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von Wilhelm Stählin |
Das Bild vom Schmelztiegel Gottes soll die Lage beschreiben, in der die christliche Kirche sich heute befindet. Mag diese Lage an der evangelischen Kirche im deutschen Volksraum besonders sichtbar werden, so ist es doch eine wahrhaft „ökumenische Lage” der ganzen Christenheit. Auch in den großen „katholischen” Kirchenkörpern des Abendlandes und des Morgenlandes greift die Erkenntnis um sich, daß ein Umschmelzungsprozeß von unabsehbaren Ausmaßen im Gange ist. Die in Jahrhunderten erstarrte und verfestigte Form des Christentums wird von Gott in den Schmelztiegel geworfen, um wieder feuerflüssig und dadurch zu neuer Prägung bereitet zu werden. Es ist tröstlich zu bedenken, daß es der Schmelztiegel G o t t e s ist; denn das heißt ja, daß wir es nicht mit innerweltlichen Gewalten, sondern mit Gott selbst zu tun haben und nicht nach den Absichten menschlicher Instanzen, sondern nach Absichten Gottes zu fragen haben. Es ist Gott selbst, der seine Kirche in den Schmelztiegel geworfen hat. Das Feuer, in dessen Hitze die feste Form zerschmilzt wie Wachs, ist freilich das Bild einer radikalen Wandlung, ja einer unerbittlichen Vernichtung. Nicht alles, was der Hitze dieses Schmelztiegels ausgesetzt wird, kann gewandelt werden; manches geht einfach zugrunde und sinkt zu einem Häuflein Asche zusammen; Stroh und Holz kann man nicht umschmelzen, und es muß sich erst zeigen, was feuerfestes Material ist und was nicht. Aber auch das „Feuerbeständige” bleibt nicht, wir es war. Auch Formen, die kostbar schienen und unserem Herzen teuer waren, werden im Schmelztiegel erbarmungslos zerstört. Und es ist jetzt noch nicht sichtbar, was daraus werden soll; nur in dem Plan des Meisters ist vorgezeichnet, welche neue Form er dem feuerflüssigen Stoff geben will. Hier streifen wir freilich an die Grenze des Bildes vom Schmelztiegel, und wir müssen darauf achten, daß wir daraus nicht etwas heraushören, was der Sache nicht entspricht. Wenn Gott seine Kirche umschmilzt, so ist das kein physikalischer Prozeß, der sich an uns und ohne unseren Willen abspielt; sondern wir haben selbst eine Aufgabe und Verantwortung für das, was aus uns wird, und wir sind nicht nur Gegenstand, sondern immer zugleich Träger und Vollstrecker des Schicksals, das Gott uns zugedacht hat. Wir sollten auch nicht so tun, als ob wir gar nicht wüßten, was in diesem Feuer verbrennen muß, gar nichts davon ahnten, welches Bild der himmlische Goldschmied dem wieder feuerflüssig gewordenen Stoff seiner Kirche einprägen wird. Was der Schmelztiegel Gottes für unsere evangelische Kirche bedeutet, wird an unserem Verhältnis zur Reformation deutlich. Etliche unter uns sind unter dem Eindruck des inneren Zerfalls unserer Kirche sehr bereit, das Erbe der Reformation als einen gefärlichen Ballast über Bord zu werfen und irgendwohin zu fliehen; aber solche Ausflucht und bequeme Heimkehr ist uns wirklich verwehrt, und niemals wird das neue Haus, dessen wir bedürfen, gebaut mit Vergeßlichkeit und Verrat. Wohl aber müssen wir heute klarer als je erkennen, daß der große Aufbruch, der in der Reformation geschah, zum Stehen gekommen, daß das eigentliche Anliegen der Reformation gescheitert und daß unser „Protestantismus” aus dem Scheitern der Reformation entstanden ist. Hier bleibt eine noch nicht erfüllte Aufgabe, ein noch nicht eingelöstes Versprechen. Das Viele, was hierzu zu sagen ist, läßt sich in fünf Gedankengruppen ordnen: Jedes Geschlecht schöpft wieder neu aus diesem unergründlichen Meer und empfängt nicht mehr, als was es in seine armen Gefäße fassen kann. Luther war der Meinung, in dem Wort von der rechtfertigenden Gnade, so wie er es verstand, den Schlüssel zum Ganzen der Heiligen Schrift entdeckt zu haben, Wir sehen heute, daß dabei weite und wichtige Gebiete der Heiligen Schrift an den Rand seines Sehfeldes gerieten; wir haben gelernt, nicht nur den schwierigen Römerbrief, sondern auch die Briefe an die Epheser und an die Hebräer und das Buch der geheimen Offenbarung mit großer Aufmerksamkeit zu lesen und haben dabei gemerkt; daß der Raum der Bibel größer und weiter ist als unsere überkommene Kirchenlehre. Daß alle Kreatur durch Christus und auf Christus hin geschaffen ist, daß Er der Herr ist aller Mächte, die in diesem Kosmos am Werk sind, und Mitte und Ziel aller Geschichte, - es mangelt uns oft die Freiheit und Kühnheit, diese Dinge so ernst zu nehmen, wie sie es verDbienen. An der Bibel müssen wir neu lernen, die Kleinheit, Engigkeit und Kümmerlichkeit unseres sogenannten Christentums zu überwinden. Wir treffen heute nicht selten Menschen, die völlig immun zu sein scheinen für jede religiöse Wahrheit, für jede ReDe von Gott; es ist gleichsam das Empfangsgerät, durch das wir die Stimme von drüben vernehmen können, in unzähligen Menschen zerstört. Vielleicht ist das aber gerade dadurch geschehen, daß mit diesen Menschen in einer falschen Weise geredet worden ist, so daß sie gar nicht auf den Einfall kommen konnten, Gott sei eine lebendige Wirklichfeit. Dieses wortreiche und zutiefst ungläubige Reden von den Geheimnissen Gottes wird von Gott in den Schmelztiegel geworfen, und es muß darin verbrennen; aus diesem Feuer der Verwandlung soll der „gläubige Realismus” der biblischen Sprache neu erstehen. So gewiß jeder einzelne Christ an dem priesterlichen Amt der ganzen Christenheit Anteil hat, so gewiß ist der Kirche ein Amt eingestiftet, das in besonderem Sinn dieses priesterliche Amt Christi auf sich nehmen soll. Dieses Amt ist nicht auf das Predigtamt beschränkt. Das Amt ist reich gegliedert, und es gibt eine echte Stufenfolge der Ämter, in die der dazu Berufene hineinwachsen soll. Das alles ist viel reicher und lebendiger als unsere sogenannten Gemeinden, in denen der einzelne und einsame Pfarrer einer ungegliederten Masse seiner Predigthörer gegenübersteht. Wundern wir uns, wenn Gott die erstarrte Form unseres Amtes in den Schmelztiegel wirft, um sie umzuschmelzen zu einer echten und lebendigen Gestalt des priesterlichen Kirchenvolks? Kein „allgemeines Priestertum” ohne die Ausgliederung des Amtes! Die Kirche, die heute und morgen Gestalt gewinnen will, wird nicht auf den armen und einsamen Pfarrer gestellt sein, sondern auf eine Schar von Männern und Frauen, die bereit sind, mitverantwortlich in dem Amt des Gottesdienstes, der kirchlichen Unterweisung und der brüderlichen Zucht zu stehen. 1. Unser Christentum muß radikaler sein! Radikal kommt von radix = die Wurzel. „Gott haut den Baum der Kirche ab bis auf den Stumpf, damit aus den Wurzelkräften neues Leben treibt”, so las ich von kurzem in einem Brief. Radikales Christentum, das ist ein Christentum, das nicht nur in Bewußtsein und Denken, in Gefühlen und Wollen besteht, sondern das aus den tiefen und echten Wurzelkräften, die Gott in die Geschichte eingesenkt hat, gespeist wird. 2. Unser Christentum muß weiter sein! Wir bedürfen sehr des Gebetes, daß wir erkennen möchten mit allen Heiligen, welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe ... Unser Glaube geht zugrunde in dem freiwilligen Ghetto einer nach allen Seiten abgeschlossenen religiösen Provinz; und die Sehnsucht, die verlorene Ganzheit des Lebens wiederzugewinnen, bleibt unerfüllt, wenn dieses Ganze des Lebens und der Welt nicht eine lebendige Mitte hat, auf die alles bezogen ist. Die Dome, die unsere Väter gebaut haben, waren ein Stein gewordenes Sinnbild dieses alle Welt umspannenden Christusglaubens, richtiger: Sinnbilder dieses von Christus her geordneten Kosmos. Wenn ich die Mauern der Häuser sehe, die bei Fliegerangriffen geborsten sind, dann überfällt mich die Gleichnishaftigkeit dieses Anblickes: der Gedankenraum, in dem wir bisher gewohnt haben, birst, und seine Wände zerbrechen; und wir erschrecken. Wir müssen lernen, die Enge zu verlassen, in der wir geborgen zu sein meinten, und es wagen, in dem großen und weiten Christusraum zu atmen, in der er der Herr ist aller Kreaturen, und Sterne und Steine, Berge und Blumen und alle Geschichte einbezogen sind in seine Herrschaft. Wir müssen weiter werden! 3. Unser Christentum muß herber sein! Ich weiß keinen besseren Ausdruck: Vielleicht könnte man auch sagen: strenger, sachlicher. In den Feuern dieser Zeit zerschmilzt ein weiches, gefühlsmäßiges Christentum. Die Menschen, die durch die Hölle dieses Krieges gegangen sind, werden immun werden gegen alle fromme Sentimentalität. Die biblische Wahrheit, so gewiß sie Evangelium, frohe Botschaft ist, hat etwas von dem klaren Licht der Sonne, von der Härte des Kristalls, von der Unerbittlichkeit eines Gestirns. Die Engel Gottes, die streng und gewaltig, herb und schrecklich sind, treten an unseren Weg. Wir dürfen einstimmen in ihren Lobgesang, aber eben darum müssen wir lernen, strenger, herber, sachlicher zu sein. 5. Und endlich: Unser Christentum muß kühner sein! Wir sind bürgerlich behaglich geworden und fragen allzuviel nach Ruhe und Sicherheit. Unsere Kirche hat uns mehr dazu erzogen, brav zu sein als kühn. Wir müssen den Mut haben, neue Dinge zu tun, die noch nicht erprobt sind, und voranzugehen in ein Land, das uns noch nicht auf ebenen Bahnen erschlossen ist. Wo ist unter uns Raum für den heroischen Einsatz? Und die größte Kühnheit kann zugleich ganz gelassen und sehr geduldig sein. Der Michael auf dem Altarbild der Sakristei in Hall schwingt sein Schwert über dem Drachen, aber er selber lächelt in gelassener, ja heiterer Ruhe: Denn er ruht im Anschauen des Herrn, der Zeit und Macht hat ohne Grenze. Wir sind nicht nur totes Material. Wir sind Gottes Kinder, die er gerufen hat. Wir werden nicht nur umgeschmolzen, sondern wir sollen Buße tun. Laßt uns radikaler, weiter, herber, mütterlicher, kühner sein als wir gewesen sind. Vieles, was wir beginnen in guter Absicht, wird von Gott wieder in den Schmelztiegel geworfen. Gott allein weiß, was er vorhat mit seiner armen heiligen Kirche. Aber wir sollen an unserem Teil mithelfen, daß, wenn irgendwann ein neues Geschlecht nach Christus und seiner Kirche fragt, dann das wahre und echte weltweite Anliegen der Reformation besser verwirklicht ist als in der Christenheit, die heute in den Schmelztiegel Gottes geworfen ist. ---------- Anm.: Nach einem in Stuttgart gehaltenen Vortrag. Das Thema war mir von dort gestellt worden und ich nahm es an, trotz der Bedenken, die ich in der Einleitung dagegen aussprechen mußte. Evangelische Jahresbriefe 1942, S. 56-61 |
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