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Das Evangelium des Paulus
von Karl Bernhard Ritter

LeerMit einem Nachdruck, der sich nicht mehr überbieten läßt, und so eindeutig und unmißverständlich, daß eine ausweichende Erklärung und Deutung seiner Worte unmöglich wird, stellt Paulus fest: Ich habe das Evangelium, das ich predige, nicht von Menschen empfangen, also auch nicht von den anderen Aposteln, den Zeugen des Erdenlebens Jesu, auch nicht durch ihre Vermittlung, sondern unmittelbar durch die Offenbarung Jesu Christi. „Siehe, Gott weiß, ich lüge nicht!”(1) Man hat diese erstaunliche Feststellung, so will mir scheinen, in der Christenheit bisher noch gar nicht in ihrer großen Tragweite und Bedeutung verstanden und gewürdigt.

LeerDenn sonst müßte man sich doch in ganz anderer Weise darüber seine Gedanken machen und diese höchst merkwürdige, höchst aufschlußreiche Tatsache in sein Bewußtsein aufnehmen, daß die Predigt des Völkerapostels, des eigentlichen Trägers der Gemeinde- und Kirchengründenden Verkündigung, auf einer unmittelbaren, übersinnlichen Erfahrung mit dem erhöhten Christus beruht. Der Apostel Paulus ist offenbar der erste Mensch, der mit der Wiederkunst Christi, mit seinem zweiten neuen Kommen in die Menschheit „aus den Wolken des Himmels” eine entscheidende Erfahrung gemacht hat. Und seine ganze Predigt, sein ganzes Denken, Glauben und Lehren ist denn auch von dieser Erfahrung geformt und getragen.

LeerDas heißt zum ersten: Christus ist für den Apostel Paulus die lebendige und gegenwärtige, die Menschenwelt ergreifende und in sie eindringende Macht und Wahrheit Gottes. Er hat erfahren, daß diese Wahrheit sich übermächtig und gegen jeden Widerstand geltend macht, daß sie uns gänzlich zu überwältigen vermag. Des zum Zeichen trägt der Apostel die Wundmale des Herrn Jesu an seinem Leibe.(2) So übermächtig, Leib, Seele und Geist ergreifend und durchdringend hat sich ihm das Bild des auferstandenen Gekreuzigten eingeprägt, den er deshalb auch seinen Gemeinden vor die Augen malt, als wäre er unter ihnen gekreuzigt.(3)

LeerEs heißt zum anderen: Paulus hat in Christus den Gott erkannt, der Mensch geworden ist. Und diese Bewegung Gottes zum Menschen hin, in den Menschen hinein, hat nicht etwa mit der Auferstehung und Himmelfahrt Christi als in einer rückläufigen Bewegung ihren Abschluß und ihr Ende gesunden. Im Gegenteil, von nun an steht die Geschichte des menschlichen Geschlechts gänzlich unter dem Zeichen der Menschwerdung Gottes. Der Apostel beschreibt sein Damaskuserlebnis mit den Worten: „Es hat Gott Wohlgefallen, seinen Sohn in mir zu offenbaren”.(4)

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LeerWie auch immer die visionären Begleiterscheinungen der Damaskusstunde gewesen sein mögen, in denen die entscheidende, sein ganzes Leben fortan bestimmende Erleuchtung über ihn kam,(5) sie sind doch nur Ausdruck und Bestätigung dafür, daß Christus in ihm, in seiner Seele Raum gewonnen und Wohnung gemacht hat. Fortan wird Paulus erfahren und immer tiefer erkennen und verstehen lernen, daß Christus sein eigenes, innerstes Leben, die ihn bewegende Kraft, der ihn bewegende Geist geworden ist. „Ich lebe aber” so muß er darum bekennen, „doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir”.(6)

LeerSeit Damaskus gehört Paulus nicht mehr sich selbst. Von Stund an ist er Diener und Zeuge dessen, „das er gesehen hat und was ihm fernerhin erscheinen wird.”(7)

LeerAber dies ist nun zum Dritten die entscheidende Tiefe der Erfahrung, die dem Apostel vor Damaskus zuteil wurde: Darin, daß er sich selbst nicht mehr gehört, daß Christus Herr über ihn geworden ist, gerade darin erlebt er die wunderbare, ihn beseligende Befreiung seines Lebens. Christus ist keine fremde, ihn von außen her bezwingende Macht, er ist keine Naturgewalt, kein Götze, kein Dämon. Sein Wille wird ihm nicht wie ein fremdes Gesetz auferlegt. Denn Christus ist nichts anderes als die Offenbarung des Gottes, in dem wir „leben, weben und sind”.

LeerDie Tiefe unseres menschlichen Seins ist, daß wir zum Ebenbild dieses Gottes geschaffen sind. Wir sind „seines Geschlechts”.(8) Christus ist die Offenbarung des Gottes, der ewiger Grund und wahres Ziel alles menschlichen Lebens ist. Nur darum kann Paulus die Begegnung mit Christus als ein Ereignis erfahren, das sich in ihm vollzieht, das ihn von innen her durchleuchtet, ihm sein Menschsein verklärt. Von nun an denkt Paulus völlig neu nicht nur über Gott, sondern auch über den Menschen.

LeerDer Mensch, der sich von Gott abwendet, verliert sein Leben und seine Freiheit, er überantwortet sich selbst dem Tode. Er will sein eigner Herr sein und überliefert sich doch nur den dunklen Mächten und Gewalten des Triebs. Je mehr er sich über die Natur erhaben dünkt und sich eine Welt zurecht denkt, die er mit seinem Intellekt restlos zu durchschauen und seinem Willen zu unterwerfen meint, umso mächtiger werden die Dämonen, die unter der Schwelle seines Bewußtseins auf ihre Stunde lauern.

LeerWir haben das zu unserer Erschütterung in dem grausigen Zusammenbruch des selbstherrlichen Menschentums unserer Tage erlebt. Wir haben zugleich erfahren, wie wahr die Erkenntnis des Apostels ist, daß aus dieser unterirdischen Gefangenschaft des Menschen aus diesem seinem Verfallensein an die Todesmächte, an die Dämonen des Triebes, das Gesetz nicht herausreißen kann.

LeerEs hat keine Kraft, diese Ketten zu brechen. Es kann nur sichtbar machen, wie es um den Menschen steht. So ist es wie ein Joch auf der Schulter des Menschen, der ihm in seinem Gewissen zustimmen und doch zugleich mit dem Apostel bekennen muß: „Das Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen des Guten finde ich nicht”.(9) „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?” (10)

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LeerChristus aber, das ist das jubelnde, hinreißende Bekenntnis des Paulus, erlöst uns von dem „Fluch des Gesetzes” und macht uns frei von den verderblichen Mächten der Tiefe. Kommt doch in ihm der lebendige und darum Leben schaffende Gott selbst, der allezeit gegenwärtige und wirkende Gott, zu uns. Dies und nichts anderes ist also das Geheimnis unserer Freiheit, daß „Christus in uns und wir in Christus” sind. So feiert denn Paulus in Christus vor allem anderen und immer aufs neue den Befreier des Menschen, den, der ihn vom Gesetz und von der Herrschaft der „Fürstentümer und Gewalten” frei macht.(11)

LeerZum vierten: Diese Erfahrung, daß Christus ein völlig neues Leben in seiner, des Paulus Seele, erweckt hat, beschränkt sich nicht auf ihn, Paulus, allein. Es handelt sich nicht um eine einmalige und unwiederholbare Erfahrung, die er gemacht hat. Vielmehr ist Paulus davon durchdrungen, daß jeder, der sich im Glauben dem eindringenden, dem kommenden Herrn erschließt, ebenso wie er von Christus ergriffen, regiert und befreit wird. „Ihr seid alle Söhne Gottes durch den Glauben in Christo Jesu”, so kann er den Galatern zurufen, „denn wieviele von euch in den Christus hinein getauft sind, die haben Christum angezogen”.(12) Sie alle aber, die so von dem Leben des Christus ergriffen, durchdrungen und erfüllt sind, sind dadurch ein gemeinsames Leben. Sie gehören zusammen als die Glieder eines Leibes: „Ihr seid allzumal einer in Christo Jesu”, jenseits aller individuellen, völkischen, sozialen Unterschiede und Gegensätze.(13)

LeerZum fünften: Der geheimnisvolle Vorgang der Einung, der gegenseitigen Durchdringung, der sich in Christus vollzieht, den zu begreifen aber alle unsere dem irdischen Bewußtsein gewohnten und angemessenen Denkformen und Vorstellungen nicht ausreichen, wird von Paulus so beschrieben, daß der Weg Christi zum gestaltenden Gesetz, zur Lebensform des Paulus und aller Christen geworden ist. Wenn Christus zur Mitte, zum lebendigen Kern des Menschenwesens wird, so hat das zur unausweichlichen Folge, daß der also Ergriffene und Christus Einverleibte auch in das Christusschicksal hineingezogen wird. An Christus Anteil gewinnen heißt darum, mit Christus gekreuzigt werden und mit ihm auferstehen. „So wir aber samt Christus gepflanzt werden zu gleichem Tode, so werden wir auch seiner Auserstehung gleich sein - haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid und lebet Gott in Christo Jesu, unserm Herrn.”(14)

LeerDas öffentliche Gespräch unserer Tage kreist mit wachsender Leidenschaft - wen kann das wundern?! - um die Frage des rechten Menschenbildes, um die Frage der Rettung des Menschen im Menschen. Man kann - endlich, fünf Minuten vor der endgültigen Katastrophe! - nicht mehr umhin, einzusehen, daß wir in unserem hemmungslosen Bemühen, uns der Welt zu bemächtigen, sie uns dienstbar zu machen, uns selbst, den Menschen verloren haben. Wir haben die phantastischsten Maschinen gebaut und dabei die Seelen der Völker gemordet.

LeerNun ist der optimistische Fortschrittsglaube der Väter durch einen abgründigen Pessimismus, durch ein tiefes Erschrecken über die Dämonen, denen der Mensch verfallen ist, abgelöst worden. In dieser Stunde sollte die Menschheit wohl bereit sein, ganz neu und wie zum erstenmal das Evangelium des Paulus zu hören, dies Evangelium, das einen rücksichtslosen, unerbittlichen Einblick in die tödliche Gefährdung des Menschengeschlechts mit dem kühnsten Glauben an den Menschen und an die unerhörten, die göttlichen Möglichkeiten verbindet, die dem Menschen vorbehalten sind.

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LeerPaulus wagt es, von einem Glauben an den Menschen Zeugnis abzulegen, wie er größer nicht gedacht werden kann, an den Menschen nicht, wie er ist, sondern wie er im Lebens-- und Freiheitsraum Christi werden kann. Paulus verkündet einem Geschlecht den Weg in die Freiheit, das bis zur Verzweiflung erschüttert ist über die Gefangenschaft, die elende Ohnmacht und Gebundenheit des menschlichen Wirkens und Strebens, das geneigt ist, den Menschen als dasjenige Geschöpf anzusehen, das seinem Schöpfer gänzlich mißlungen ist.

LeerDas Denken über den Menschen und der Mensch selbst können nur gesunden, wenn wir von Paulus lernen, daß der Mensch sich nur dann recht erkennen wird, wenn er sich „in Gott” erkennt, d. h. aber, wenn er sich dem auftut, in dem das Urbild des Menschen, das Ebenbild Gottes, erschienen ist. Christus ist auch heute im Kommen. Ja, wir glauben zu erkennen, daß seine Zukunft hier und da in ganz neuer Weise in einem hellen, durchdringenden Lichte aufscheint in unseren Tagen. Es sind viele suchende Seelen auf dem Wege. Es werden Erlebnisse gemacht, die an das große helle Licht erinnern, das den Paulus vor Damaskus umleuchtete. Worte und Zeichen fangen an zu reden, die nur allzulange verstummt waren. Alte Wände brechen ein, die sich unser Geschlecht gegen den Ausblick auf die lebendige Wahrheit errichtet hatte. Ist die Stunde für ein Damaskus des abendländischen Menschen gekommen?

Anmerkungen:

  1 Gal. 1, 11-20.
  2 Gal. 6, 17
  3 Gal. 1, 13.
  4 Gal. 1, 15-16.
  5 Apg. 26, 13 ff.
  6 Gal. 2, 20.
  7 Apg. 26, 16.
  8 Apg. 17, 28.
  9 Röm 7, 18.
10 Röm. 7, 24.
11 Kol. 2, 15; Gal. 4, 5.
12 Gal. 3, 26-27.
13 Gal. 3, 28.
14 Röm. 6, 5. 11.

Evangelische Jahresbriefe 1948, S. 124-128

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-05-02
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