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Wir und die Pflanze!
von Horst Schumann

LeerDer Naturforscher und -Deuter R. H. Francé wendet sich in seinem schönen Buche „Vom deutschen Walde” mit sehr einleuchtenden Gründen gegen das Pflücken von Blumen als gegen einen sinnlosen Mord, der an lebendigen, unschuldigen und wehrlosen Geschöpfen geschehe. Er weist dabei besonders auf die seltsam rührende Tatsache hin, daß manche abgepflückten Blumen einen verzweifelten, aber vergeblichen Versuch machen, durch Selbstbefruchtung noch zur Samenbildung zu gelangen. So rät Francé, es dabei bewenden zu lassen, daß wir die Blumen an ihrem natürlichen Ort draußen oder im Garten anschauen und uns da ihrer freuen.

LeerUnd doch - entspricht diese Betrachtung nicht einer falschen Romantik? Können wir uns im Ernst unser Leben ohne Schnittblumen denken? Ohne den Strauß auf dem Tisch, ohne die Blumen in der Hand der Braut, ohne den blütenduftenden Kranz auf dem Grab oder ein paar rasch von den Kameraden gepflückten Blumen in der Hand des toten Soldaten? Wir müssen vielleicht sehr viel gewissenhafter prüfen, ob wir die Blumen auf der Waldwiese nicht lieber stehen lassen sollen - aber ist nicht für viele Blumen der Strauß oder der Kranz die Erfüllung ihres Sinnes? Kann nicht die geschnittene Blume gar ein echtes Bild des -Opfers sein, ein Bild der reinen Hingabe, die sich für ein Schönes oder Großes verströmt? Genau wie die Kerze, die uns an Festen brennt, oder die Beeren der Trauben, aus denen uns die kostbare Gabe des Weines bereitet wurde. Die Blume auf dem Altar oder unter dem Bilde eines lieben Toten ist geopfertes Leben.

LeerWenn die Blume uns ernsthaft zum Bilde des Opfers werden kann - des größten Tuns und Erleidens, dessen der Mensch fähig ist - so muß sie uns innerlich doch wohl sehr nahe sein. In der Tat bedenken wir wohl viel zu wenig, in welch hohem Maße die Pflanze in ihrem Dasein Urbild und Vorbild für den Menschen ist, in einer solchen Reinheit und Größe allerdings, daß wir daneben sehr klein erscheinen und geradezu aufschauen möchten zu ihr, wie zu einem Ideal, das man nicht erreichen kann, und zu dem wir doch emporsteigen müssen.

LeerWenn wir von der Größe und Reinheit der Pflanze reden, so müssen wir nüchtern und deutlich sagen, was es denn eigentlich ist, das in ihr in solcher Vollkommenheit geschieht. Es ist das Wunder der Wandlung im Leben der Pflanze, das wir betrachten müssen. Die Lebensvorgänge im Pflanzenleibe sind in der Tat ein großes Wunder. Der Träger dieses Wunders ist das Blattgrün (Chlorophyll). Von allen Organismen der Erde ist das Blattgrün allein imstande, die einfachen Rohmaterialien von Luft und Wasser in die zusammengesetzten Nährstoffe zu verwandeln, von denen alle anderen Wesen leben.

LeerDas Blattgrün hat die wunderbare Fähigkeit, das Licht der Sonne aufzunehmen und in Energie zu verwandeln, und unter der Wirkung dieser Energie schafft es aus dem Sauerstoff, Kohlenstoff und Wasserstoff - Zucker und Stärke, aus Anorganischem Organisches, aus Totem Lebendiges, von dem alles übrige Pflanzenleben und das gesamte Tierleben zehrt. Ohne das Wunder dieser Wandlung würde alles andere Leben auf Erden nicht da sein. Das Licht ist die Macht, die die Wandlung vollzieht, und das Blattgrün ist der geheimnisvolle Ort der Wandlung.

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LeerEs lohnt sich, weiter darüber nachzudenken, daß dieser Vorgang in der Tiefe und dem Dunkel der Erde beginnt, wo die Pflanze durch die Wurzel dem Erdhaften verbunden ist und Wasser und Mineralien ansaugt, sie zum Lichte emporzuziehen. Und in der Blüte vollendet sich das Geschehen, wenn die Pflanze sich nun in Honig und Duft und Farbe in den Raum verströmt und dem Lichte der Sonne von unten her in ihrer Art antwortend entgegen leuchtet.

LeerDieses Verströmen in den Raum hinein erfolgt in verschiedener Stärke. Bei den Zwiebel- und vielen Knollengewächsen haben selbst die Blätter teil an dem Ausstrahlen in dem Raum. Man denke an die längsgestreiften, schwertartig emporragenden Blätter der Schwertlilie und Tulpe, von Narzisse und Krokus, Hyazinthe und Schneeglöckchen. Die Blätter all dieser Pflanzen recken sich, teilweise sogar ganz steil, in die Luft hinauf, als wollten alle Kräfte der Erde in ihnen empor zur Sonne drängen.

LeerDie Blüten aber dieser Blumen sind ohne Ausnahme deutlich nach dem Sechsstern geformt. Oft stehen die Blütenblätter in einem ganz regelmäßigen Sechseck, wie bei der Lilie, öfter aber kann man spüren, wie sie in zwei ineinander liegenden Dreiecken angeordnet sind - so ganz besonders deutlich beim Schneeglöckchen. Die Seiten aber des Sechssterns schneiden sich im Unendlichen. Auch das weist hinaus in die Weite des Alls. Die Zwiebelgewächse stellen wohl das Höchste dar, was an Emporweisung und Verströmen in den Raum in der Pflanzenwelt statthat.

LeerErdnäher und menschennäher sind die zweikeimblättrigen Pflanzen (Dikotyledonen), wie Rose und Immergrün, Anemone, Schlüsselblume, Hahnenfuß und Storchschnabel, Sumpfdotterblume und Fingerkraut, Karthäusernelken und wilde Malve, Apfel und überhaupt die Laubbäume. Sie alle haben Blätter mit verzweigten Blattnerven; ein sehr geschlossener Organismus ist das, der menschlichen Hand oft seltsam ähnlich, und ihre Blüten sind meist nach dem Fünfstern* gebaut, dem Pentagramm, dessen Linien in sich selbst zurücklaufen. Man beobachte nur einmal, wie unendlich oft die Fünfzahl dem Blätterbau unserer Blumen zugrunde liegt, bis hin zu dem kleinen Blütchen des Holunders und der unscheinbaren Kostbarkeit der Lindenblüte.

LeerGanz anders sind diese Pflanzen als die ersten. Die Linien des Pentagramms gehen nicht ins Unendliche, und ein geschlossener Organismus ist ihr Blatt. Mehr in sich gewendet sind diese, ganz nach außen gewendet die andern - wie auch unter den Menschen die mehr nach innen gekehrten und die mehr tätig nach außen gerichteten Naturen zu unterscheiden sind. Aber immer ist die Blüte das Wunder, wo der Erdenstoff, Farbe und Duft geworden, sich versprüht oder ruhig verströmt.

LeerDie beglückende Wirkung, die von einer blumigen Wiese auf unser Gemüt ausgeht, mag wohl darin begründet sein, daß unsere Seele ahnt: Hier ist mehr als ein reizvolles Farbenspiel fürs Auge. Der unbeschreiblich wohltuende Eindruck des satten Wiesengrüns hängt damit zusammen, daß wir es noch irgendwie dunkel wissen, auch wenn wir von dem Wunder der Wandlung, dem Werden des Lebendigen aus totem Stoff im Blattgrün gar keine Kenntnis haben; wir wissen oder ahnen: das grüne Feld ist der Ort eines großen Geheimnisses, hier ist der Ursprung des Lebens, und es ist ja wirklich gewandeltes Sonnenlicht, was uns aus den Farben der Blumen entgegenleuchtet.

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LeerEs bedarf vielleicht gar nicht vieler Worte, nun ausdrücklich darauf hinzuweisen, wie urbildlich das Gesagte für das Leben des Menschen ist. Aus dem Dunkel zum Licht, aus dem Erdhaften, Toten zum Geistigen, Lebendigen - das ist ja der vorgezeichnete Weg des Menschen, nur daß wir ihn nicht so sicher und rein zu gehen vermögen wie die Pflanze. Es geht nur durch schmerzvolle Wandlung; aber Wandlung unter Kraftwirkung des Lichts, genau das ist es, wonach unsere Seele verlangt.

LeerUrbild und Vorbild, wurde gesagt. Ja, ist die Pflanze denn mehr als der Mensch, ist sie denn wirklich ein Wesen höherer Art, zu dem er aufschauen muß? Ach wir haben uns gar zu sehr an die rein biologische Stufenleiter gewöhnt und sehen sie gar zu selbstverständlich als eine Wertskala an. Wir zweifeln kaum je daran, daß die einzig mögliche Stufenleiter dies sei: Der Stein, die Pflanze, das Tier, der Mensch, und darüber ahnen wir den Engel. Aber ist das wirklich wahr, daß ohne weiteres die Pflanze mehr als der Stein, und das Tier mehr als die Pflanze ist? Wissen wir nicht im Grunde sehr genau, daß ein Rubin mehr ist als ein Regenwurm - und das nicht nur, weil er viel kostet!

LeerOb nicht hinter dieser halb unbewußten Bewertung die Ahnung steckt, daß es eine ganz andere Wertfolge gibt als die biologische, im tiefsten Grunde nämlich danach, wie weit ein Geschöpf etwas widerspiegelt oder durchscheinen läßt von dem Wesen des Schöpfers. Ist nicht das Licht Gott viel näher als das Tier, obwohl es kein organisches Wesen ist? Wer die Rolle kennt, die Wein und Korn und Ölbaum in den Religionen spielen, der weiß, daß diese Geschöpfe „mehr” sind als die Säugetiere!

LeerSo kann es wohl kommen, daß wir ausschauen zur Pflanze und es kaum wagen, uns mit der zarten Reinheit der Blüte zu vergleichen. Wir spüren, wie fern wir dem sind in unserer groben selbstischen Art. In einem kürzlich erschienenen Buche wurde auf diese unsere Ferne hingewiesen in einer Betrachtung über den Zucker, die etwas Erschreckendes hat. Die Alten waren dem Geheimnis der Blüte noch ganz nahe, sie brauchten zum Süßen den Honig. Später ging man am Stengel herab und nahm das Zuckerrohr, dann unter die Erde, und nahm die Rübe. Und unsere Zeit ging noch weiter in die Tiefe und nahm die Kohle und machte daraus das Saccharin - ein Einzelzug aus der Kulturgeschichte, in dem die Sonnenferne unseres Geschlechtes erschütternd deutlich wird.

LeerWir können also nicht, wie es der Inder in seinem All-Einheits-Glauben tut, eine Blume so betrachten, daß wir uns gewissermaßen mit ihr in Eins sehen. Die Pflanze ist etwas anderes als der Mensch; sie hat nicht Fleisch und Blut, es fehlt ihr Wille und Bewegung und das triebhafte Animalische. Und so ist sie meistens frei von Dämonen, nicht immer: der Mohn (Opium), viele -Orchideen und manche Pilze (Stinkmorchel!) haben etwas ausgesprochen Dämonisches an sich. Seltsam animalisch wirkt ja auch die Begattung, wie sie in ihrem Zwischenstadium als Prothallium die Farnkräuter vollziehen, gerade diese so typisch pflanzlich anmutenden Wesen.

LeerUnd es darf wohl darauf hingewiesen werden, daß die grünen Blattkörperchen der Pflanzen und die roten Blutkörperchen in unseren Adern chemisch recht nahe verwandt sind. Übergänge und seltsame Überschneidungen sind also da, aber wir können in keiner Weise ins Pflanzenhafte zurückkehren.

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LeerWohl aber dürfen wir so sagen: Wenn die Pflanze auch als ein Wesen ohne Bewußtsein unter dem Menschen steht, so ist sie doch unbewußt eine volle Verkörperung gottgewollten Geschehens in einer kostbaren Reinheit, die dem Menschen unerreichbar ist. Wir denken hier nicht nur an die sprichwörtliche Reinheit der Lilie und an die Schönheit der Rose? wir denken daran, daß jede Pflanze in reiner Form eine Seite des lebendigen Geschehens verwirklicht: Die Wandlung; die Wandlung aus Totem ins Lebendige unter der Wirkung des Lichts. Und darin ist sie urbildlich.

LeerDie Wandlung des Menschen und der Welt ist das, wonach im Grunde alle Religion fragt. Sollte es wohl ein Zufall fein, daß Goethe in seinem Naturforschen immer wieder die Frage nach der Metamorphose (d. h. nach der Wandlung!) aufgeworfen hat? Derselbe Goethe, der die Gabe hatte, die Natur und die Geisteswelt in eins zu sehen; der Goethe, der in einem seiner tiefsten Gespräche mit Eckermann die Sonne und Christus in einem Atem nennt. Es ist sicher kein Zufall, - und es will uns so scheinen, als könne in einer Zeit, wo Goethes Naturbetrachtung anfängt, ernsthaft aufgenommen zu werden, das Wort „Wandlung” einmal der Begriff werden, an dem sich die Natur- und Geisteswissenschaften eines Tages finden könnten, die am Anfang unseres Jahrhunderts so hoffnungslos getrennt schienen - von der Chemie bis zur Religionswissenschaft.

LeerSo könnte man wohl das Grün die Farbe der Wandlung nennen, und wo es in den Kirchen als liturgische Farbe auftritt, mag es auch wohl diesen Sinn haben. Die Blüte aber wird uns zum Gleichnis der Hinwendung nach oben, der sich verströmenden Hingabe in der Liebe. Und wir haben es nötig, dem Wesen der Blume immer wieder liebend nachzusinnen und das Geschehen anzuschauen, das sie, in tiefem Ein klang mit dem Göttlichen, urbildlich verkörpert, auf daß die große Wandlung und die opfernde und sich verströmende Liebe immer mehr in uns Gewalt gewinne. Fraglich erscheint dabei, ob man das mit dem Willen erreichen kann, wie es Schiller meint, wenn er von der Pflanze sagt: „was sie willenlos ist, sei du es wollend - das ist's”.

LeerWir wissen heute, wie vieler Gefahr der Verkrampfung der gespannte Wille ausgesetzt ist. Viele Dinge im Leben, vor allem im Leben der Seele, die der Wille nicht zu erzwingen vermag, erschließen sich eher dem Menschen, der sich entkrampft und entspannt „hinzugeben” vermag. Wie die Blumen uns darin Vorbild sein können, haben zwei deutsche Menschen in unübertrefflich schöner Weise gesagt. Der eine ist Tersteegen in seinem Gebet: „Wie die zarten Blumen willig sich entfalten und der Sonne stillehalten, laß mich so still und froh Deine Strahlen fassen und Dich wirken lassen”.

LeerDer andere ist Philipp Otto Runge: „Eine Blume recht zu betrachten, bis auf den Grund in sie hineinzugehen, damit kommen wir nie zu Ende. Ich kann mich gar nicht satt sehen, das Sehen wird mir von Tag zu Tag lieber, und ich freue mich immer mehr, daß ich so recht von Herzen darauf gefallen bin. Alles Lebendige hat in unserer Seele einen Spiegel, und unser Gemüt nimmt alles recht auf, wenn wir es mit Liebe ansehen. Dann erweitert sich der Raum in unserem Innern, und wir werden zuletzt selbst zu einer großen Blume, wo sich alle Gestalten und Gedanken wie Blätter in einem großen Stern um das Tiefste unserer Seele, um den Kelch, wie um einen Brunnen drängen”.

* Die Kreuzblütler lassen wir hier bewußt außer Betracht.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 28-32

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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