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Die Übung der Meditation bei Luther
von Günter Jacob

LeerDie Geschichte der Lutherforschung ist einer Galerie von Lutherbildern vergleichbar. Die Mannigfaltigkeit dieser Lutherbilder ist zugleich ein Spiegel, in dem sich das geistesgeschichtliche Profil des jeweiligen Zeitalters enthüllt. Jedes Zeitalter hat aus dem überkommenen Anschauungsmaterial und aus der weitgeschichteten Traditionsmasse von Luthers Schrifttum das Lutherporträt entworfen, das in den Grenzen seiner seelischen Erfahrungen möglich erschien. So begegnen uns in dieser Galerie die verschiedensten Lutherbilder. Dem vordergründigen Bewußtsein einer durchschnittlichen evangelischen Frömmigkeit hat sich indessen über die Zeitalter hinweg ein Lutherbild eingeprägt, in dem Leben und Werk Luthers in zwei Brennpunkten verdichtet erscheinen. Die  S t u n d e  v o n  W o r m s , in der in Wahrheit ein abgründig scheuer und in sich gekehrter Mensch aus der tiefen Verschwiegenheit eines mit seelischen Kämpfen erfüllten Jahrzehnts unter der Gewalt seines Auftrags in die Mitte der Weltpolitik geschleudert wird, ist zur theatralischen Szene erstarrt, in der die Lutherdenkmäler des 19. Jahrhunderts das Lutherbild zu einer heroischen Kolossalstatue verfälschen.

LeerDaneben lebt in der Überlieferung schon seit den Gemälden von Cranach und seit den Aufzeichnungen so herzlich unbedeutender Epigonen wie Mathesius ein anderes Bild, das den den Reformator im Kreise seiner Familie, Freunde und Schüler zeichnet, wie er in einer breiten und behäbigen Fröhlichkeit in die Erscheinung tritt. Alle dunklen Schatten dämonischer Anfechtung sind auf diesem Bilde ausgeräumt, und alle ekstatischen Erfahrungen eines von der Christusbegegnung überwältigten Menschen sind hier nivelliert. Auf diesem Bilde ist nichts mehr davon zu spüren, daß Luther immer wieder unter dem Einbruch der  S c h w e r m u t  bis an den Rand des Wahnsinns geworfen wurde, und nichts läßt mehr die  I n b r u n s t  dessen ahnen, der auf dem Hintergrunde solcher Anfechtungen im Umgang mit der heiligen Gotteswahrheit in Gebet und Meditation zu den Gipfeln eines überschwenglichen Lebens befreit worden ist! Für das landläufige evangelische Verständnis repräsentieren diese beiden Bilder die entscheidenden Entwicklungsstadien im Leben und Werk Luthers. Sie zeichnen den genialen Heros der Frühzeit als den mönchisch-hageren, stürmerischen Feuerkopf des reformatorischen Aufbruchs und den Kirchenmann der späteren Jahre als den behäbig-gemütvollen Lehrer der Kirche aus der Zeit, in der sich das evangelische Kirchentum in dem winkligen Ackerbürgerstädtchen Wittenberg auf breitester Grundlage verfestigt hat.

LeerDieses auf das Fassungsvermögen des durchschnittlichen Menschen abgestimmte Lutherbild ist durch die Lutherforschung vor allem in den letzten drei Jahrzehnten vollständig zerbrochen worden. Die Grenzen früherer Betrachtungen wurden nicht zuletzt durch die seelischen Erfahrungen gesprengt, in die wir durch die Katastrophen der Zeitgeschichte gestürzt worden sind.

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LeerEs ist heute nicht mehr möglich, die Intensität der Teufelsbegegnungen bei Luther als Ausdruck einer primitiven, mittelalterlichen Volksfrömmigkeit zu bagatellisieren. Es darf heute nicht übersehen werden, daß zwischen Luther und uns die Mauern des Rationalismus aufgerichtet sind. Luther darf nicht mehr unter der Vorherrschaft rationalistischer Perspektiven aus seiner ganz ursprünglichen Verflechtung mit der Welt mittelalterlicher Frömmigkeit gelöst werden, die doch der eigentliche Humusboden für sein Wachstum gewesen ist. Wir sind nicht mehr der blasierten Meinung, als sei diese Welt mittelalterlicher Frömmigkeit mit ihrer bildhaften Darstellung der Mächte des Lichtes und der Gewalten des Abgrunds, mit der Masse ihrer Holzschnitte, die 50 Jahre vor dem Gutenbergschen Bibeldruck die Hilfsmittel für die Erweckung frommer Betrachtungen beim einfachen Manne gewesen sind, und mit dem Spiel der Totentänze eine muffige Rumpelkammer, in die erst das helle Licht der Aufklärung habe gründlich hineinleuchten müssen!

LeerWeil wir es in den Katastrophen dieser Jahrzehnte wieder begriffen haben, daß der Mensch nicht jene in sich ruhende, harmonisch geformte Persönlichkeit ist, sondern Kampfplatz metaphysischer Mächte, umlagert von den heiligen Mächten und zugleich von den Geistern des Abgrunds angefallen, ist für uns Heutige wieder ein Zugang zum  m i t t e l a l t e r l i c h e n  Menschenverständnis freigelegt. Das Menschenbild aus den Andachtsbildern des 15. Jahrhunderts ist tatsächlich das Bild, das Luther von Kindheit auf geprägt hat. Friedrich Gerke hat diese Zusammenhänge am Beispiel der mittelalterlichen Holzschnitte von der Ars mirendi nachgewiesen. Nur ein verstiegener Intellektualismus kann solche elementaren Verwurzelungen im mütterlichen Boden religiöser Überlieferung gering achten.

LeerIn bedeutsamen Untersuchungen dieser Jahre (Harmannus Odendiek, Hanns Lilje) sind die Anfechtungen Luthers auf dem Boden ureigener Erfahrung als Angefallen-Werden des Menschen von den Mächten Gesetz, Sünde, Tod, Satan beschrieben worden. Diese  A n f e c h t u n g e n  werden in dem weiten Schrifttum Luthers von den Kommentaren der Frühzeit bis in die wuchernde Welt der Tischreden in prägnanten Bildern und lapidaren Formeln geschildert. Diese Anfechtungen, die bis in die dunklen Zonen einer religiösen Schwermut (tristitia) , den Urboden der elementaren Verzweiflung aufdecken (desperativ als Grundverfassung des natürlichen Menschen, die den Ausbruch jeweiliger Verzweiflungsstimmungen erst ermöglicht), und alle Normalität im Klima der durchschnittlichen Existenz zerbrechen, bilden den  H i n t e r g r u n d , auf dem die Begnadung in dem Überwältigtwerden von dem Christus pro nobis auf dem Boden von Gebet und Meditation in ihrem ekstatischen Charakter verstanden werden kann.

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LeerDas klassische Zeugnis im Schrifttum Luthers ist hier seine Auslegung des Propheten Jona (WA XIX), in der die Abgründigkeit der Anfechtungen und im Kontrast dazu die Gewalt der Begnadung am Bilde jenes Jona beschrieben wird, dessen Seele „am seidenen Faden über der Hölle und ewigen Verdammnis gehangen hat”. Wird dieser Hintergrund abgeblendet, wird z. B. die hilaritas im Verständnis Luthers außerhalb ihrer kontrapunktischen Beziehung zu der tristitita gesichtet, so wird alles so gemütvoll, hausbacken und fade, daß das landläufige Lutherbild als eine Komposition aus heroischem Pathos und massiver Behäbigkeit sich aufdrängen muß. So müssen wir alle Versuche verwerfen, durch beschwichtigende Formeln die tiefe Dynamik zu kaschieren, von der Gebet und Meditation, Versenkung in die Heilige Schrift und tägliche Gestaltung des frommen Lebens, der Gang zur Einzelbeichte und der Gebrauch heiliger Zeichen und Gebärden (signum crucis, das Knien) bei Luther erfüllt sind.

LeerEs bedarf noch einer Vorbemerkung, um die  S p r a c h e  Luthers wirklich verstehen zu können. Wir müssen hier an die Entdeckung der Bildschicht anknüpfen, wie sie im Anschluß an die Arbeiten heutiger Tiefenpsychologie in der Schule von C. G. Jung vor allem von Happich gemacht worden ist. Von diesen Entdeckungen fällt auf die Frage nach der Meditation bei Luther ein neues Licht. Die Forschungen von Jung und Happich, die Karl Bernhard Ritter in seiner Studie „Über die Meditation als Mittel der Menschenbildung” (Kassel 1947) referiert hat, dürfen als bekannt vorausgesetzt werden. Nach ihnen ist die  B i l d s c h i c h t  eine sehr alte Schicht im Menschen, aus der die Märchen, die Mythen und die Träume der Völker aufsteigen, und in der noch heute die Kinder und die echten Dichter leben.

LeerErst die Alleinherrschaft des reflektierenden Bewußtseins hat in der jüngsten Entwicklung in der Geschichte des Menschengeistes zu einer Einengung und Abdrängung dieser Bildzone geführt. Gestalt und Werk Luthers, die noch im Humusboden mittelalterlicher Frömmigkeit gänzlich verwurzelt sind, können nur vor dem Beginn des Prozesses der Verwissenschaftlichung des Geistes und der Vergitterung aller Bilder hinter den Gittern der Ratio (Leopold Ziegler) gesichtet und gedeutet werden. Luther ist als mittelalterlicher Mensch noch völlig in der Bildschicht verwurzelt. Nur von hier aus kann dann auch begriffen werden, in welcher  I n t e n s i t ä t  Luther die Meditation als Einsenkung der Wahrheit in Gestalt von Bildern in das Bildbewußtsein als in die Mitte und Tiefe der Existenz geübt hat. Um diese verborgene Mitte der Existenz hat auch die Mystik mit ihrer Lehre vom „Seelengrunde” gewußt. Das vor allem im „Magnifikat” am Tage liegende mystische Erbe bei Luther hat hier seine Wurzeln.

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LeerEs ist natürlich immer wieder bemerkt worden, daß Luthers  S t i l  von einer plastischen Kraft der bildhaften Darstellung erfüllt und gesättigt ist. Man hat hier oft eine originale Kunst volkstümlicher Darstellung und eine grandiose, durch pädagogische Motive bedingte Technik des Stils bewundern wollen. So wurde Luther zum theologischen Poeten und zum genialen Schulmeister gemacht und die elementare Kraft seiner Sprachgestaltung aus der Abkunft von gänzlich unverbrauchten bäuerlichen Volksschichten erklärt. Wir bedenken die Tatsache, daß Luther in seinen Predigten und Kommentaren niemals mit einer abstrakten theologischen Begriffsklaviatur umgeht, sondern immer in Bildern lebt und im lebendigen Gespräch mit den Exempeln der Bibel steht, z. B. mit den Prototypen einer desperatio diabolica wie Cain, Saul und Judas. Die entscheidenden theologischen Vokabeln wie Gesetz, Sünde, Tod, Teufel begegnen nicht als abstrakte Markierungen innerhalb eines systematischen Gedankengebäudes, sondern in personaler Verdichtung als lebendige Mächte. Unter Gesetz versteht Luther die lebendige Stimme einer lebendigen Macht, die den Angesprochenen im leibhaftigen und buchstäblich atemverschlagenden Gegenüber anruft. Der Tod ist nicht rationale Chiffre für eine metaphysische Grenzsituation, sondern lebendige  P e r s o n  in engster Nachbarschaft zu der Welt der mittelalterlichen Darstellungen vom Tode.

LeerIn lapidarer Monotonie beschreibt Luther immer wieder, wie der Tod als Person dem Angefochtenen unter die Augen tritt und ihn zu einem letzten Kampfe fordert, der in seiner dramatischen Plastik und in seinem handgreiflichen Ablauf von Luther in farbigen Bildern skizziert wird. Der Satan erscheint in Luthers Schrifttum nicht als ein volkstümlich gemaltes Symbol und pädagogisch wirksames Gleichnis zur Veranschaulichung dämonischer Mächte, sondern auch als Person, von der man auf jene unheimliche Weise buchstäblich angefallen wird, die Luther in der bekannten Schilderung einer solchen Stunde mitternächtlicher Anfechtung in der Schrift „Von Winkelmesse und Pfaffenweihe” (nachzulesen in der Clemen-Ausgabe Bd. IV S. 242) beschrieben hat. So geht Luther nicht mit abstrakten Begriffen, sondern mit personalen Mächten um, er doziert nicht grundsätzliche Wahrheiten, sondern er zeichnet biblische Gestalten nach. Es handelt sich hier nicht um eine Originalität des Stils und um eine bloße Plastik der Sprachgestaltung, sondern um eine  S i c h t , die, für den mittelalterlichen Menschen Luther selbstverständlich, für uns im Zeichen einer Alleinherrschaft der rationalen Begrifflichkeit sehr fern gerückt ist.

LeerDer Sachverhalt wird jedoch von den neuen tiefenpsychologischen Entdeckungen der Bildschicht her in ein ganz neues Licht gestellt. Die Wahrheiten werden bei Luther als Bilder eingeprägt (in jenem ursprünglichen Sinne des Wortes, der die handwerklichen Funktionen des Vorganges noch nicht verdeckt hat) und als Bilder tief in die Bildschicht als die eigentliche  M i t t e  des Menschen (von Luther als cor oder conscientia umschrieben) eingesenkt. Alle Erkenntnisse aus der Heiligen Schrift verdichten sich für ihn zu Bildern, die „vor Augen gemalt” und im Herzen „ein-gebildet” (auch hier ist auf den ursprünglichen Wortsinn zu achten!) werden sollen. Immer wieder spricht Luther in der Breite seines Schrifttums und durchaus nicht nur in den Sermonen der Frühzeit, die noch ganz in der meditativen Praxis der mittelalterlichen Volksfrömmigkeit verwurzelt sind, von den  B i l d e r n  und fordert die meditative Aneignung der Bildwahrheiten als das Vor-Augen-malen und das Ein-bilden dieser Bilder in die Tiefe des eigenen Herzens. Wir haben nur nach unserer Gewohnheit, von unseren verblaßten und abgemagerten heutigen Denkkategorien auszugehen, diese Formulierungen als bloße Vergleiche genommen!

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LeerIn Wahrheit kommt in dieser eigenwilligen und durchgängigen Terminologie, die gar nicht verwischt werden kann, die Tatsache an den Tag, daß Luther noch gänzlich in der Bildschicht lebt. Erst von hier aus aber kann auch deutlich werden, in welcher Tiefe und Reinheit Luther noch die Meditation als die Betrachtung der Wahrheiten in der Bildschicht hat üben können. Wir müssen hier darauf verzichten, diese Thesen durch die Fülle des zur Verfügung stehenden Belegmaterials zu erhärten. Um diese Zusammenhänge in den Blick zu bekommen, genügt es, Stellen aus „Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben” 1519 in der Clemen-Ausgabe Bd. I, etwa S. 163 und 165 oder Stellen aus Predigten nachzulesen, die hier als Beispiele aus der Ausgabe von Friedrich Gogarten (Martin Luther, Predigten, Jena 1927) im Sinne eines Hinweises für eigne Lektüre angemerkt seien: S. 32 Absatz 1, S. 305 Abs. 2, S. 446, Abs. 2, S. 457 Abs. 1 und 2, S. 458 Abs. 2 und 3, S. 462, Abs. 2.

LeerZwei Szenen beleuchten die Fähigkeit Luthers zu gesammelter  M e d i t a t i o n . Der Blick aus dem Fenster der Koburg in den dramatisch so bewegten, von kirchenpolitischen Hochspannungen erfüllten Tagen des Jahres 1530 während des Reichstages in Augsburg löst in Luther eine meditative Betrachtung über den Schöpfer des nächtlichen Sternengewölbes als den Erhalter des Weltalls aus, wie er es in seinem Brief an den Kanzler Bruck vom 5.8.1530 bezeugt (zitiert nach Clemen VI S. 354): „Ich habe neulich zwei Wunder gesehen: das erste, da ich zum Fenster hinaus sahe die Sterne am Himmel und das ganze schöne Gewelb Gottes, und sahe doch nirgends keine Pfeiler, darauf der Meister sein Gewelb gesetzt hatte; noch fiel der Himmel nicht ein, und stehet auch solch Gewelb noch fest. Nu sind etliche, die suchen solche Pfeiler und wollten sie gern greifen und fühlen. Weil sie denn das nicht vermögen, zappeln und zittern sie, als werde der Himmel gewißlich einfallen, aus keiner anderen Ursachen, denn daß sie die Pfeiler nicht greifen noch sehen ...”

LeerDiese Szene erinnert an jene andere Szene auf der Wartburg, wo Luther aus dem Fenster der engen Burgstube auf das dunkle Meer von Baumwipfeln schaut, das die Thüringer Berge vor ihm ausbreiteten, und ringsum die bläulichen Rauchsäulen der Kohlenmeiler aufsteigen sah. Auch hier wird durch diesen Anblick eine intensive meditative Schau ausgelöst (Zitat nach Gerhard Ritter „Luther”, München 1925, S. 90): „Der Rauch gehet über sich, macht sich eigenwillig in der Luft, tut, als wolle er die Sonne verblenden und den Himmel stürmen. Was ist's aber? Kommt ein kleines Windlein, so verweht sich und verschwindet der breitprächtige Rauch, daß niemand weiß, wo er geblieben. Also alle Feinde der Wahrheit haben's groß im Sinne, tun greulich, zuletzt sind sie wie der Rauch wider den Himmel, der auch in ihn selb ohne Wind verschwindet.”

LeerDie Kraft solcher meditativen Betrachtung wird an einer Fülle von Bekenntnissen deutlich, die das gesamte Schrifttum Luthers von der ersten Vater-Unser-Auslegung im Jahre 1518 bis zu den letzten Zeilen aus seiner Hand, dem Zettel vom 16. Februar 1546 durchziehen. Es sind Bekenntnisse, in denen Luther aus eigener Erfahrung wieder und wieder die Notwendigkeit der intensivsten Meditation beschreibt und sich gegen jene „Flattergeister” (ein von Luther häufig angeführtes Bild aus dem Psalm 119) leidenschaftlich abgrenzt, die sich der Heiligen Schrift im Stadium einer bodenlosen Zerstreuung bemächtigen. Diese Bekenntnisse, die wir zu Bergen auftürmen könnten, sind ein eindringliches Zeugnis für die Intensität der Meditation.

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LeerHier müssen wir heute Luther wieder als jenen Lehrer der Kirche entdecken, der uns, den in die Bodenlosigkeit der Zerstreuung Abgestürzten und von und von aller echten Meditation Abgetriebenen, wieder diese Kunst der Meditation deutlich machen kann. Das Wesen der Meditation wird von ihm in wunderbarer Klarheit in einer Predigt zum Weihnachtsevangelium beschrieben (Zitat nach Gogarten, a.a.O. S. 252): „Das Evangelium ist so klar, daß nicht viel Auslegens bedarf, sondern es will nur wohl betrachtet, angesehen und tief zu Herzen genommen sein. Und wird niemand mehr Nutzen davon bringen, denn die ihr Herz stille halten, alle Dinge ausschlahen und mit Fleiß drein sehen. Gleichwie die Sonne in einem stillen Wasser gar eben sich sehen läßt und kräftig wärmet, die im rauschenden und laufenden Wasser nicht also gesehen werden mag, auch nicht also wärmen kann.”

LeerEs ist hier nicht der Ort, um die Selbstzeugnisse Luthers aus Kommentaren, Predigten, Briefen und Tischreden zu zitieren, in denen er immer wieder von seiner meditativen Praxis und von seinen meditativen Erfahrungen in einer eindringlichen Weise spricht. Die eindrucksvollen Zeugnisse über sein  t ä g l i c h e s  Leben in der Meditation sind oft abgedruckt worden. Ihr sachlicher Gehalt ist von einer großartigen Eindeutigkeit. In diesen Zeugnissen begegnet uns der  B e t e r  Luther, der sich täglich trotz seiner ungeheuren Arbeitsbelastung mehrere Stunden zu Gebet und Meditation ausgespart hat. Diese Stunden hat er nach seinen vielfachen Berichten in einer festen, geistlichen Ordnung gestaltet. Wir begegnen immer wieder seinem demütigen Bekenntnis, daß er sich in Meditation und Gebet keiner Meisterschaft rühmen kann und sein Leben lang sich als ABC-Schütze und als Schüler des Katechismus betrachten muß. Wir begegnen so oft seiner seelsorgerlichen Mahnung, die Heilige Schrift in innerster Sammlung täglich zu betrachten und das Wort zu „treiben, käuen und bläuen”. Ein besonders eindringliches Dokument für die praktische Übung der Meditation ist seine kleine Schrift „Eine einfältige Weise zu beten für einen guten Freund” 1535, die er für seinen Wittenberger Barbier geschrieben hat. Hier wird eine praktische Anweisung zur Meditation des Vaterunser nach ganz bestimmten Regeln gegeben.

LeerMan findet diese herrliche Schrift Luthers außer in der Weimarer Ausgabe (WA XXXVIII) auch in der Braunschweiger Ausgabe. Es wird gerade an dieser Schrift deutlich, wie sich für Luther alle Meditation zur betenden Betrachtung der Grundwahrheiten der christlichen Verkündigung verdichtet und ihre Verwirklichung im  t ä g l i c h e n  Gebet erfährt. Der Kleine Katechismus ist für Luther nicht ein Kompendium der Dogmatik oder ein volkstümliches Handbuch christlicher Weisheit, sondern einfach das  B r e v i e r , das Gebetbuch für das täglich geübte  S t u n d e n g e b e t . Beispielhaft seien hier lediglich drei Zitate aus dem Großen Katechismus angeführt (zitiert nach Müller „Die symbolischen Bücher”, 1882).

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LeerAus der Vorrede im Zusammenhang einer Polemik gegen „die schändlichen Freßlinge und Bauchdiener, die billiger Säuhirten und Hundeknechte sein sollten denn Seelwarter und Pfarrherrn”: „Und daß sie doch so viel täten, weil sie des unnützen, schweren Geschwätzes der sieben Gezeiten nu los sind, an derselbigen Statt Morgens, Mittags und Abends etwa ein Blatt oder zwei aus dem Katechismus, Betbüchlein, neuen Testament oder sonst aus der Biblia läsen und ein Vaterunser für sich und ihre Pfarrkinder beteten ...”. Im Fortgang dieser Vorrede heißt es dann. „Das sage ich aber für mich. Ich bin auch ein Doctor und Prediger, ja so gelehrt und erfahren, als die alle sein mögen, die solche Vermessenheit und Sicherheit haben: noch tu ich wie ein Kind, das man den Katechismus lehrt und lese und spreche auch von Wort zu Wort des Morgens, und wenn ich Zeit habe, die Zehn Gebot, Glauben, das Vaterunser, Psalmen...”. Zur Auslegung des 2. Gebotes heißt es: „Dazu dienet auch, daß man sich gewöhne täglich Gotte zu befehlen, mit Seel und Leib, Weib, Kind, Gesind und was wir haben, für alle zufällige Not; daher auch das Benedicite, Gratias und andere Segen Abends und Morgens kommen und blieben sind.”

LeerImmer wieder hat Luther in der Meditation auf ein  l a u t e s  Sprechen und Beten verwiesen, auch im Hinblick auf die Psalmen, die er übrigens im Vulgata-Text aus der katholischen Zeit des Brevierbetens fast vollständig auswendig konnte (vgl. Vorrede 1545, abgedruckt bei Hans Eger „Luther und seine Bibel” München 1934, S. 21). So lebt Luther im  S t u n d e n g e b e t . Luther pflegte laut zu beten. Seine tiefe Ehrfurcht vor der Majestät Gottes zwang ihn beim Gebet in die Knie. Er hat es auch im Kl. Katechismus den Hausvätern zur Pflicht gemacht, beim Morgen- und Abendsegen sich „samt Kindern und Gesinde” mit dem heiligen Kreuz zu segnen und dann kniend oder stehend das Credo und das Vaterunser zu beten.

LeerAuch hier stehen zwischen Luther und uns die Barrikaden des Rationalismus. Die Gebärden wurden verdächtigt und aufgelöst. Unter der Vorherrschaft einer spiritualistischen Theologie kam es zu einer Zersetzung des echten Zusammenhangs von innerster Haltung und Gebärdensprache. Auf protestantischem Boden wurde vergessen, daß das Knien die Ehrfurcht vor Dem ausdrückt, welcher der Herr ist, und daß das Knien das Innerste des Menschen zur Ernst und Bereitschaft ordnet. Ebenso wurde die significatio mit dem signum crucis im Zeitalter des Rationalismus so vollständig zersetzt, daß heutzutage eine Wiederbelebung dieser Übung der lutherischen Kirche unter dem kindischen Schlagwort der „katholisierenden Tendenzen” sofort einer massiven Diffamierung verfiele. Das heilige Zeichen des Kreuzes aber ist - nach einer Betrachtung von Romano Guardinis „Vorschule des Betens” (Zürich 1943) - eine Bildmacht, die nicht bloß vom Einzelnen getragen wird, sondern die als Zeichen der gesamten Christenheit den Einzelnen formt.

LeerDas Wesen der Meditation wird von Luther in der Vorrede zum 1. Bd. der Wittenberger Ausgabe 1539 (zitiert nach Eger a.a.O. S. 35) mit den Worten beschrieben: „Zum andern sollst du meditieren, d. i. nicht allein im Herzen, sondern auch äußerlich die mündliche Rede und buchstäblichen Worte im Buch immer treiben und treiben, lesen und wieder lesen, mit fleißigem Aufmerken und nachdenken, was der Heilige Geist damit meint. Und hüte dich, daß du nicht überdrüssig werdest oder denkst, du habest es einmal oder zwei genug gelesen, gehört, gesagt und verstehest es alles zu Grund; denn da wird kein sonderlicher Theologus nimmer mehr aus, und sind wie das unzeitige Obst, das abfället, ehe es halb reif wird. Darum siehst du in demselbigen Psalm, wie David immerdar rühmet, er wolle reden, dichten, sagen, singen, hören, lesen, Tag und Nacht ...”

Evangelische Jahresbriefe 1950, S. 46-52

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-16
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