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Im Westen nichts Neues
von Hans Dombois

Randbemerkungen zur Diskussion um den § 218 STGB

LeerDurch Zeitungen und Zeitschriften, Landtage und Volksversammlungen geht eine Welle der Erörterungen über den Abtreibungsparagraphen. Von beiden Seiten, radikaler wie christlicher, werden die bekannten Beweisgründe ethischer, religiöser, sozialer und medizinischer Art ins Feld geführt. Viel Neues hat sich dabei nicht ergeben, und der Kampf ist nach dem beiderseitigen Kräfteeinsatz ziemlich ausgeglichen.

LeerNur eins muß man einmal am Rande fragen. Entspricht dieser geistige Kraftaufwand und dieses Pathos der wirklichen Dringlichkeit des Problems? Wir sind mißtrauisch geworden gegen Motive und Begründungen derartiger Aktionen und wollen nicht umsonst teures Lehrgeld auf diesem Gebiete gezahlt haben. Unzweifelhaft besteht ein großer Abstand der Dringlichkeit zwischen der materiellen Not der Millionenmassen Vertriebener, der Rechtsnot ungezählter, die jedes Vertrauen auf eine bürgerliche Gerechtigkeit verloren haben, und über die man nur allzuschnell zur Tagesordnung überzugehen bereit ist, und der Bedeutung, die man dem Abtreibungsproblem beimißt.

LeerDie wirkliche Bedeutung dieses Problems und seiner praktischen Ausmaße ins Blickfeld zu bekommen, ist nicht ganz leicht. Wir wissen zwar ungefähr, wie sich auf dem Gebiet der allgemeinen Kriminalität vom Mord bis zum Gelegenheitsdiebstahl materielle Not einerseits und politische Unordnung andererseits auswirken, wie weit sie den Grundbestand des Verbrechens erhöhen. Für die Abtreibung versagen ärztliche wie polizeiliche Statistik ziemlich weitgehend. Die Verurteilungsziffer hängt von der Intensität der Verfolgung ab, und kann zu Zeiten der Hochkonjunktur mit relativ günstigen Lebensbedingungen und Zukunftsaussichten der breiten Masse höher liegen als in Zeiten allgemeiner Not. Der relativ geringe Anteil der Ermittlungen ist sogar schon als, wenn auch kurzschlüssiger Grund für eine Beseitigung der Vorschrift verwertet worden.

LeerLieße sich indessen erweisen, daß die Abtreibung ein weit überwiegend grundständiges, krisenfestes Delikt ist, das von erkennbaren materiellen und sozialen Ursachen in seiner Ausdehnung ziemlich unabhängig ist, so wäre damit ein erhebliches Argument praktischer Art für die Diskussion gegeben. Denn wenn Millionen von Eltern Kinder unter den gleichen Bedingungen und mit den gleichen Opfern großziehen, die von anderen Hunderttausenden als untragbar zur Rechtfertigung der Abtreibung benutzt werden, so fällt die soziale Indikation im großen gesehen hin, und beschränkt sich auf Grenzfälle, die sich der gesetzlichen Regelung entziehen und in das Gebiet des Gnadenrechts zu verweisen sind. Hierüber aber dürften hinreichend zuverlässige Angaben fehlen.

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LeerDie Diskussion um den § 218 ist jedoch ebensosehr wie ein materielles Symptom der Not ein geistiges Symptom der Zeit. Wer kein allzu kurzes Gedächtnis hat und aus der Geschichte lernen will, statt sich von Ressentiments treiben zu lassen, erinnert sich daran, daß wir diese Diskussion schon einmal in den Jahren nach 1919 erlebt haben. Aber nicht sie allein. Mit tiefer Besorgnis sehen wir, daß die Problemstellungen, daß alles fast, was das öffentliche geistige Leben heute beherrscht, vom Zeitschriftenaufsatz bis zum letzten Theaterstück mit geradezu stupider Zwangsläufigkeit das gleiche Gesicht trägt wie in jenen Jahren und in derselben Linie weiterrollt. Es hat sich nichts geändert, nur alles verschärft, und der offizielle Antifaschismus hat von seinem Gegner Haß, Brutalität und parteipolitischen Machtmißbrauch gelernt. Die Folgen können keine anderen sein. Man bemüht sich mit Erfolg, durch sinnlose Maßnahmen die sinnlosen Thesen des Nationalsozialismus nachträglich zu rechtfertigen.

LeerDas Wort jenes jungen Hamburgers, das den Menschenfreund Viktor Gollancz so tief erschütterte: „Macht uns nicht zu Nazis” gilt auch für unsere gegenwärtigen Parteipolitiker, nicht nur für die Besatzungsmächte. Selbst in dem begrenzten Bereich ihrer Selbständigkeit vermögen sie Unheil für eine Generation an- zurichten. Die heutige deutsche Politik ist im tiefsten Grunde reaktionär, d. h. negativ aus dem Gegensatz heraus bestimmt, nicht konstruktiv und synthetisch. Wer nicht Vogelstraußpolitik treiben oder Katastrophenpolitiker werden will, muß seinen Standort jenseits der Reaktion von heute wie der von morgen suchen. Kluge Leute rechnen 15-20 Jahre für den Aufbau einer deutschen Demokratie. Genau nach diesem Zeitraum wird wiederum eine enttäuschte, unausgefüllte Jugend die Erziehungsprodukte des Systems, ihre eigenen geistigen Väter hinabreißen. Man braucht kein Prophet zu sein, um das vorherzusagen. Wenn das 4. Reich noch unzulänglicher wird als das 2., die Weimarer Republik, wie kann dann das 5. besser werden als das dritte? Ein gütiges Geschick bewahre uns davor in Gnaden. Wir haben keine Zeit zu einem Attentismus.

LeerNichts entbindet uns von der Pflicht des Jetzt und Hier, selbst nicht die völlige Hoffnungslosigkeit menschlicher Einsicht. Was wir heute nicht vermögen, werden wir niemals vermögen. Wir müssen die ganze Last als die unsrige auf uns nehmen; ein Christ kann zum Märtyrer werden, aber er kann nicht ausweichen. Aber wir müssen alle Kraft anstrengen, um aus dem Schaukelsystem der Reaktionen herauszukommen, das alle Voraussetzungen menschlichen Zusammenlebens zu zerstören droht. Wieviel Umstürze braucht ein Volk zu erleben, um entweder völlig irrsinnig oder von den Wahnvorstellungen des Umsturzes frei zu werden. Im Westen nichts Neues. Im Osten gibt es wohl etwas Neues, aber nichts Gutes. In einzelnen Ländern der Ostzone ist man dazu übergegangen, den § 218 überhaupt abzuschaffen. In der Westzone sind führend in der Kampagne gegen ihn die Kommunisten. Mit großem Pathos kämpfen ihre weiblichen Abgeordneten für das Freiheitsrecht der Frau und gegen das „Klassenprivileg” der Abtreibung.

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LeerDabei wird die an sich bekannte Tatsache ganz ausgeschaltet, daß die Gesetzgebung der Sowjetunion eine völlig andere ist. Sie hat bekanntlich von der völligen Freigabe bis zur scharfen Bestrafung der Abtreibung eine folgerichtige Entwicklung durchgemacht. Russische Frauen bestätigten während des Krieges unbefangen, daß die scharfen Strafen und die intensiven Ermittlungen des NKWD sie gehindert hätten, abzutreiben. Was erklärt diesen Widerspruch? Weil die westlichen Kommunisten im „Elende” leben, gewiß nicht schlechter als die russischen Arbeiter, im Gegenteil, aber im tieferen Wortsinne im Auslande, jenseits des gelobten Landes der Verwirklichung proletarischer Ideale, deswegen vertreten sie mit sittlichem Pathos als Ultraliberale die Freiheit der Frau, das Recht der Verfügung über ihre Leibesfrucht, die ja doch nur einem fremden und teuflischen System unterworfen sein wird.

LeerHingabe und Opfer des gegenwärtigen Lebens für das zukünftige und die Zukunft der Gesamtheit wird nur da gefordert, vollzogen und gegen das egoistische Ausbrechen des Einzelnen gesichert, wo eine transzendent-zukünftige Verheißung eines diesseitigen oder jenseitigen Heils den Menschen trägt und bindet. Das besitzt wohl das Christentum wie die Antireligionen des Marxismus und Faschismus, nicht aber die Glaubenslehren des liberum arbitrium, des freien Willens, die wieder im einzelnen Menschen enden. Sie verstricken sich deshalb unrettbar in ein Gewirr schwieriger ethischer Unterscheidungen, die der einfachen Forderung und Lebensbejahung des Glaubens weichen wie ein bloßer Nebel. Die Völker leben aus dem Glauben, aber nicht aus der Philosophie. Die Kirche hat es weithin versäumt. mit Schärfe zu sagen, daß es eine primäre Ethik nicht gibt, die unabhängig vom Glauben bestehen könnte, und hat sich mit dem Geheimratstitel einer ethischen Religion ihre bürgerliche Nützlichkeit bescheinigen lassen. Aber auch das 5. Gebot ist aus dem ersten Gebot alles Glaubens zu verstehen - Du sollst keine anderen Götter haben neben mir - vor allem nicht dich selbst.

LeerWeil man aber in der Gegenwart gar nichts anderes will, als daß der Mensch den Sinn in sich selbst finde, darum kann auch aus dem gegenwärtigen Zustand nie etwas anderes hervorgehen, was die Menschen und eine künftige Generation zu binden vermag - dieser Zustand ist völlig steril. Ein Volk von der religiösen Kraft und Tiefe des deutschen wird entweder christlich sein und aus der Erkenntnis des Glaubens, aus der gebundenen Freiheit des Christenmenschen auch seine staatliche Gemeinschaft erneuern oder seine Glaubensfähigkeit wird wiederum von einer diesseitigen Heilslehre bis zur Zerstörung mißbraucht werden. Ein drittes gibt es nicht. Ein Volk, das Luther hervorgebracht hat, kann, ob evangelisch, katholisch oder freigeistig, niemals wieder zur Selbsttäuschung einer autonomen Moral oder gesetzlichen Ethik zurückgebracht werden. Diese Freiheit kann uns niemand mehr nehmen. Die elende Weltansicht des Eudämonismus, die das Recht des Menschen auf Glück verbürgen will, haben wir von jeher von uns gewiesen.

LeerIm Westen nichts Neues. Der in Gott beschlossene Sinn des menschlichen Lebens ist ewig. Ändert  E u r e n  Sinn.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 89-91

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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