geistlichen Pfad, wie die Stunde des Zweifels und der Anfechtung. Es ist ein Gebet der Nüchternheit und der Demut, wenn wir Gott bitten: Führe uns nicht in Versuchung; „und ob wir damit angefochten würden, daß wir doch endlich gewinnen und den Sieg behalten.”

LeerDer Jakobus-Brief weiß von der göttlichen Notwendigkeit der Versuchung: „Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet.” Aber er warnt, fast im gleichen Satz (1, 12 f und im griechischen Text mit dem gleichen Wort!), vor der bedenklichen Neigung, die „Versuchungen” unseres Lebens mit einem falschen Pathos zu umkleiden. Man kann in einer sehr viel nüchterneren Weise von den Versuchungen reden, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind; es sind nicht immer die großen Stunden der Erprobung und Bewährung, in die Gott selber uns führt, sondern es sind die Fallen, die uns unser eigenes Gelüste stellt, die Stricke, mit denen unser eigenes böses Herz uns fängt. Wir liebäugeln mit der Sünde und disputieren gern mit dem Teufel; damit reizen wir uns selbst, so wie der Lüsterne an dem unsauberen Bild zugleich sich entrüstet und seine Begierde erhitzt, und spielen mit der Gefahr. Wie könnten wir Gott bitten, uns vor solcher Versuchung zu bewahren, wenn wir selber solche Versuchung eher suchen als meiden?

LeerWenn der Verfasser des Jakobus-Briefes hier (1, 13 ff.) beschreibt, wie es eigentlich bei der Versuchung zugeht, so ist das gewiß nicht alles, vielleicht nicht einmal das Tiefste, was man über das Wesen der Versuchung sagen kann. Aber es ist allerdings eine sehr genaue Schilderung dessen, was sich in der Sphäre menschlichen Erlebens allemal abspielt, und es ist wohl notwendig, daß wir zunächst den Selbstbetrug durchschauen und meiden, mit dem uns unser eigenes Herz einen Streich spielt, ehe wir das Wort „Versuchung” in seinem gewichtigeren Sinn in den Mund nehmen und Gott bitten, uns nicht in Versuchung zu führen.

Ev. Jahresbriefe 1941, S. 66-70

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-17
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