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Kurt Reuber zum Gedächtnis
von Arno Pötzsch

LeerAls vor zwei Jahren ein wegen Krankheit in die Heimat entlassener deutscher Kriegsgefangener aus Rußland zurückkehrte und die nicht mehr bezweifelbare Nachricht vom Tode Kurt Reubers überbrachte, fügte er seinem Bericht über den in Stalingrad Gefangenen und dann in einem sehr fernen Lager des Ostens zugrunde Gegangenen die Worte an: „Er war ein wirklicher Humanist”. Es lohnt sich, bei diesem Begriff zu verweilen, die Erinnerung an Kurt Reuber an dieses Wort anzuschließen und zu fragen, was das Wort im Blick auf Kurt Reuber sagen will. Der Begriff ist nicht eindeutig und nicht wenig belastet. In der weltanschaulich-politischen Sphäre der letzten Jahre war das Wort verfemt, ausgestoßen; da hatte der Humanismus keinen Raum. Aber auch in der theologischen Diskussion des vergangenen Zeitabschnittes erfreute sich der Begriff keiner Beliebtheit. Das lag vor allem an seiner Vorbelastung durch die historische Erscheinung und geistige Haltung, die seinen Namen zu tragen pflegt. Und so erschöpfte sich die Verwendung des Begriffes nur zu häufig in der Kritik, der es vorwiegend auf den Nachweis der Unzulänglichkeit der humanistischen Idee ankam.

LeerWas haben wir dann und unterdessen erlebt! In der Sphäre des politischen Machthandelns konnte das Gegenteil jeglicher humanitas zu erschreckender Auswirkung kommen. Und eine Theologie, die geglaubt hatte, über die Probleme der humanitas hinaus zu sein und über den Humanismus hinweg zu „zentraleren” Dingen vordringen zu sollen, sieht sich heute in ihren Problemen weit zurückgeworfen und muß erkennen, daß jetzt alles daraus ankommt, daß die Fragen und die Forderungen der humanitas ganz neu aufgegriffen, durchdacht und vor allem erfüllt, verwirklicht werden. Wir sind nicht über den Humanismus hinaus, sondern wir stehen vor ihm als vor einer Aufgabe.

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LeerNicht von ungefähr lautet eines der meist erörterten Themata unserer Zeit: Menschwerdung des Menschen! Daß der Mensch wieder Mensch werde! Daß der seiner Menschlichkeit verlustig gegangene, in Unter- und Unmenschlichkeit entartete Mensch wieder oder daß er überhaupt Mensch, wirklich ein Mensch, Mensch im Sinne des Wortes, Mensch im Sinne des Schöpfers werde! Was für einen vollen Klang hat heute dieses Wort bekommen.- ein Mensch! Welche Sehnsucht schwingt heute durch diese Worte: Mensch und Menschlichkeit! Welch ein Glücksgefühl, welche Dankbarkeit vermag uns zu durchströmen, wenn wir die Begegnung mit einem Menschen hatten, wenn seine Menschlichkeit uns berührte und erwärmte und uns das Los unserer Tage froher und gewisser tragen ließ! Vielleicht geschah das ohne Worte. Vielleicht über politische, dogmatische oder was sonst für Zäune hinweg. ..

LeerIn der Richtung dieser Erfahrungen will doch wohl das Wort verstanden sein, das über Kurt Reuber berichtet: Er war ein wirklicher Humanist. Es will gewiß nicht sagen daß er über die humanistische Bildung des Gymnasiums verfügte oder der theologisch-philosophischen Richtung des Humanismus zuzurechnen wäre, sondern daß er in besonderer Weise ein Mensch war, in besonderer Tiefe und Weite wirkliches echtes Menschentum verkörperte. Der das von Kurt Reuber bezeugte, stand in vieler Hinsicht in seinem religiösen und politischen Denken an einem ganz anderen Ort als Kurt Reuber. Aber eben darum hat sein aus der Begegnung mit ihm erwachsenes Urteil Gewicht.

LeerKurt Reuber hat einmal in einer feinen Betrachtung den glaubenden Menschen so beschrieben (Gottesjahr 1935, S. 111): „Daß er von seinem inneren Besitz mit großer Freiheit zu zeugen vermag und den anderen „im Vorhof” mit mehr Liebe begegnet und selbst reicher und demütiger wird. Allein durch sein Dasein und Sosein wirkt er.” Hier wird nicht nur der Glaubende in seiner Menschlichkeit und mit deren Ursprung, sondern auch Kurt Reuber selbst richtig beschrieben. Zeugnis vom inneren Besitz mit großer Freiheit; Liebe und Demut; Wirkung einfach durch das Dasein - ja, das war Kurt Reuber!

LeerDaß der innere Besitz, über den er nur mit großer Zurückhaltung sprach, in der lebensmäßigen Begegnung und Gleichzeitigkeit mit Jesus Christus gewonnen wurde, mag mit dem Satz Kurt Reubers angedeutet werden: „Er weiß, daß es um den „ewigen Jesus” geht, der über aller rassischen, religionsgeschichtlichen und weltanschaulichen Bedingtheit entscheidungsvolle Menschheitsbedeutung hat, die freilich keine Welterklärung, sondern ethisch bestimmtes Sein in Gott bedeutet.” Dahin hat ihn Christus geführt.

LeerImmer geht es Kurt Reuber um ethisch bestimmtes Sein in Gott, um die Auswirkung dessen, was Gott dem Menschen anvertraut und aufgetragen hat, um das Tun des Willens Gottes, um die Darstellung des Menschen Gottes, der die in Gott erkannte und von Gott erfahrene Barmherzigkeit und Güte in die leere und bedürftige Welt hinein weiterträgt. Ehrfurcht vor dem gottgegebenen Leben und damit auch Ehrfurcht vor der gottunmittelbaren Person des andern Menschen, Verantwortung und Verpflichtung für dieses gottgegebene Leben in jeglicher Gestalt, Leben im Dienste der Lebenserhaltung und Lebensentfaltung - in dieser Richtung bewegt sich Kurt Reubers Denken und sein praktisches Leben.

LeerNicht von ungefähr hat er sich schon während seiner theologischen und philosophischen Studien zum Beruf des Pfarrers den des Arztes hinzugewählt, nicht von ungefähr seine medizinische Doktordissertation über „Die Ethik des heilenden Standes”, erforscht an einem übersehbaren Aus- schnitt deutscher Arztgeschichte, geschrieben, und, bereits im Felde stehend, im Vorwort dieser Arbeit den Satz seiner Quellenschriften zitiert: „Alles, es mag Namen haben, wie es will, wenn es zu des Menschen Gesundheit und zur Erhaltung seines Lebens dient, bringt demjenigen, der sich die Besorgung der Krankheit zur Pflicht gemacht hat, ehe so viel Ehre, als wenn der Soldat seinen Gegner umbringt.”

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LeerLeben zu erhalten und zu entfalten, das hat Kurt Reuber in den Kriegsjahren inmitten einer Welt des Todes und des Tötens mit restloser Hingabe, in rastlosem Einsatz als Arzt im Osten, Freund und Feind gegenüber zu verwirklichen versucht. Er hat Vertrauen und Liebe dafür ernten dürfen, Vertrauen und Dankbarkeit seiner Kameraden und fremder Menschen, die Liebe fremder Kinder, die ihn in ihrer Unmittelbarkeit und Reinheit am meisten beglückte. Und als er, am 20. Januar 1944 im Kriegsgefangenenlager Jelabuga im Tatarenland entschlafen, dort zur letzten Ruhe gebettet wurde, gaben ihm - ergreifendes Zeugnis menschlicher Verbundenheit mitten im Raum der Unmenschlichkeit - nicht nur seine Mitgefangenen, sondern auch die russischen Wachmannschaften das Totengeleit.

LeerZu den schlichtesten, aber tief schönen Dokumenten der humanitas gehört jener aus Rußland an seine Kinder gerichtete Brief Kurt Reubers mit den Worten: „Euer Bild steht im Schatten eines Gummibaumes, den ich vor dem Tode des Verdurstens gerettet habe. Auch Pflanzen können sterben und getötet werden, wie Menschen und Tiere. So wollen wir immer uns bemühen, alles Lebendige vor dem Untergang zu bewahren. Habt auch die Pflanzen lieb!” Und in einem der letzten Stalingradbriefe berichtet er: „Als ich heute Nacht über den Schnee schlich, stand frierend und verängstigt und vor Hunger Holz nagend ein kleines Russenpferd an unserer Feldküche angebunden. Ich habe eine Weile bei dieser armen Kreatur verweilt. Mich ergreift immer wieder das Elend dieser armen Tiere. Heute - diente es uns als Nahrung. Dieses ewige Gesetz von Zeugung und Tötung zur Lebenserhaltung, auch in dieser weiten, weißen Steppe der Lebensverlassenheit und Stummheit!”

LeerDabei haben wir uns streng vor der Verwechslung von echter humanitas und bloß sentimentaler Stimmung zu hüten. Kurt Reuber war alles andere als sentimental; er war sachlich, herb, aber er war barmherzig, menschlich im echten Sinne des Wortes. „Er war in unseren Augen ein Barmherziger, der aus der Barmherzigkeit des Herrn lebte und von Barmherzigkeit sich erziehen ließ und sie gewährte, ohne zu fragen, an wen und ob sie einer auch verdiene” (Schlunck). Auch in seinem Künstlertum begegnen wir der ihm eigenen humanitas. Er hatte eine leidenschaftliche Neigung zum Menschen, wollte ihn in seinem Innersten aufsuchen und erkennen. Darum liebte er, der so schweigsam in sich gekehrt sein konnte, das Gespräch. Er suchte den Menschen. Nur so sind die Hunderte von Bildblättern zu erklären, aus denen er die Antlitze der ihm begegnenden russischen Menschen, oft in rasch hingeworfenen Skizzen, festgehalten hat, Leidensantlitze von tiefer Eindrücklichkeit, die Gesichter von Männern, Frauen und Kindern mit dem Ausdruck der Not des Leibes und der Seele.

LeerEs ist eine einzigartige Menschenbegegnung, die sich da während des Krieges dort im Osten zwischen diesem „wirklichen Humanisten”, dem deutschen Pfarrer, Arzt und Künstler, und dem russischen Menschen und seiner Seele vollzogen hat. Mit welcher „Ehrfurcht vor dem Leben”, mit welcher menschlichen Zurückhaltung sind diese fremden Antlitze gezeichnet! Der Maler wollte nicht sich, nicht seine Gedanken und Empfindungen in die fremden Angesichter hineintragen, sondern tief liebend herauslesen, was in ihnen durch das Leben geschrieben stand.

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LeerUnd als er seinen Kameraden im Kessel Stalingrad in dem furchtbaren Winter 1942 zur einsamen, schweren Weihnacht in der Welt des Grauens und des Todes die Madonna zeichnete, das Bild einer Mutter, die im weiten Gewande ihr Kind birgt, und als er ein Jahr später, wenige Wochen vor seinem Tode Weihnachten 1943, im Gefangenenlager Jelabuga noch einmal eine Mutter zeichnete, die gramvolle Frau im schwarzen Trauergewande des Ostens mit dem lichtvollen Kinde, da hat er mit dem Zeichenstift helfen, Freude bereiten, „predigen” und die Botschaft von dem in das Menschenwesen gekommenen und das Menschenwesen erfüllenden Gott seinen leidenden, fragenden und zagenden Kameraden verkünden wollen: Seht das Kind, in dem die imago Dei Wirklichkeit geworden ist! Und an dem ihr Kind tragenden Weibe zeigt er in der menschlichen, menschlich verstehbaren Gestalt den unbegreiflichen, Leben bergenden Gott.

LeerIn seinem Selbstbildnis einer unvollendeten Skizze aus dem der Vernichtung entgegengehenden Kesseldasein, offenbart er sich selbst und zugleich den Menschen von Stalingrad, den Menschen in der Gottbegegnung, den Menschen in einer tiefsten Verlassenheit, aber in der Zwiesprache mit Gott. Auch in diesem erschütternden Selbstbildnis bezeugt er ebenso wie in den Madonnenbildern das Leben, dient er dem Leben.

LeerIn der Verschollenheit der Kriegsgefangenschaft nach Stalingrad wurde Kurt Reuber zum geistigen Mittelpunkt des Gefangenenlagers. Kaum noch als Arzt, nur noch Mensch, als Kamerad, als Bruder dient er seinen Mitgefangenen, dient er dem Leben In der Einsamkeit und Abgeschlossenheit ringen sie dort um das Leben, um seinen Sinn, seine Deutung, seine Aufgaben in der Zukunft. Kurt Reuber, körperlich schwer leidend, ist ihr guter Geist und Helfer, führend im Gespräch, voller Gedanken und Pläne. Es geht ihm um die Verwirklichung wahren Lebens, wie es der Begegnung mit Gott entspringt, um seine Darstellung in einem ethisch bestimmten Sein in Gott.

LeerIn dem gewichtigen letzten Briefe, den der aus der Gefangenschaft entlassene Kamerad mit in die Heimat brachte, stehen die Worte: „Die erste Voraussetzung einer wahren Befriedung der Welt liegt im Abstellen des Friedenswidrigen im allerpersönlichsten Leben. Und wenn wir ehrlich sind in dieser prüfungsreichen Zeit, die uns Zeit kritischer Selbstbesinnung ... ist, ist jedem von uns klarer als sonst, was er als Friedenswidrigkeit und Entzweiung des Lebens zunächst in seinem engsten Kreis abzustellen hat. Bei uns Gefangenen, deren Lebensumstände zur Einkehr zwingen, meldet sich oft die Stimme des Gewissens, Ob wir ihr zukünftig folgen werden oder ob wir ungewandelt in die Heimat zurückkehren?”

LeerKurt Reuber ist nicht zurückgekehrt. Der Osten hat ihn behalten. Aber sein Dienst am Leben den er als Mensch, als Pfarrer, Arzt und Künstler geleistet hat, dieser Gottesdienst, zu dem er in einem besonderen Maße berufen und begnadet war, geht weiter. Seine Bilder, seine Worte, seine Briefe, sein Tun und Handeln unter uns wirken über seinen leiblichen Tod hinaus, bezeugend und bestätigend, was von ihm gesagt worden ist: Er war ein wirklicher Humanist!

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Kurt Reuber, Lic. theol. Dr. med., geb. 26. Mai 1906 in Kassel, studierte in Bethel. Marburg, Tübingen Theologie; in Marburg und Göttingen Medizin. Seit 1933 Pfarrer in Wichmannshausen, Kreis Eschwege in Hessen. 1939 zum Kriegsdienst einberufen, als Truppenarzt im Südosten und Osten eingesetzt. Im Kessel Stalingrad gefangen, starb er ein Jahr später in dem tausend Kilometer weiter ostwärts gelegenen Gefangenenlager Jelabuga an der Kama am 20. Januar 1944.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 66-69

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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