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Windrad und Rose
von Arnold Rickert

LeerSchon seit längerer Zeit beschäftigt mich eine bisweilen wiederkehrende Darstellung des Kreuzes aus frühmittelalterlicher Zeit, auf der zu beiden Seiten des senkrechten Kreuzbalkens je eine Rosette zu sehen ist: auf der einen Seite eine solche mit einer ausgesprochenen Drehbewegung, wie sie auch später vielfach in der Volkskunst zu finden ist, und auf der anderen Seite eine offene Blüte. Immer wieder fragte ich mich, warum wohl diese beiden Rosetten da seien. Sie konnten unmöglich bloß um des Schmuckes willen gemacht sein, sie mußten auch etwas bedeuten.

LeerEines Tages wurde mir klar: die Rosette mit der Drehbewegung kann nur ein Bild des Geistes, ein Bild des pneuma sein; sie ist wie ein Windrad, wie ein Wirbelwind. Hier, wird ungemein anschaulich, wie der Geist  w e h t . Seitdem muß ich immer an den heiligen Geist mit seinem Brausen denken, wenn ich das Windrad sehe. Was soll aber nun die andere Rosette, die einfache Blüte? Sie muß doch auch einen Sinn haben, und wenn sich hier kein Sinn ergründen ließ, dann wurde auch die Bedeutung des anderen Zeichens fragwürdig. Ich konnte aber nicht ergründen, was die Blüte bedeutete.

LeerDarüber verging längere Zeit. Kürzlich hatte ich zusammen mit meiner Frau an einer Religionsstunde für Erwachsene von D. Merz teilgenommen. Wir hatten die Geschichte von der Samariterin am Brunnen gelesen. Der Höhepunkt der Auslegung dieser Geschichte war den Worten gewidmet: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.” Ich mußte wieder an das Windrad denken. Es war aber noch soviel von den anderen Worten des Evangeliums die Rede, von der Samariterin, und wie Jesus das Verborgene enthüllte, ja, wie die aletheia, die Wahrheit, eben die Enthüllung des Verborgenen bedeutet, daß ich ganz voll davon nach Hause ging.

LeerAls ich dann wieder zu Hause war, da schlug es plötzlich wie ein Blitz in mich ein: jetzt weißt du endlich, was die offene Blüte bedeutet; es ist ja die aletheia, die Wahrheit, die hier gemeint ist. So aufgeschlossen hat Jesus das Geheimnis des Messias, daß es daliegt wie eine offene Blüte: „Ich bin's, der mit dir redet.” Aber nicht nur, daß der Herr, der von sich gesagt hat: „Ich bin die Wahrheit,” sich geöffnet hat wie eine Blüte. Er hat auch das fremde Weib offenbar gemacht. Auch sie liegt da, wie eine offene Blüte, aber ein anderes Wesen tritt hier zutage, nicht die Heiligkeit Gottes in dem Herrn Christus, sondern die Sünde. Dadurch aber, daß der Herr sich der Sünderin geoffenbart hat, wird ihre Sünde hinweggenommen. Denken wir an das Wort: „Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe” (Joh. 15, 3). Die Sünderin ist verwandelt, sie ist Gefäß für die Frohbotschaft geworden, um sie weiterzutragen. Sie läßt ihren Krug stehen, selber voll des lebendigen Wassers. Das ist das ganz Wunderbare, daß die Wahrheit, die Jesus Christus heißt, vermag, daß im Gericht Seligkeit ist

LeerAber nun wollen wir den Geist mitsehen. Wie sieht das Zeichen des Geistes aus, das sich drehende Windrad? Der Geist weht so, daß sich der Mensch umkehrt, daß er Buße tut. Schauen wir auf die Nikodemus-Geschichte zurück, auch hier ist vom Geist und vom Wasser die Rede. Vom Geist, der umwendet, umdreht, daß wir wiedergeboren werden, daß das Wasser des Todes zum Fruchtwasser einer neuen Geburt wird. Das Windrad wird uns jetzt noch deutlicher: wie Wellen sind die einzelnen Linien mit ihren S-Kurven, Wellen, die der Wind, der Geist auf- und umwirft, so daß die waagerechte Welle des Todes zur senkrechten Welle des Lebens wird. Aber es ist ein Wirbel: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg.” - Beides gehört zusammen: Wasser und Geist, aber auch Geist und Wahrheit. Nur wenn der Geist weht, dann springt im Wirbel der Wellen die Seerose auf, dann erblühet die Christrose, die aletheia; aber sie geht für uns nur auf, wenn wir selbst offenbar werden vor dem Herrn, wie eine offene Blüte. Deswegen müssen wir „im Geist und in der Wahrheit” anbeten.

LeerSymbolDie hier versuchte Deutung der beiden Rosetten darf lediglich als eine private aufgefaßt werden. Sie besitzt keine allgemeine Verbindlichkeit im Sinne historischer Richtigkeit. Wenn sie hier trotzdem als ein nur privates persönliches Erlebnis geboten wird, so soll damit gezeigt werden, wie Zeichen lebendig werden können und wie Zeichen in meditativer Betrachtung uns manchmal in anschaulicher Weise dem Sinne der evangelischen Botschaft näher bringen können, als es der rationale Verstand vermag.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 70-71

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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