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von Wilhelm Thomas |
Hundert Jahre ist es her, daß in der evangelischen Kirche Deutschlands das diakonische Amt erneuert wurde, und wieder stehen wir vor der Frage: Erneuerung der Diakonie. Es hat Diakonie in der Christenheit immer gegeben, helfende Liebe, die sich im Dienst verzehrt. Die Reformation hat den Dienst an den Armen neu geordnet, hat auch den Diakonus in die Hierarchie ihrer Amtsträger eingegliedert. Der Pietismus hat große Fürsorgewerke geschaffen. Johann Hinrich Wichern aber erhob auf dem Kirchentag des Revolutionsjahres 1848 zu Wittenberg aufs neue die Diakonie zum unentbehrlichen Fundamentalwerk der Kirche. Die Christenheit sollte sprechen: Die Liebe gehört mir wie der Glaube. Wichern sah in der Diakonie ein Amt jedes Christen, und er sah zugleich in ihr die Kraft zur inneren Missionierung der deutschen evangelischen Kirche. In dem Namen „Innere Mission”, den er ihr nach dem Vorbild eines seiner Göttinger Lehrer gab, lag das Wissen: die Kirche Christi in Deutschland ist Missionsfeld. Und es lag darin zugleich: dies Missionsfeld kann mit dem Wort, das sich von der Tat losgelöst hat, nicht missioniert werden; es muß Missionierung durch die Tat barmherziger Liebe erfahren. Wenn wir heute zurückblicken, so wird deutlich, wie Großes aus dem Ansatz vor hundert Jahren erwachsen ist. Die Werke der Barmherzigkeit, die im Namen der Innern Mission getan wurden und noch getan werden-sie sind nicht mehr wegzudenken aus dem Bilde der Kirche. Als Träger all dieser Werke ist neben dem Stand der Pastoren, die bis dahin allein den „geistlichen Stand” verkörperten, der Stand der Diakonissen, Diakonieschwestern und Diakone erwachsen und hat sich bis in unsre Tage durch die mannigfaltigsten fürsorgerischen und pflegerischen Spezialberufe im ganzen Feld der Diakonie erweitert. Die Anstalt der Inneren Mission ist zu einem Gemeinwesen geworden, das - als Anstaltsgemeinde - voll gleichberechtigt neben der Pfarrgemeinde steht. Eine schwere Bedrohung hat das ganze Werk der Diakonie und Innern Mission in den Jahren des totalen Staates erfahren. Alle vorgeschobenen Posten (wie etwa die Bahnhofsmission oder das 1930/31 unter führender Mitarbeit der Inneren Mission begonnene Winterhilfswerk) mußten aufgegeben werden. Die missionarische Zielsetzung der diakonischen Arbeit mußte zurücktreten, die Kräfte, die sich nicht in den Wohlfahrtsdienst des Staates eingliederten, mußten in die katechetische Arbeit ausweichen. Es drohte die Gefahr, daß die christliche Gemeinde verlernte, für leibliche Note ihrer Glieder da zu sein. Dabei ruft die Not der Zeit und die Ohnmacht des Staates an allen Ecken und Enden nach der Hilfe der Kirche. Lebt der Liebesfunke noch unter der Asche? Kann er wiedererweckt werden zu loderndem Feuer? Wird die Glut christlicher Bruderliebe die kalten Herzen aufs neue verschmelzen, Gemeinschaft stiften? Wenn man die beinahe unbeschränkte Freiheit bedenkt, und dazu die ungeheure Größe der Not, dann kann man nur zaghaft und beschämt von den Resten christlicher Barmherzigkeit sprechen, die lebendig geblieben sind. Damit verkleinern wir nicht, was an einzelnen Orten leuchtend sichtbar wird, sondern würdigen seine Bedeutung um so mehr. Aber was bedeuten schon ein paar hundert selbstlose Herzen angesichts des Elends der Flüchtlinge, der Heimkehrer und der Daheimgebliebenen! Wie klein ist z. B. die Zahl der Schwestern, die zu Gebote steht, wenn man auch nur an die Betten denkt, die für die Pflege übrig geblieben sind! Selbst die Liebesgaben des christlichen Auslands, unter denen wahrlich große und gesegnete Opfer sind, - was ist es unter so viele! Wer ist willig, in die Bresche zu springen, als neue Kraft einzutreten in den Dienst der Diakonie und des Pfarramts? Wer baut die Heime für die Kinder und für die Alten, für die Siechen und für die Entwurzelten? Wer bricht dem Hungrigen täglich sein Brot? Wir wollen es nicht gering anschlagen: neben der alten, mit ungebrochener Kraft wirkenden Diakonie der Innern Mission in den Fußstapfen Wicherns, Fliedners und Löhes ist die neue Diakonie erwachsen mit Wurzeln in der Widerstandsbewegung des Dritten Reiches, das Evangelische Hilfswerk, eingefügt in das ökumenische Hilfswerk der Kirchen der Welt. Viele neue Nöte sind hier herzhaft angepackt, viele alte Nöte auf neuen Wegen gelindert und bekämpft. Doch wie sollen wir das Nebeneinander beider Werke der Kirche verstehen? Soll die alte „Innere Mission” abtreten? Soll sie eingeschmolzen werden in das Neue, oder soll das Neue bald wieder einmünden in das Alte? Es ist eine Frage, die sich darnach beantwortet, wie man die Geschichte unsrer Kirche sieht. Ist das 19. Jahrhundert reine Verfallszeit, letztes Aufflackern vielleicht sterbender Kräfte, dann ist unsre einzige Hoffnung: unsre Zeit zeigt neue, zukunftsträchtige Lebenstriebe, auf allen Gebieten kirchlichen Lebens, auch auf dem Felde der Diakonie. Liegt aber schon im 19. Jahrhundert der Aufbruch zum neuen Leben der Kirche auf allen Gebieten, auch auf dem Felde der Diakonie, dann kann, was der heutige Tag Neues fordert und gebiert, alles nur Fortführung dieses ersten Aufbruchs sein, der vor hundert Jahren geschah, - vielleicht so, daß Mängel und Fehler des ersten Ansatzes noch einmal überprüft und berichtigt werden. Dann tritt auch das Evangelische Hilfswerk unter das Zeichen der Innern Mission. Dann muß aus alter Diakonie der Innern Mission und neuer Diakonie des Hilfswerks das neue, gegenwartsmächtige Werk wahrer innerer Mission für unsre Tage erwachsen. Wir haben keinen Zweifel, daß diese zweite Sicht allein der Gesamtgeschichte unsrer Kirche gerecht wird. Das Evangelische Hilfswerk hat mit Ernst die Aufgabe angegriffen, auch in der letzten Gemeinde tätigen Liebeswillen zu wecken, der selbst Hand anlegt und dabei doch zusammengeht mit dem Liebeswerk der ganzen Kirche. Damit erneuert es die Bewegung die einst den Namen „Innere Mission” bekam und ihr Urbild sucht in der Gemeinde der ersten Christen. Freilich, in einem stehen wir dabei anders als Wichern und seine Zeit. Ihm konnte Innere Mission noch erscheinen als ein Werk des heilserfüllten Volksteils am heillosen. Uns ist dieser Gegensatz relativ geworden. Innere Mission ist jetzt erst ganz innere Mission geworden, Missionierung unser selbst, nicht eines abgefallenen Teiles, sondern des Ganzen. Wir wissen, wie Wichern es meinte. Bei ihm war keine Überheblichkeit darin. Es ist nur, daß wir's noch klarer aussprechen: hier sind nicht Gebende und Nehmende, hier sind lauter Bittende - und Beschenkte. Wie aber stehen heute zueinander der Gottesdienst des Wortes und Sakraments und der Gottesdienst der Liebestat? Hier rühren wir an die Grundfrage der Zukunft unsrer Kirche. Es hat oft so ausgesehen, als lenkte die Liebestat ab vom Gottesdienst der feiernden Gemeinde. Bei den Vätern der Innern Mission ist es anders - nicht nur bei Löhe, sondern auch bei Wichern. Das Gesangbuch des Rauhen Hauses begann mit der (vierstimmigen) Psalmodie. Die Hausliturgie Wicherns war so reich, daß - schon sein Nachfolger sie nicht mehr verstand. Sehr zu ihrem Schaden hat die Innere Mission sich zu mancher Stunde ablenken lassen von der gottesdienstlichen Mitte alles gemeindlichen Lebens. Gewiß, weithin haben Gebet und Wortverkündigung in ihr lebendiger geherrscht als in toten Gemeinden. Aber die Diakonie hat doch herabgeblickt auf die Liturgie - als ob nicht beide, Diakonie und Liturgie, ihre Würde darin hätten, Engelsdienst zu sein unter Menschen, Gottesdienst im vollen und unverkürzten Sinne, so wahr die Engel da sind zum heiligen Gotteslob und zum demütigen Dienst an den Menschen. Je mehr ich mich einlasse mit der Not der Menschen, die doch zutiefst wurzelt in ihrer Gottesferne, umso mehr bedarf ich des Rückhalts in der jenseitigen Welt, im Lob Gottes, im Anschauen Seiner Herrlichkeit, im Schöpfen aus Wort und Sakrament. Wir haben inzwischen erfahren, daß das Glaubensleben der Christenheit nicht gleichgültig ist gegen die Form, in der es sich organisiert. Wir wissen, daß der Aufbau der Kirche nach Art eines Behördenapparates, der dem Staatsapparat nachgebildet ist, schwere Gefahren birgt. Wir wissen aber ebenso, daß der Aufbau der kirchlichen Arbeit in der ja ebenfalls staatsgebundenen Form des Vereinsrechts genau so sehr eine Säkularisierung der Kirche darstellt wie die Behördenkirche, und daß die darein eingeschlossene Privatisierung des Frömmigkeitslebens nicht besser ist als eine Politisierung im Schatten der Staatsform. Aber natürlich würde auch der Aufbau der Kirche in der Art des wirtschaftlichen Lebens, also als kaufmännisches Unternehmen - auch dazu ist die Diakonie dann und wann versucht gewesen - erst recht abführen von dem, was Kirche ist und bleiben muß, unabhängig von allem Wechsel der Formen weltlichen Lebens. Die Überwindung der Vereinsform ist für die Innere Mission ein Gebot der Stunde, in dessen Erfüllung ihr das Hilfswerk vorangeht. Aber sie darf nicht erkauft werden mit irgend einer Bürokratisierung oder Merkantilisierung. Die gottesdienstliche Gemeinde ist der wahre Träger auch des Liebeswerks der Kirche - das ist sichtbar im Leben der alten Kirche, in der jeder Träger des diakonischen Amts ein liturgisches Amt trug, jeder Liturg ein Amt der Diakonie. Fürchtet man, solche Überlegungen könnten abführen vom schlichten Dienst an den Ärmsten der Armen? E i n e Gefahr wäre zu fürchten: wenn wir Überfluß hätten an Mitteln und Kräften zu helfen, und unser Liebeswerk unterginge in Zahlen und Rekorden. Wer in der Wirklichkeit lebt, ist davor bewahrt. Aber je kleiner unsre Kraft ist, je größer die ungestillte Not - um so notwendiger werden wir gewiesen auf die letzte Besinnung. Unser Ringen um Weckung der diakonischen Kräfte mündet aus in ein Ringen um die Erneuerung der Kirche. Und dies Ringen muß zwei Lager zusammenführen, die sich lange fern gestanden haben: die „Liturgen” und die „Diakonen”. Erneuerung der Kirche heißt Erneuerung der Liturgie und Diakonie, heißt Rückkehr der Kirche zu ihrem heiligen Dienst vor Gott und den Menschen. Den Dienst, den die Kirche der Welt schuldet, tut sie im Händefalten und im Handanlegen gleicherweise. Ein und dieselbe Hand muß lernen beten und pflegen. Hundert Jahre eben vollendeter Geschichte der Kirche zeigen es unverkennbar. Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 62-65 |
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