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Von Leid und Trost
von Wilhelm Stählin

LeerKann es eine dringlichere Frage für uns geben als die Frage nach dem Sinn des Leidens, die Frage nach dem starken und wahren Trost? Wir sind nicht in der Gefahr, solche Fragen als ein weltanschauliches Zuschauerproblem zu behandeln, so wie wohl etliche Philosophen im ungestörten Genuß des Lebens die Misere des Daseins beklagt und das interessante Problem der Theodizee erörtert haben. Sind wir nicht wirklich dieser peinlichen und lächerlichen Rolle enthoben? Wir sind eingefügt in eine große Schicksalsgemeinschaft der leidenden Menschheit; täglich sollen wir trösten und bedürfen selber des Trostes. Also dürfen wir es wohl wagen, miteinander und zueinander zu sprechen von Leid und Trost.

LeerDrei unerläßliche Voraussetzungen müssen erfüllt fein, wenn ein Wort des Trostes glaubwürdig sein soll. Wer selber keines Trostes bedarf, kann nicht trösten. Es ist kaum möglich, über das dunkle Rätsel des Leidens etwas auszudenken, das nicht schon die Freunde Hiobs in ihren langen Reden gesagt haben; aber der leidenschaftliche Widerspruch des leidenden Hiob und der Zorn Gottes stehen wider das fromme Geschwätz, in dem der Gesunde und Glückliche sich anmaßt, dem Leidenden sein unbegreifliches Schicksal zu deuten. Nur wer mit uns in der Welt der Schmerzen und des Todes steht und darum mit-leidet mit unserer Schwachheit, hat Vollmacht, zu trösten. Aber es ist nicht wahr, was das lateinische Sprüchlein uns versichern wollte, es sei dem Unglücklichen ein Trost, Gefährten seines Leidens zu haben. Keine Träne versiegt und keine Klage verstummt, weil die Klage in vielstimmigem Chor aufgenommen wird und widerhallt. Es ist ein schlechter Trost, zu wissen, daß es viele andere gibt, die in ihrem Jammer auch ohne Trost sind. Wenn die schönen Trostgründe bei uns selbst nicht verfangen und uns selbst nicht herausreißen aus der dunklen „Schwermutshöhle”, so bleibt alles unglaubwürdig, was wir etwa über den Sinn des Leidens sagen. Und wer selbst den Trost, der ihm geboten wird, nicht annimmt, nicht annehmen will, kann erst recht nicht trösten. Es hat seinen tiefen Grund, daß der Herr den Gelähmten fragt: „Willst du gesund werden?” (Joh. 5, 6). Denn es sind nicht wenige, die verliebt sind in ihr Leiden, versunken in ihre Traurigkeit, verbissen in ihren Trotz; sie gefallen sich selbst in ihrem „tragischen” Los und versäumen die Aufgabe, die es ihnen stellt. Sie können nicht trösten; denn wir können anderen Menschen immer nur helfen mit dem, was an uns selbst geschieht.

LeerEs gibt drei Wege des Trostes, auf denen sich Rechtes und Falsches, Wahrheit und Wahn fast unentwirrbar vermengen.

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Leer1. Es ist einer der großen Wunschträume der Menschheit, es könnte einer ungeheuren Kraftanstrengung gelingen, die Quellen des Leidens zu verstopfen, das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl zu sichern und die leidvolle Erde also in ein Paradies ungestörter Harmonie zu verwandeln. In diesem gigantischen Versuch spricht sich der tiefe Glaube aus, daß der Mensch nicht zum Leiden, sondern zur Freude geschaffen ist: „Weh spricht: Vergeh! Doch alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.” Und es wirkt darin die richtige Einsicht, daß es uns nicht erlaubt ist, vor der Macht des Leidens in einer fatalistischen Ergebung die Waffen zu strecken, sondern daß es uns vielmehr auferlegt und aufgegeben ist, mit allen und zur Verfügung stehenden Mitteln, mit allen Waffen des Herzens und des Geistes, der Technik und der Organisation gegen das vielgestaltige Leiden zu kämpfen. Oder sagen wir es nüchterner und bescheidener: Nie kann uns die Reflexion über den Sinn des Leidens oder der wohlgemeinte Trost entbinden von der primären Pflicht zu helfen. Christus hat in seinen Erdentagen nicht „getröstet”, sondern geholfen und geheilt; und neben den Taten der Liebe, nach denen im letzten Gericht gefragt wird (Matth. 25, 31 ff.) ist die bloße tröstliche Rede nicht genannt. Aber unserer tätigen Hilfsbereitschaft sind enge Grenzen gezogen. Wie ohnmächtig stehen wir vor allem wirklichen und großen Herzeleid!

LeerUnd welche Illusion, zu meinen, wir könnten sozusagen das Leiden abschaffen! Haben wir eine Quelle des Schmerzes verstopft, eine Einbruchstelle verschlossen, so bricht die Urmacht des Leidens an anderer Stelle mit unverminderter Gewalt hervor. Und wie oft führt der nie endende Abwehrkampf gegen die Leiden der gequälten Menschheit selbst neue Qualen herauf! - Oder sollten wir wenigstens die sichtbaren Gestalten des Leidens uns möglichst aus den Augen räumen, den Schmerz, da wir ihn nicht vertilgen können, möglichst an den Rand des Lebens drängen und auch jene Erinnerungen soweit es sein kann, auslöschen, die uns in Genuß und Freude stören? Ganze Geschlechter der abendländischen Menschheit haben nach diesem Rezept gehandelt. Sie haben -- wahrhaftig nicht nur aus wirtschaftlichen oder hygienischen Gründen - die Friedhöfe weit aus den Wohnungen der Lebenden hinaus verlegt und also das Trugbild eines „Lebens ohne Tod” hervorgezaubert; sie haben die grauenerregenden Bilder physischer und geistiger Zerstörung kaserniert und damit eine Fassade der Lebensfreude errichtet. Diese Fassade stürzt heute zusammen; es ist nichts mehr zu verbergen; das Grauen blickt uns an. Wenn wir je geneigt waren, mit den Vätern zu hadern oder ihrer zu spotten, die die Erde ein Jammertal genannt haben, dieser Spott ist uns vergangen. Kein guter Wille, keine gewaltsame Anstrengung, keine Hülle und keine Hilfe verwandelt die Erde in ein Paradies.

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Leer2. Ist es nicht unsere Aufgabe, die Aufgabe dieses heutigen Geschlechts, nüchtern das Leiden und Sterben ins Leben hineinzunehmen und das Leben zu härten, daß es dies harte Leben besteht? Beides ist notwendig, und wer trösten will, kann auch dies beides nicht unterlassen. Das leidende Gemüt verliert leicht das rechte Maß und gibt sich ganz der Trauer hin. Mancher ist wehleidig und man muß ihn ernstlich mahnen, sich „zusammenzunehmen” und seinen Schmerz sachlicher, gefaßter, würdiger zu ertragen. So kann und so muß sehr oft das Kind getröstet werden, und wer als Kind von einer schwachen Mutter immer bemitleidet wurde, entbehrt wohl später erst recht die notwendige Härte. So heilsam es ist, sich daran zu erinnern, so gefährlich wäre es, wollten wir allem Leiden mit diesem einfachen Rezept begegnen. Der Schmerz und die Trauer haben ihr Recht; die Zeiten, in denen uns zu leiden verordnet ist, lassen sich nicht übergehen, und so wenig es bei jeder Wunde richtig wäre, das Blut rasch zu stillen, so wenig dürfen die Tränen zurückgehalten werden, in denen ein tiefes Herzweh strömt. Goethe schreibt nach dem Tod seines Kindes an Schiller: „Man weiß in solchen Fällen nicht, ob man besser tut, sich dem Schmerz natürlich zu überlassen oder sich durch die Beihülfen, die uns die Kultur anbietet, zusammenzunehmen. Entschließt man sich zu dem letzteren, wie ich es immer tue, so ist man dadurch nur für einen Augenblick gebessert, und ich habe bemerkt, daß die Natur durch andere Krisen immer wieder ihr Recht behauptet.” Darum ist es zumeist ein unrechter Trost, wenn man versucht, den vom Leiden Gebeugten abzulenken, wenn man ihm empfiehlt, sich zu zerstreuen; denn das zerstreute Herz entzieht sich dem Angriff des Leidens und jener Wandlung, die in dieser „Krisis” an ihm geschehen soll. Die „Zeit” heilt nicht, sondern sie macht nur vergeßlich.

LeerNoch bedenklicher freilich ist der Rat, man solle die „Zone der Empfindlichkeit” aus dem Herzen tilgen, man müsse hart und stumpf werden, um Schmerz und Leid nicht mehr zu empfinden. Denn hier wird zugleich mit der Fähigkeit zu leiden die tiefere Seelenkraft überhaupt zerstört. Wenn das arme Herz durch einen Panzer der Gefühllosigkeit gegen die schmerzhaften Anfälle des Leides geschützt werden soll, so wird es damit zugleich steril für die Samenkörner höherer Entfaltung, die gerade durch die Schmerzen des Lebens in das Ackerland unserer Seele versenkt werden. Das verhärtete, ebenso wie das zerstörte Gemüt will sich der fruchtbaren Spannung entziehen, die in der letzten Tiefe unser Menschenlos durchzieht, der Spannung zwischen der leidvollen Wirklichkeit und der göttlichen Bestimmung unseres Lebens; die Anfechtung, die aus diesem leidvollen Zwiespalt erwächst, wird nicht überwunden, sondern verleugnet. Vielmehr muß gerade dies unser heißes Gebet für uns selbst und alle leidenden Menschen sein, daß wir im Übermaß des Weltleides nicht stumpf, in der notwendigen Härte nicht verhärtet werden, daß wir nicht, um uns Leiden zu ersparen, aufhören, lebendige Menschen mit einem Herzen zu sein, das auch, indem es blutet, sich als lebendig erweist.

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Leer3. Dem nie ausgeträumten Wunschtraum von der Abschaffung des Leidens steht die ebenso unaustilgbare Frage nach dem Ursprung und der Ursache des Leidens zur Seite. Wir hören nicht auf zu fragen: „Warum?” Aber wird das Leiden nicht eben dadurch so bohrend und qualvoll, daß wir auf diese Frage keine Antwort empfangen, daß das dunkle Rätsel ungelöst bleibt? Wäre es nicht auch ein Trost, ein wirklicher Trost, wenn wir wüßten warum? Aus den verschiedensten Räumen der Welt klingt uns als die letzte und tiefste Deutung entgegen, das Leiden hänge in der Wurzel zusammen mit der Schuld; Leiden sei Strafe. Wir wissen, wie gefährlich diese Antwort ist. Es ist ein grausamer Wahn, das Glück des Menschen sei das sichere Zeichen des göttlichen Wohlgefallens, sein Unglück eine sichtbare Folge einer vielleicht unsichtbaren Schuld. An der Erkenntnis, daß es im wirklichen Leben diese Art von Gerechtigkeit nicht gibt, drohte zu allen Zeiten ein naiver Glaube an die „göttliche Weltordnung” zu zerbrechen; der 73. Psalm ist aus einem erschütternden Ringen mit dieser Ungerechtigkeit heraus gebetet.  D i e s e r  Glaube ist an dem Kreuz Christi endgültig zerbrochen oder sollte an ihm zerbrochen sein. Dennoch wird gerade an dem Kreuz Christi der unaufhebbare Zusammenhang von Leid und Schuld in seiner wahren Tiefe sichtbar: In dem „Haupt voll Blut und Wunden” schauen wir nicht nur die Jammergestalt der leidenden Menschheit, sondern zugleich die Schuld der ganzen Menschheit: Agnus Dei, qui tollis peccata mundi. Wir sind alle in Schicksal und Schuld miteinander verflochten; wir haben zu leiden unter der Verkehrtheit, Sünde und Schuld anderer Menschen, vielleicht längst vergangener Geschlechter, und wir verursachen unausgesetzt neue Leiden.

LeerFranz Marc schreibt in seinen Briefen aus dem letzten Krieg das sehr nachdenkliche Wort, „daß man den Fluch urältester Gewissensverfehlung heute über sich ergehen lassen muß und daß man in diesem Kriege persönlich und als Volk ‚sühnt’ . Wir sind wirklich alle schuld an diesem Krieg; das ist auch der eigentliche Grund, warum es uns so auf die Nerven geht, wenn wir jemand sehen, der so tut, als ginge ihn der Krieg gar nichts an, ... weil er sich einer Sühne entzieht.” Aber ist es wirklich ein Trost, wenn wir das unermeßliche Weltleid als Strafe und Sühne einer unermeßlichen Weltschuld begreifen? So tief diese Erkenntnis dringt,, bleibt sie nicht doch noch vor einem letzten Tor der Geheimnisse stehen? Was heißt hier „Sühne”? Christus hat, so oft er gefragt wurde, diesen Zusammenhang gewiß nicht geleugnet, aber doch seinen Jüngern diese ganze Frage nach dem „Warum?” verwehrt und sie dringlich ermahnte, statt dessen nach dem „Wozu?” zu fragen, nach der heiligen Absicht Gottes, die er durch dieses Leiden hindurch verwirklichen will. Damit erst ist die eigentliche Frage nach dem Sinn des Leidens, nach dem starken und wahren Trost gestellt.

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LeerEs gibt vier Wege des Trostes, und auf eine jeden ist wirkliche Hilfe zu gewinnen, wenn schon die Wege nicht gleich weit führen.

Leer1. Wenn wir uns  a m  M o r g e n  von der Ruhe oder auch von den Ängsten der Nacht zum Werk des wachen Tages wenden, so kann es uns geschehen, daß die lähmende Traurigkeit, die uns im Dunkel gefangenhielt, und die Gespenster, die uns im Finstern erschreckten, verscheucht werden von den Aufgaben, die auf uns warten, von dem Dienst, der alle unsere Kräfte verlangt. Welche Gnade, wenn wir Aufgaben haben, wenn irgend ein Mensch auf unseren Dienst wartet! Es ist eine oft bestätigter Erfahrung, daß der Anblick menschlicher Not und Schmerzen von denen leichter ertragen wird, die diesem Anblick tätig begegnen, als von denen, die ihm wehrlos und ohne das Geringste tun zu können, preisgegeben sind; nur darum können Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger in den Häusern der Siechen und Blöden überhaupt aushalten, was sie täglich vor Augen haben. Diese Erfahrung sollte sich der leidende Mensch zu nutze machen und ernstlich sich besinnen: welche Aufgaben, welche Menschen warten auf mich und brauchen meinen Dienst? Natürlich kann es sein, daß der Mensch aus seinem Schmerz in die gesteigerte Arbeit flüchtet und sich darin betäubt. Aber das muß nicht so sein. Niemand verlangt, daß wir vergessen oder verleugnen, was unser Herz durchzittert; es gibt viel Arbeit, es gibt noch mehr menschlichen Dienst, in den unser Leid eingehen kann, wortlos vielleicht, aber doch als die tiefste Kraft der Hingabe und Güte. - Wen wir wahrhaft trösten wollen, dem müssen wir eine Aufgabe zeigen, eine Aufgabe, die jetzt, gerade jetzt ihm gestellt ist. Ich entsinne mich eines Menschen in dessen sehr schweres Leben es die entscheidende Wendung brachte, als er bewußt die Aufgabe ergriff, mit seiner Lebensnot und der Art, wie er sie trug, den von Generationen her auf seinem Elternhaus lastenden Fluch zu sühnen und in Segen zu wandeln. Wer aus der Tiefe des Leidens heraus die Aufgabe ergreift, die ihm vor die Füße gelegt ist, gleicht dem Menschen, der aus der Finsternis der Nacht sich erhebt und in den Morgen eines neuen Tages schreitet.

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Leer2. Wer auf der Höhe des Tages, im  M i t t a g , um sich schaut, der sieht die Welt um sich her im hellen Licht, erkennt die Dinge und die Menschen im rechten Maß. Diese mittägliche Helle bezeichnet genau den Ort, an den der Leidende geführt werden muß, an den zu treten er selbst bereit sein muß. Was sieht er, was soll er sehen? Er sieht zunächst die Weite um sich her, die Kraft und Fülle des Lebens, das unaufhaltsam und unerbittlich weitergeht; es steht nicht still, wenn ein Herz aufgehört hat zu schlagen und ein anderes Herz vor Leid stillzustehen droht. Diese Unerbittlichkeit des größeren Lebensraumes tut zunächst weh, weil sie das Leiden des Einzelnen so gar nicht achtet; auf die Dauer erweist sich gerade die Selbstverständlichkeit, mit der das Leben weitergeht, als eine große Hilfe. In dieser mittäglichen Weite ist auch all das Große, Erfreuliche und Beglückende geborgen, das uns, den Leidenden, selbst gehört und erhalten geblieben ist. Erst allmählich vermag das von Tränen umflorte Auge den Reichtum des Lebens wieder zu erkennen. Fast gewaltsam muß das Herz sich aufrufen und mahnen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was Er dir Gutes getan hat!” Überhaupt enthält der 103. Psalm etwas von der leisen Müdigkeit, aber auch von der festlichen Fülle der Mittagstunde. Die Dankbarkeit ist ein großer Trost. Für manches, das wir sonst achtlos besessen haben, werden wir erst hellsichtig, wenn wir ärmer und bescheidener geworden und mehr darauf angewiesen sind, das Alltägliche, auch das Geringe und Selbstverständliche, mit einem liebenden und dankenden Blick zu umfassen. Wieviel echter Grund zu danken bleibt auch in den schwersten Schickungen des Lebens! Wer trösten will, muß danken lernen.

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Leer3. Am  A b e n d  mischen sich Dank und Wehmut in dem Empfinden, wie des Tages Last und Lust zu Ende geht, und gerne greift Hoffen und Ahnen hinüber über die dunkle Grenze und wirft schon den Anker ans andere Ufer. Schmerzhaft und mild zugleich löst der Abend aus der Verstrickung des Tages und macht still in dem Vorgefühl eines Zukünftigen. Das tief empfundene Leid gleicht einer stillen abendlichen Kammer, in der das Herz schmerzhaft und mild seiner Loslösung von den Dingen, Gütern und Freuden des vergänglichen Lebens erfährt. Denn irgendwann und irgendwie müssen wir lernen, uns zu lösen von all dem, was wir verlieren können und einmal verlieren werden und uns zu richten auf das, das allein bleibt und uns über den Tod hinaus begleitet. Wie soll das geschehen ohne Leid? Das Vertrauen auf Gott ist das Vertrauen auf den, der „diesem allem” ein Ende machen und uns endlich - wirklich am Ende! - mit Ehren annehmen wird. Es ist die Erwartung eines unverlierbaren Reiches jenseits dieses „Jammertales”, eines Reiches, da „Fried und Freude lacht” und alle Tränen aus allen Augen abgewischt sein werden und kein Leid noch Geschrei mehr sein wird. Dieses beides gehört zusammen: Wenn wir uns nur lösen von der leidvollen Gestalt dieser Welt, ohne uns vertrauend und hoffend einer kommenden Welt Gottes zuzuwenden (sozusagen fasten ohne zu beten), so kann daraus nur jene schmerzliche Resignation kommen, die mit dem Leiden auch das Leben selbst hinter sich lassen möchte, und wenn sie über den Abend hinaussieht, doch nichts sieht als eine ewige Nacht. „Gib dich zufrieden und sei stille - in dem Gotte deines  L e b e n s !”Karl Friedrich Harttmann hat in seinem Leidenslied diese Kraft des Leides besungen:
Leiden sammelt unsre Sinne,
daß die Seele nicht zerrinne
in den Bildern dieser Welt;
ist wie eine Engelwache,
die im innersten Gemache
des Gemütes Ordnung hält.
LeerDie Erfahrung dieser innersten Freiheit, dies erwachende Heimweh, dieser abendliche Friede, diese Ordnung, die einen neuen Pol gewonnen hat, ist ein starker Trost.

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Leer4. Aber es ist nicht der letzte und höchste Trost. „Da alles still war und ruhte und eben recht Mitternacht war, fuhr Dein allmächtiges Wort herab vom Himmel aus königlichem Thron”. Indem die Kirche dieses geheimnisvolle Wort aus dem Buch der Weisheit (18, 14.15) der mitternächtlichen Feier der Weihnacht zugeordnet hat, bekennt sie sich dazu, daß aus dem Dunkel der Nacht das Licht der göttlichen Offenbarung aufleuchtet. Unsere Sprache unterscheidet Dunkel und Finsternis. Die Finsternis ist des Lichtes Widerspiel und Feind; das Dunkel aber ist der nächtliche Schoß, aus dem das Licht geboren wird. Dem natürlichen Empfinden ist das Leiden nichts als Finsternis, in der das Licht der Freude ausgelöscht und verschlungen ist; dem Glauben will die Stunde der Schmerzen zu dem nächtlichen Dunkel werden, das in sich noch verborgen das Licht und den Segen eines neuen Lebenstages trägt. „Mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen?” Hier schaut das Vertrauen nicht nur über das gegenwärtige Leiden hinaus auf die künftige Freude; sondern es erhebt sich zu der kühnen Gewißheit, daß in dem, das weh tut, Gott selber gegenwärtig und am Werke ist. Dieser Glaube erhebt sich weit über ein tragisches Lebensgefühl; er bedarf nicht mehr des heroischen „Dennoch”; sondern er faßt den Mut, dem Leiden still zu halten, ja sich selbst diesem Dunkel einzusenken, wie man den Samen streut in den dunklen Schoß der mütterlichen Erde. „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.” Nicht jede Leidenszeit ist fruchtbares Dunkel, und nicht alle Tränen sind keimkräftige Saat. Es ist nicht selbstverständlich, daß aus dem Leiden eine lebendige Frucht erwächst. Wie nahe liegt es, daß der Mensch im Feuer des Leidens nur hart wird, vielleicht böse, und nach Rache schreit. Aber es gibt eine Tragkraft, eine Kraft der Güte und der Barmherzigkeit, die nur im Leiden geboren wird. Das Letzte und Höchste, zu dem das Menschenwesen reifen kann, geschieht an ihm durch die göttliche Wandlungskraft, deren heiliges Werkzeug das Leiden ist. Darum ist es wohl wahr, daß Gott allein trösten kann. Denn das Werk der Wandlung ist Sein Werk, dem wir nur still-halten können. Und wenn wir einen leidenden Menschen trösten wollen mit einem starken und wahren Trost, dann müssen wir in ihm das Vertrauen wecken und stärken, daß die nächtliche Stunde, die er durchleidet, nicht Finsternis sondern Dunkel wie der fruchttragende Schoß der Erde, wie der fruchtbare Schoß der Mutter. Dies ist der wahre „Trost der Nacht”, von dem die Dichter singen.

LeerWieviele Menschen um uns her bedürfen des Trostes! Vielleicht aber können wir selten mit Worten trösten; wichtiger ist, daß wir ein Trost sind. Es gibt Menschen, die sind ein Trost für die, denen sie nahe sind. Sie sind ein Trost, sie alle, an denen die Wandlungskraft des göttlichen Geistes sichtbar geworden ist. Darum sind die heiligen Männer und Frauen, die Väter und Mütter der Kirche, die Märtyrer und ungezählte Getreue ohne Namen ein Trost; nicht weil sie kluge oder fromme Dinge zu sagen wußten über den Sinn des Leidens und den Weg des Tröstens, sondern weil sie selber im Dunkel der Welt das Licht empfangen haben und gewandelt und verklärt worden sind im Morgenglanz der Ewigkeit. Weil  s i e  in ihrer Trübsal getröstet worden sind mit einem starken und wahren Trost, darum können  w i r  „bei Trost” sein und bleiben behütet vor „Mißtrauen, Verzweiflung und anderen großen Schanden und Lastern”.

LeerNach Gottes Ratschluß ist die Heimkehr mehr als das Zuhausesein, die Genesung mehr als die Gesundheit, die Heilung mehr als die Kraft, die Vergebung mehr als die Tugend und Auferstehung mehr als Unsterblichkeit. Darum wiegt der Trost schwerer als die ungebrochene Lebensfreude, und die höchste und bleibendste Freude ist verwandelte Traurigkeit. Darum ist der Lobgesang der „emporgepeinigten Seelen” schöner als der Lobgesang der immer seligen Geister; und nichts Größeres kann zum Preise Christi gesagt werden als der Gruß:

„Gott zum Gruß und unsern Herrn Jesum Christum  z u m  T r o s t !”


Evangelische Jahresbriefe 1942, S. 73-79

[Diese Betrachtung erschien zu Weihnachten 1942 und war das einzige Heft des Jahrgangs 1942/43]

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-14
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