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Mutter Kirche
von Grete Dimel

LeerRembrandt - Heilige FamilieIm Jahre 1654, als Nöte aller Art den Lebensweg Rembrandts verdunkelten, wurde ihm die Kraft zu einem Werk höchster Intensität geschenkt, zu der Radierung: „Die Heilige Familie”. Wie zu allen Spätwerken großer Meister ist auch der Zugang zu diesen Offenbarungen innerer Gesichte erschwert durch die herbe, aller malerischen Schönheit oder vertrauten Intimität entbehrende Darstellungsweise. Sie erweckt den Eindruck, als habe Rembrandt einen Marmorblock mittels des Meißels nur soweit bearbeitet, bis eine skizzenhafte Andeutung die geplante plastische Durchbildung erahnen läßt. Die Radiernadel kratzt unbarmherzig mit langhingestreckten Querstrichen über die Kupferplatte. Kein Modellieren der Form, kein Festlegen von Konturen ist beabsichtigt. Alle sinnlich erfahrbare Schönheit, die keinem wie Rembrandt mit Pinsel und Grabstichel wiederzugeben vergönnt gewesen war, verleugnet der gealterte Meister und zwingt uns zu der asketischen Strenge seiner gereiften Aussagen. Daher wird dem Auge der Weg zum Verständnis dieses Spätwerkes schwer gemacht, und eine kurze Analyse soll mit den Einzelheiten vertraut machen.

LeerDas heilige Geschehnis ist über das Alltägliche hinaus in die Sphäre des Mysterienspiels gehoben: Die mit der Bildfläche parallel laufende Plankengrenze wird von einer Treppe flankiert, deren Anlage an die Bühnengestaltung des Shakespeare-Theaters erinnert. Nur die obersten Stufen dieses Aufgangs sind sichtbar. Am rechten Bildrand steigt über schwelenden Holzscheiten ein Kamin auf, dessen oberes Ende vom Bildrand überschnitten wird. Den Hintergrund bildet eine glatte, von großem Fenster unterbrochene Wand. Unter dieser zieht eine niedrige Stufe, darauf eine geöffnete Truhe mit hervorquellendem Linnen. Die linke Bildseite wird von der schweren Draperie eines Thronhimmels eingenommen, der sich über einem erhöhten Armsessel weit öffnet. Eine Katze verfängt ihre Krallen im Saum des langhingebreiteten Gewandes der Maria. Unter deren Füßen ringelt sich eine Schlange hervor. Tief niedergebeugt, mit beiden Armen ihr Kindlein umfangend, kauert die Mutter auf niedrigem Sockel. Ihr Sitzen verdichtet sich zu einer Geschlossenheit von lapidarer Ausdruckskraft. Hinter ihrem und des Kindes Haupt wird das gradlinige Stabwerk der Fensterfassung in ein Oval verwandelt, aus dessen Mitte heller Glanz strahlt. Von außen her lehnt sich ein ernst verschlossenes Männerantlitz gegen die gläserne Wand.

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LeerSoweit der Tatbestand des Gegenständlichen. Da es sich in dieser Radierung aber um ein Spätwerk Rembrandts handelt, lassen sich die Gegenstände nicht in ihrer wörtlichen Bedeutung, nicht als erzählendes Beiwerk, das den Innenraum schmückt, betrachten. Sie müssen in ihrer symbolischen Bedeutung erschaut werden. Den Stufen des Vordergrundes hastet etwas Geheimnisvolles an. Wohin mögen sie führen? Kein Geländer faßt sie ein; kein Gitter versperrt den Zutritt: „Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben - -” Wir verspüren das dunkel Lockende dieses so seltsam offenen Stufenweges. Ist er nur als Treppenanstieg zu einem Bühnenraum zu verstehen? Werden wir nicht leise an die Worte des Mephisto erinnert, als er Faust vor dem Weg zu den Müttern warnt? Fragen auch wir: „Wohin der Weg?” ,so scheint auch uns jene vieldeutige Antwort zu werden:
„Kein Weg! Ins Unbetretene,
Nicht zu Betretende; ein Weg ins Unerbetene,
Nicht zu Erbittende. Bist du bereit?
Nicht Schlösser sind, nicht Riegel wegzuschieben,
Von Einsamkeiten wirst umhergetrieben.
Hast du Begriff von Öd' und Einsamkeit?”
LeerDer Gestaltung des Kamins eignet weder gegenständliche Deutlichkeit noch klare Ortsangabe. Daher mag über seine eigentliche Bedeutung hinausgegangen und in ihm ein Sichtbarwerden dessen erkannt werden, was Angelus Silesius uns zu bedenken gibt:
„Mensch, stirbest du nicht gern, so willst du nicht dein Leben:
Das Leben wird dir nicht als durch den Tod gegeben.”
LeerIm läuternden Feuer werden alle Schlacken unseres Wesens ausgeglüht. Befreit von trüber Erdenschwere steigt reineres Sein zum Licht empor.

LeerDer dunklen Mauer fehlt die Intimität einer bergenden Wand. Sie scheint bedeutungsschwer die tragische Trennung des „Draußen” und „Drinnen” zu versinnbildlichen.

LeerIm Sinnbild der geöffneten Truhe mit ihren entquellenden Schätzen scheint aller Reichtum dieses geheimnisvollen Innenraums dem entgegenzuströmen, der sich dieser bergenden Welt anvertraut.

LeerUnter der schweren Masse des weit sich öffnenden Vorhangs wird der erhöhte Armstuhl zu einem Thronsessel. Wie kommt es, daß er leer blieb, daß nicht Maria diesen Platz einnimmt? Wir entsinnen uns ältester Darstellungen auf Kunstwerken längst dahingesunkener Völker, die den leeren Thron als Anschauung dessen zeigen, was als ewig unsichtbar einzig dort zu thronen berechtigt wäre: der Gottheit. In diesem Sinne geschaut verliert der Armsessel alle intime Bezogenheit zu einem Innenraum und wird zu einem in seiner Leere fast unheimlich wirkenden Symbol des Ewigen. Marias monumental eindrucksvolles Sitzen am Fuße des Thrones der Gottheit wird tief bedeutsam, da doch in ihren Armen das göttliche Kind ruht. Dieses selbst hat den Thron des Vaters verlassen, ist Mensch geworden und in die tiefste Niedrigkeit herabgestiegen.

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LeerEin gemeinsamer Blutstrom scheint Mutter und Kind zu binden. Aber während die Augen der Mutter schmerzlich stumm verschlossen und nur innerlich ganz auf das Kind gerichtet sind, wendet dieses, dicht an die Wange der Mutter geschmiegt, seinen Kopf und schaut uns mit ernster Mahnung an. Mit diesem Blick werden wir tief eingefangen in die geheimnisvolle Bildwelt. Alle Symbole beleben sich und erhalten ihren Sinn aus der Kraftquelle dieses Schauens.

LeerAber auch die Katze ist eine lebendige Macht! In ihr und der Schlange sind unschwer die Nachstellungen des bösen Feindes zu erraten, der nicht ruht, bis das Bild des Göttlichen verzerrt und entstellt ist.

LeerNun mag das elliptische Rund des Fensters zu einigen Betrachtungen Anlaß geben. Das um zwei Brennpunkte schwingende Rund ist eine Ausdrucksform für das Raumempfinden der Barockzeit. Es begegnet uns sowohl im Weltbild Keplers, der erstmalig die Bahnen der Planeten als Ellipsen bestimmte, als auch im architektonischen Grundriß festlicher Säle und Kirchen. Wagen wir einmal in übertragenem Sinne das Zentrum eines Kreises als Sichtbarwerden der Koinzidenz von Göttlichem und Menschlichem anzuschauen, so erfahren wir, daß beim Entstehen der Ellipse die Einheit des Mittelpunktes zu einer Zweiheit auseinandergerissen wird. In der Romanik deckten sich, sinnbildlich gesprochen, die Begriffe Gott und das Ich noch: die junge Menschheit stand noch in der natürlichen Bindung zu Gott. Er war der Mittelpunkt des eigenen Ichs, so wie es das Bibelwort kündet: das Himmelreich ist in euch.

LeerDie starke Sehnsucht nach Transzendentem sprengte den Rundbogen der Romanik und ließ ihn über sich hinauswachsen zum Spitzbogen. So auch dehnte erneutes Streben nach überwirklichen Erkenntnissen die in sich ruhende Kreisform der Renaissance zur wandelbaren elliptischen Form des Barocks. Die beruhigende Kraft des Kreises war von dem eindeutig Festgelegten seines Mittelpunktes ausgegangen. Daher auch entsprach die Vorstellung der Renaissance, die Sonne als Mittelpunkt des Weltalls anzusehen, einer in sich ruhenden Kraft. Nun aber war das Himmelsgestirn aus dem Mittelpunkt fortgerückt worden und zu  e i n e m  der beiden Brennpunkte einer Ellipse geworden! Wagen wir abermals den Vergleich, diesen mathematischen Punkt als ein Sinnbild des Göttlichen anzusehen, um das unsere Lebensbahn kreist, so erfahren wir bestürzt, daß die Einheit von Gott und Mensch auseinandergerissen und die Identität des zweiten Brennpunktes nicht bestimmbar ist. Kreist der Mensch bald um sein eigenes Ich, bald um das Bild der Gottheit?

LeerBesondere Bedeutung kommt dieser Ellipse dadurch zu, daß sie einen Mutter und Kind umschließenden Heiligenschein darzustellen scheint. Doch liegen die Antlitze beider auf der Peripherie und nicht im Mittelpunkt des vermeintlichen Nimbus. Wie tiefsinnig wird hierdurch zum Ausdruck gebracht, daß das göttliche Kind ganz in die Sphäre des Menschlichen und seiner Niedrigkeit einbezogen ist! - In der Mitte der Ellipse erstrahlt ein großes Licht. Ist wohl dieses als Heiligenschein zu deuten? -Oder mag es der ferne Glanz der Sonne sein? Oder aber dürfen wir es als ein Symbol der Gnadensonne Gottes erkennen, unter deren machtvollen Strahlen Maria erstarkt und ihr Wesen seinen Sinn erhält?

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LeerEine gläserne Wand trennt jenen Mann dort draußen von dieser Welt geheiligter Sinnbilder. Wen mag er darstellen? Die Bezeichnung des Bildes als „HIg. Familie” weist zwar auf Josef; doch scheint diese Deutung die Weite der Rembrandtschen Schau einzuengen. Da in jenen Jahren die Kirche Rembrandt verstieß und die Welt ihm alle Achtung versagte, mag Rembrandt mit dem Ausgestoßenen sich selbst gemeint haben. Wie bedeutsam wird dann der Glanz der Sonne! Ist doch das sinkende Licht das Sinnbild des Lebensabends. Und senkt sich jener soeben noch hochgehaltene Vorhang bald endgültig vor die klare Durchsicht des Fensters, den Mann auf immer von der geborgenen Innenwelt dieses Raumes zu trennen?

LeerEs mag in dem Draußenstehenden aber auch ganz allgemein der vom Verstand her ausgerichtete, von der Vernunft her geleitete Mensch gemeint sein. Nicht dem Mann als solchem ist der Zugang zu den geheiligten Bezirken der Seele verwehrt, sondern „dem Geist als Widersacher der Seele”. Eine gläserne Wand trennt die Erkenntnisse des Verstandes und die Erkenntnisse des Herzens. Nur vor dem Forum der Seele wird das innere Reich wahrnehmbar. Hinter der tiefen Resignation in den Zügen des Draußenstehenden verbirgt sich zugleich eine demütige Bereitschaft, teilzuhaben an der geheimen Kraftquelle dieses Innenraums.

LeerIst es ein Zufall, daß dicht unter dem Haupt dieses einsamen Mannes der Truhe ihre Schätze entquellen? Mögen sie wohl die Gnadenschätze der Kirche in ihren Sakramenten versinnbildlichen? Und scheint es ein Zufall, wenn dicht vor dem Draußenstehenden eine Schale auf dem Fensterbrett sichtbar wird? Darf sie vielleicht als Symbol des heiligen Abendmahles gedeutet werden? Unter dieser Deutung gesehen, scheint das Bekenntnis des demütig Wartenden vernehmbar: „Herr, ich bin nicht wert, daß Du unter mein Dach gehst. Aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.” Die Worte Gottvaters in den Geschichten Ezechiels und der Apokalypse scheinen dem Ohr als tröstliche Verheißung vernehmbar zu werden: „Nimm und iß!” Er aber steht hinter gläserner Wand und findet nicht den Zugang zu dieser bergenden Welt, indessen der unsichtbar gehaltene Vorhang die Scheiben bald zu verhängen droht.

LeerNoch einmal das Ganze überschauend, werden wir gewahr, daß nicht nur der Kamin, sondern auch Wand, Fenster, Vorhang und Thronhimmel in ihrer oberen Begrenzung unsichtbar bleiben. Dadurch liegt über dem Bildraum ein beängstigend Vages. In unserer Vorstellung wachsen die Dinge über den Bildrand hinaus und verlieren sich im Grenzenlosen. So wie nach oben hin keine Grenze den Raum einfängt, so bleibt auch nach unten hin das Bild zum Offenen hingewandt: der rätselhafte Stufenweg führt in unbekannte Tiefen. Dieses Preisgegebene an das Unendliche umwittert den Raum. Es bezieht ihn ein in jenes „Unendliche”, von dem Giordano Bruno als von einer Eigenschaft des Weltalls sprach.

LeerZwischen den nach Höhe und nach Tiefe hin ins Endlose sich verlierenden Ausdehnungen dieser Bildwelt tut sich das Geborgene jenes Reiches auf, das - wie im Mysterienspiel auf die Bühne erhoben - gleichsam zum Sinnbild der alles liebevoll umfangenden und bergenden Mutter Kirche wird.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 58-61

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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