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Erneuerung des Luthertums in Frankreich
von Wolfgang Kretschmer

LeerGegenüber der Oekumene, d. h. der vor Christus stehenden Menschheit befindet sich der Protestantismus der ganzen Welt in einer besonders schwierigen Lage. Seine ursprünglich gemeinsamen Interessen im Kampfe gegen die römische Kirche und in der Bemühung um ein neues Bekenntnis schwanden nach Erreichung der inneren und äußeren Sicherheit der einzelnen Konfessionen, die sich ihren jeweiligen Volkskörpern anschlossen und eine ausschließlich nach innen gerichtete Aktivität entfalteten, um ihr Leben gemäß den neuen Erkenntnissen und entsprechend der jeweils angetroffenen äußeren Situation zu ordnen. Das immer stärker hervordringende Nationalbewußtsein der Neuzeit begünstigte und verschärfte diese Entwicklung in hohem Maße.

LeerIn Deutschland führte die Abhängigkeit der Konfessionen von kleinen, ja kleinsten politischen Einheiten stärker als anderswo zu einer tiefgehenden Zersplitterung, welche nicht einmal die Ausbildung eines nationalen Kirchenbewußtseins ermöglichte, geschweige denn einer Berührung mit ausländischen Kirchen günstig war. Das ehemals weiträumige Lebensgefühl der Christen schien restlos ausgelöscht, und es entstand die eigentlich beschämende Lage, daß das Land, welches die Reformation hervorgebracht hatte, nicht mehr Kraft und Sammlung fand, um wieder zur Einheit zu rufen.

LeerHeute ist uns von neuem die Aufgabe gestellt, „in Gebet, Wort und Tat alles zu tun, um den Frieden zwischen Ständen und Völkern zu fördern, Haß und Ungerechtigkeit in der Kraft der Liebe Christi zu überwinden” (Urkunde der Ev. Michaelsbruderschaft).

LeerIn Wort und Tat heißt es mit Recht, denn es ist eine alte Erfahrung des kirchlichen Lebens, daß echte Gemeinschaft nicht allein durch theologische Beratungen, sondern vor allem durch gemeinsames Handeln wächst. Hierzu gehört besonders das sakramentale und liturgische Leben, das ja ein Handeln im Herzen der Kirche selbst darstellt.

LeerAber zur Tat gehört auch die liebevolle Wendung zu fremdem Volkstum, ohne welche es keine ökumenische Gemeinschaft gibt. Wir dürfen das trotz der brennenden Aufgaben innerhalb unseres Volkes nicht vergessen. Ich kann die griechische Orthodoxie nicht verstehen, ohne das griechische und russische Volk zu kennen, entsprechend ist es mit den Konfessionen in Frankreich beschaffen, mit denen wir uns nun beschäftigen wollen.

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LeerTrotz der hohen geistigen Bedeutung Frankreichs haben in den letzten Jahrhunderten die nationalpolitischen Gegensätze immer mehr zugenommen gegenüber allem, was früher verband. Die Beziehungen innerhalb des Protestantismus beider Länder mußten besonders leiden. Während z. B. das Einvernehmen zwischen dem römischen Klerus hüben und drüben seit Kriegsende bereits ausgezeichnet ist, wissen die Protestanten praktisch nichts voneinander.

LeerDies ist um so bedauerlicher, als der französische Protestantismus ein sehr reges Leben an den Tag legt und in den letzten Jahrzehnten zu ganz ähnlichen Erkenntnissen gekommen ist, wie wir. Daß dies besonders im Rahmen des Luthertums geschah, verwundert uns nicht, um so weniger als dieses hauptsächlich im Elsaß verbreitet und damit der deutschen Mutterkonfession innerlich näher geblieben ist, als der Calvinismus. Es geht hier aber weniger um unsere Beziehungen zum Elsaß, die aus sprachlichen Gründen ohnehin gegeben sind, als vielmehr um unser Verhältnis zum französischen Christentum im engeren Sinne.

LeerUnd warum ist das so bedeutsam? - Die Verschlechterung der nationalen Beziehungen seit Napoleon und die gleichzeitig stärker werdende Verquickung des deutschen Protestantismus mit der nationalen Politik führte zu der bedauerlichen Lage, die wir heute noch vorfinden, daß nämlich die meisten Pfarrer und Gemeindeglieder der älteren Generation Frankreich gegenüber entweder ablehnend oder doch gleichgültig eingestellt sind, wie ich immer wieder feststelle. Wenn diese Haltung an sich unchristlich ist, so ist sie angesichts der gemeinsamen Bedrohung des christlichen Europas von heute geradezu verantwortungslos.

LeerSie hat allerdings im Bereich des Christentums noch einen besonderen Grund. Seit der Neuzeit gilt Frankreich infolge seiner Zuwendung zur Aufklärung mit ihrem Skeptizismus, infolge seiner traditionsfeindlichen großen Revolution und schließlich auch wegen seiner Neigung zu genußreicher Verfeinerung des Lebens überall in Europa als Beispiel eines unchristlichen Landes. Darüber wurde das echte geistliche Leben dort leicht vergessen. Es fußt auf einer sehr erhabenen Tradition. Erinnern wir uns, daß Frankreich im Mittelalter ein Musterland christlicher Kultur war. In der Theologie, im Kirchenbau und in der Kirchenmusik war es weithin führend, und man rühmte seine Treue zum Sakrament.

LeerDie echte religiöse Linie, sei es in der Klarheit und Durchdringungskraft des Denkens, sei es in tiefer mystischer Erkenntnis, hat sich trotz aller Anfechtungen der letzten Jahrhunderte bis heute erhalten. Sie ist in jüngster Zeit Ausgang echter kirchlicher Besinnung und heute nach dem Kriege eine Quelle geistiger Erneuerung für die ernstgesinnten Franzosen geworden. Ich möchte nur erwähnen den feinsinnigen Dichter Paul Claudel und den hervorragenden christlichen Denker Jacques Maritain. Daneben ist heute eine Reihe bedeutender Jesuiten und Dominikaner auf selbständigen theologischen Wegen am Werke, um ihrem leidenden Volke zur geistigen Sammlung und zu einer christlichen Sinngebung des Lebens zu helfen.

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LeerEin weiteres kommt hinzu: Von dem äußerst lebendigen Kreise orthodoxer russischer Denker, die seit der Revolution in Paris weilen, geht ein Strom tiefgründiger christlicher Geistigkeit aus, welche Katholiken wie Protestanten befruchtend zufließt. Letztere können bei ihrer kleinen Zahl natürlich eine solche geistige Fruchtbarkeit nicht aufweisen, wie die Schwesterkonfessionen, sondern stützen sich theologisch hauptsächlich auf die Schweiz und Deutschland. Nichtsdestoweniger ist das protestantische Leben mit Paris als Mittelpunkt sehr rege und aufgeschlossen.

LeerAll diese Gründe veranlaßten mich, durch Vermittlung eines reformierten französischen Geistlichen Verbindung mit dem Pariser Luthertum zu suchen. Meine Mühe lohnte sich. Einer der führenden Pfarrer, Pasteur Waltz, antwortete in großzügigster und brüderlichster Weife, und wir pflegen seither brieflich und literarisch Gedankenaustausch. Es ergab sich in großen Zügen folgendes Bild des französischen Luthertums: Schon im letzten Jahrhundert um die sechziger Jahre wurde von einzelnen Lutheranern die Besonderheit der Stellung des Luthertums zur großen kirchlichen Tradition gesehen.

Leer„Wir sind konservativ und haben nur den Wunsch, die Kirche fortzusetzen in allem, was sie besitzt an Heiligem und wahrhaft Katholischem”, schrieb Pasteur Kuhn, der theologisch von der Fleischwerdung Christi und seiner Gegenwart in der Kirche ausging. Er erkannte auch die dogmatische Bedeutung der Liturgie und wurde zum ersten Reformator des Gottesdienstes, in dessen Mittelpunkt er die Eucharistie stellen wollte. Seither gewannen die Reformbestrebungen an Boden und faßten sich schon vor dem ersten Weltkrieg in einer lose verbundenen Gruppe von Männern zusammen, die eine Zeitschrift herausgaben und gegen die Bedrohung durch Liberalismus, Individualismus, sowie durch Unionsneigungen kämpften.

LeerNach dem ersten Weltkriege scharten sich junge Geistliche um die Pastoren Wheatkroft, Waltz und Gueutal. Sie wollten die Lehre der Kirche mit dem Geist der Liturgie verbinden, da die „Lex orandi” gleichzeitig die „Lex credendi”, das Gebet der Kirche gleichzeitig gelebtes Dogma sei. Im Schoße dieser Gemeinschaft bildete sich die St.-Johannesbruderschaft, welche sich der Erneuerung von Theologie und Frömmigkeitsleben widmet. Sie betrachtet es nicht als Schande, sich allmonatlich mit katholischen Theologen zu fruchtbarem Gespräch zu treffen. Ihrem Einfluß ist es zu verdanken, daß jetzt in zahlreichen Pariser Gemeinden der Sonntags-Predigtgottesdienst im Rahmen der Ordnung der Vormesse gehalten wird, also vom Introitus bis zum Credo. In wöchentlichem bis monatlichem Abstand folgt dieser Ordnung die Abendmahlsliturgie. sie umfaßt -Offertorium, Gruß und Hochgebet (in wechselnder Form), Sanktus, Einsetzungsworte, Weihe der Gaben (eingeleitet durch die Epiklese und abgeschlossen durch ein Darbringungsgebet), Vater unser, Agnus Dei und Kommunio.

LeerAußerdem ist eine Morgen- und Abendgebetsordnung vorhanden, etwa Matutin und Vesper entsprechend, mit Psalm, Lesung, Gebet und Gesang. Ein Band ist erschienen, der die Ordnung der Messe und Tagzeiten enthält, ein weiterer bringt die Introiten, Kollekten-Gebete, Lesungen und Gradualpsalmen für das ganze Kirchenjahr, sowie für Apostel- und Märtyrertage, damit die Gläubigen dem Gottesdienst folgen können.

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LeerZwei lutherische Pfarrer schrieben kürzlich in einer Veröffentlichung folgendes:

Leer„Gegenüber den Ermutigungen, die wir immer wieder erhalten, selbst von Nicht-Lutheranern, die in unserer Kirche das finden, was sie anderswo vergeblich suchten, und angesichts der Erweckungen innerhalb der Jugend, können wir nur vorwärts schreiten: Psalmodie, liturgische Gewänder, Neuordnung des Kirchenraumes und zum Zwecke der Evangelisation notwendige Andachtsliturgien, das sind unsere nächsten Ziele. Durch fortschreitende Erziehung der Gläubigen möchten wir in die Menge all das eindringen lassen, was die Liturgie in sich birgt: Sinn für die Kirche, Wert der Sakramente und Verständnis der Heiligen Schrift. Durch zahlreiche Treffen mit Gliedern anderer Kirchen, besonders mit unseren griechisch-orthodoxen Brüdern, die uns so nahe sind, wollen wir arbeiten an der Verwirklichung dieser Una Sancta, welche uns die Liturgie von jetzt an zu leben gestattet.”

LeerAuch der französische Calvinismus hat neuerdings, wenn auch in geringerem Umfange, die Bedeutung des gottesdienstlichen, insbesondere des sakramentalen Lebens erkannt. Im letzten Jahre fand in Paris eine liturgische Konferenz statt, zu der Vorschläge der Gläubigen erbeten wurden. In Lausanne bringt der Pastor Paquier eine Zeitschrift „Liturgie und Kirche” heraus. Schließlich hat sich in Thezay bei Cluny unter der Leitung von Max Thurian eine Jungmännergemeinde gebildet, die eine liturgische und damit verbunden eine theologische Erneuerung erstrebt.

LeerIch glaube, wir können nur mit größter Achtung auf unsere Brüder in Paris schauen, die als Minorität innerhalb einer Minorität mit großer Kühnheit und Freimütigkeit ihre als wahr erkannten Ziele verfolgen und die Übermacht der anderen Konfessionen nicht nur nicht fürchten, sondern bereits in ein positives Verhältnis zu ihnen eingetreten sind.

LeerZugleich mag es uns eine Stärkung des Glaubens bedeuten, daß wir wissen, wie überall in der Welt dieselben Erkenntnisse geschenkt werden und ein Weg echter christlicher Gemeinschaft sich öffnet. Dem Luthertum aber fällt so die bedeutsame Aufgabe zu, seine nationale Isolierung zu überwinden und Kämpfer für eine wahre Einheit zu werden.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 85-88

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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