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Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerEinen überaus wichtigen Beitrag zu der viel verhandelten Frage des Mythos liefert ein Vortrag, den Romano Guardini in Paris am ersten Tag der „Semaine des Intellectuels Catholiques” gehalten hat. („Der Mythos und die Wahrheit der Offenbarung”; Frankfurter Hefte V, 7; Juli 1950.) Nach einer Einführung in die Psychologie des primitiven Menschen und die Entstehung des Mythos stellt Guardini den „Mythos” der „-Offenbarung” gegenüber. Die Befreiung durch den Sonnenaufgang oder das Wiedererstarken der Sonne nach der Nacht des Winters und dergleichen erlebt der primitive Mensch als „relative Erlösung”, nämlich als Erlösung „innerhalb eines Rhythmus, in welchem Bedrängnis, Befreiung, neue Bedrängnis und neue Befreiung aufeinander folgen”. Der Mythos kennt nur die Welt; Gott gehört zur Welt, als ihr Geheimnis, ihre Tiefe, ihre letzte Kostbarkeit. Über die pseudoreligiöse Wurzel des Mythos enthält die Geschichte vom Sündenfall eine entscheidende Wahrheit: der Versucher und Verleumder Gottes zerbricht den Gehorsam durch den Gedanken, Gott habe jenes Gebot gegeben aus Angst, nämlich aus Angst vor dem, was im Mythos jeder Göttergeneration geschieht, nämlich der Entthronung. „Der Mythos enthält die Urlüge, welche den Abfall vom lebendigen Gott rechtfertigen will.” Damit wird das Positive, das der Mythos enthält, nicht geleugnet: eine relative Wahrheit, die dann der gefallene Mensch zur Rechtfertigung seines Abfalls mißbraucht. Indem die Offenbarung den Mythos entlarvt, erlaubt sie dem Menschen den echten Inhalt des Mythos zu sehen. - Der Vortrag von Guardini scheint mir auf einer ähnlichen Kampflinie wie die Thesen des theologischen Konvents A. B. (Fulda März 1950) zum gleichen Thema zu liegen und von hier aus zu zeigen, wie wenig die Frage des Mythos oder der Entmythologisierung eine Frage des Weltbildes ist.

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LeerDie „Privilegierte Württembergische Bibel-Anstalt” in Stuttgart versendet wieder Bibelkataloge. Man kann fast alles wieder haben: Jubiläumsbibeln in Taschenformat, das Biblische Nachschlagewerk, Arbeits- und Studienbibeln zum Einfügen von Schreibblättern, Schülerbibeln, Wortkonkordanz, Bilderbibeln mit Bildern von Rudolf Schäfer, Ausgaben der Lutherbibel in jeder Größe, auch ein „Westentaschen-Testament mit Psalmen”; selbstverständlich auch die Biblia Hebraica, die Septuaginta (das ist die alte griechische Übersetzung des Alten Testaments) und das Novum Testamentum Graece. Es ist wirklich aller Bewunderung und aufrichtigen Dankes wert, was die Württembergische Bibelgesellschaft, die im Kriege so gut wie alles verloren hatte, schon wieder geschaffen hat. Aber das, was ich in jedem Bibelkatalog, der mir in die Hand kommt, zuerst und vor allem suche, ist auch in diesem Angebot nicht enthalten. Ich stelle von neuem mit Betrübnis fest, daß es in Deutschland keine Bibel zu kaufen gibt, die für den gottesdienstlichen Gebrauch geeignet ist. Der große Druck und der Ledereinband („mit Goldpressung”) macht es nicht; sondern ein Bibeldruck, der für die liturgische Lesung in der Kirche bestimmt ist, sollte so eingerichtet sein, daß er dem Lesenden dazu hilft, die Klanggestalt der Sprache, auf die Luther so ernstlich bedacht war, hörbar zu machen; das heißt: er sollte statt der schulmeisterlichen „Interpunktion”, die nach künstlichen grammatikalischen Regeln die Satzteile voneinander trennt, die Lesezeichen enthalten, welche (wie in allen alten Bibeldrucken!) angeben, welche Stücke aus einen Atem gelesen werden sollen, und wo der Lektor die Stimme zu senken hat und wo nicht; es sollte ein klarer großer Druck sein, ohne Bilder und ohne die beim Vorlesen so sehr störenden Erklärungen; und das Buch sollte so groß sein, daß niemand auf den Einfall kommen kann, es in der Hand zu halten, sondern daß es schwer und gewichtig auf dem Lesepult liegen bleibt oder (wenn es auf dem Altar liegen soll) beim Lesen von einem Gehilfen des Liturgen gehalten werden muß. Es geht mir gar nicht nur um die praktische Möglichkeit (obwohl ich immer in Verlegenheit gerate, wenn ich auf diesbezügliche Anfragen ehrlicherweise antworten muß, daß es keine Altarbibel zu kaufen gibt); sondern es geht mir um das Grundsätzliche: es entspricht gewiß dem vorhandenen „Bedürfnis” und der buchhändlerischen Nachfrage, wenn die Bibelgesellschaften die Bibel wesentlich als Arbeits- und Studierbuch behandeln und ausstatten, und wenn der gottesdienstliche Gebrauch, hinter diesem privaten Gebrauch ganz in den Hintergrund getreten ist, und wenn es wichtiger scheint, daß man die Bibel in die Tasche (wenn möglich in die Westentasche) stecken kann, als daß man sich an ihr, dem „unfaßlichen” großen Buch, halten kann.

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LeerWer die Möglichkeit hatte, in diesem Sommer die Ausstellung „Ars Sacra”, Kunst des frühen Mittelalters, in München zu sehen, wird sich glücklich schätzen um der unerhörten Eindrücke willen, die diese außergewöhnliche Zusammenstellung früher Buchmalerei und anderer kirchlicher, richtiger liturgischer Kunst aus dem 6. bis 12. Jahrhundert vermittelte. Manche Dinge, die den Lesern unserer Jahresbriese aus den Bildbeilagen unserer Hefte vertraut sind, waren dort im farbigen Original zu sehen. Formal war der überraschendste Eindruck, wie sehr diese ganze frühmittelalterliche Kunst den Zusammenhang mit der Antike wahrt und also die Linie jener frühchristlichen Darstellungen, die uns aus den ersten Jahrhunderten bekannt ist, unmittelbar fortsetzt. Was den Inhalt der Darstellungen selbst anbelangt, haben sich mir drei Merkmale dieser Bilder besonders eingeprägt: Da lassen zunächst vor allem die Engelsdarstellungen spüren, mit welcher Intensität jene Menschen die Heilige Geschichte als den wirklichen Einbruch einer anderen Dimension in den irdischen Raum empfunden und erfahren haben; die Begegnung mit dem Übermächtigen, die Überwältigung durch das schlechthin Unbegreifliche ist aus jenen Darstellungen der Verkündigung, der Verklärung oder der Auferstehung wie in einem Spiegel der erschütterten und ergriffenen Seelen abzulesen. Es ist zweitens eine Anwendung dieser religiösen Ur-Erfahrung auf den besonderen Raum der Propheten, Apostel und Evangelisten als der Boten jener hereinbrechenden Gotteswelt, wenn jene Buchmaler in der vielfältigsten Weise das Geheimnis der Inspiration anzudeuten gewußt haben: die tiefe Stille, in der das Verborgene vernehmbar wird, die ganz nach innen gekehrte Schau, das Lauschen auf die Eingebung überirdischer Stimmen, haben in jenen unzähligen Darstellungen biblischer Schreiber einen überzeugenden Ausdruck gefunden. Was aber das Erstaunlichste ist, sind einige Bilder, in welchen nun diese inspirierten Evangelisten in der Weise dargestellt sind, daß sie in ihren erhobenen Händen den ganzen Kosmos jener überirdischen Wirklichkeit tragen, ineinander verschlungene Sphären, in denen Engel und Gestalten des Alten Testaments erscheinen, und zwischen ihren Füßen entspringt der -Quell des Lebens, aus dem Menschen und Tiere trinken: eine geradezu erschütternde Anschauung von der Vermittlerrolle der heiligen Boten und von der Last, die zu tragen ihnen in ihrem Wissen auferlegt ist. - Es ist zu fragen, ob es irgendeinen Sinn hat (wie ich es erlebt habe), Schulklassen offenbar ohne die Möglichkeit einer wirklichen Vorbereitung durch diese Sammlung wie-durch irgendeine andere Ausstellung wandern zu lassen; aber um so mehr Dank verdienen die Männer, die diese Kostbarkeiten zusammengetragen und uns zugänglich gemacht haben, Schätze, die sonst nur einem kleinen Kreis von Gelehrten vor Augen gekommen sind.

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LeerDaß ich im Sommer dieses Jahres meine Erholung nicht allzu weit von -Oberammergau suchte, konnte mich nicht veranlassen, die dortigen Passionsspiele zu sehen. Ich weiß wohl, daß manche Menschen bekennen, zu ihrem eigenen Erstaunen und wider ihre skeptische Erwartung habe sie durch alles unerfreuliche Drum und Dran hin- durch die Sache selber, mit Ehrfurcht gesprochen und dargestellt, im Innersten ergriffen. Die Kraft eines frommen Ursprungs wirkt durch die Jahrhunderte nach und wird nicht so leicht aufgezehrt. Aber hatte jene Oberammergauerin, die nachdenkliche Tochter einer alten Spielerfamilie, nicht doch recht, die während des Krieges sagte, sie hoffte, die Tradition dieser Spiele würde nach dem Kriege nicht wieder aufgenommen „Wir sind nicht mehr fromm genug, die Passion des Herrn so zu spielen, wie sie gespielt werden müßte. Wir sind es nicht mehr wert” Welchen Gefahren ein aus ganz anderen Zeiten entstandenes Passionsspiel heute ausgesetzt ist, wird blitzartig beleuchtet durch einen Beitrag in der „Revue” („Die Weltillustrierte”) vom 22. Juli dieses Jahres, die mir zufällig in die Hand gekommen ist; dort wird unter der Überschrift „Für Erwachsene verboten” davon berichtet, wie „irgendwo in einem kleinen Hinterhof mitten im Passionsdorf Oberammergau, zwischen Bierflaschenkisten, alten Karren und halbzerfallenen Schuppen” die Kinder der Passionsdarsteller „die Tragedi vom Leben und Sterben des Herrn Jesu Christi” spielen; die Hauptsache sind 5 Fotos, die die jungen Spieler mit der Dornenkrone, bei der Kreuzigung usw. zeigen, in vielem so unwahrscheinlich, daß man sich gern der Hoffnung hingibt, die Fotos seien unecht, für die Revue gestellt. Und man weiß nicht, was schlimmer wäre, wenn wirklich die Passion des Herrn zum Kinderspiel in Hinterhöfen geworden sein sollte, oder (was mir zugleich wahrscheinlicher und noch schlimmer vorkommt) wenn eine illustrierte Zeitschrift ihren Lesern zwischen dem Räuberhauptmann Giuliano und dem katzenhaften Malaienmädchen Leata ein Kind mit Dornenkrone und am Kreuz vorführt. Tiefer geht es wirklich nicht mehr in der Geschmacksverirrung. Wenn Kinder wirklich irgendwo in Einfalt und kindlicher Hingebung die Passion „spielen”, so soll man sie dabei nicht stören, aber noch weniger photographieren. Dem König Midas wurde alles, was er anfaßte, zu Gold; es gibt Menschen, in deren Händen alles zum Kitsch und auch das Heiligste zum Frevel wird.

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LeerAls Studenten haben wir mit Begeisterung gesungen, daß das Wandern „des Müllers Lust” sei. Das Lied ist unmodern, weil das Wandern selber nicht mehr zeitgemäß zu sein scheint. Ich kann nach den Wochen, die ich in diesem Jahr in den bayrischen Bergen verbringen konnte, die Klage nicht wiederholen, die ich im vorigen Jahr an dieser Stelle ausgesprochen habe; dort wird gewandert und viel gewandert. Aber der Wanderer, der dort wirklich wandert, ist auch dort eine allenfalls geduldete altmodische Randerscheinung. In den Gaststätten der berühmten ehemaligen Dörfer (muß ich Namen nennen?) werden Gäste, die von den Bergen kommend im Wanderzeug dort auftauchen, von den Herren Obern mit unverhohlener Geringschätzung behandelt; weil nur die Autoreisenden Geld ins Land bringen, sind zwar die Straßen in bestem Zustand gehalten die eigentlichen Wanderwege aber vielfach in schlechter Verfassung, ungenügend markiert und man wundert sich, daß nicht mehr Unfälle passieren. Man muß schon einsame Wege aussuchen, um nicht auf Schritt und Tritt jenen Menschenmassen zu begegnen, die von den großen Reise-Autobussen in die Gegend ausgespuckt werden und überall durch ihr lärmendes Wesen, durch die unpassende Art, wie sie angezogen oder vielmehr ausgezogen sind, und durch ihr protziges Geldausgeben verraten wie ungebildet sie sind. Sie zerstören aufdringlich die Natur du sie angeblich aufsuchen und der Wanderer gerät zwischen ihnen in jene Traurigkeit die den einsamen Reisenden in einer fremden Großstadt überfällt. Das Wandern ist nicht mehr des Müllers Lust.

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LeerZu den eindrucksvollsten Büchern, die ich während meines Sommerurlaubs gelesen habe, gehört das Buch von Max Picard „Die Welt des Schweigens” (Eugen Rentsch- Verlag Erlenbach-Zürich). Wer so viel zu reden hat wie wir alle (oder wenigstens so viel redet, wie wir alle das tun), sollte sich den erschreckenden Gedanken und Erkenntnissen aussetzen, die hier über das Verhältnis der Sprache zum Schweigen vorgetragen werden, und er sollte sich auch mit dem erschreckenden Begriff des „Wortgeräuschs” vertraut machen, den Picard geprägt hat, um das Wort zu kennzeichnen, das nicht mehr aus einem Akt des Geistes entsteht, sondern nur noch akustisch aus dem Lärm anderer Wörter. Im Wortgeräusch gibt es keinen redenden Einzelnen mehr. „Die Masse ist legitimiert, sie ist das Pendant zum Wortgeräusch, sie ist wie das Wortgeräusch: Da und doch nicht da, auftauchend und wieder verschwindend, alles ausfüllend und doch niemals greifbar.” Mit wahrer Erschütterung habe ich das Kapitel über das Radio gelesen: „Das Radio ist eine Maschinerie, die das pure Wortgeräusch produziert, es kommt fast gar nicht mehr auf einen Inhalt an, sondern nur darauf, daß ein Geräusch entsteht.” „Der Mensch ist nur noch ein Anhängsel des Radiogeräusches, das Radio lebt ihm das Geräusch vor, und der Mensch macht die Bewegung des Geräusches nach, das ist sein Leben”. Aber man muß das wirklich bei Picard nachlesen. Denn da steht auch ein so erstaunlicher Satz wie der: „Immer heftiger wird das Geräusch des Radios, weil immer größer die Angst ist, daß es vom Schweigen und vom wirklichen Wort überrumpelt werde.”

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LeerIrgendwo mußte für einen Gottesdienst ein Raum benutzt werden, in dem an der Stirnseite vor welcher der Altar aufgerichtet wurde, ein großer Spiegel befestigt war. Man stelle sich den seltsamen Zustand vor: Da, wo sonst über den Altar als den „Grenzstein” hinweg die Bilder des Jüngsten Gerichts und der himmlischen Welt zu sehen sind, erblickte sowohl der am Altar handelnde Priester wie die vor dem Altar versammelte Gemeinde im Spiegel sich selbst. Ich frage mich und gebe die Frage weiter, ob das nicht einem bestimmten Typus von Frömmigkeit entspricht, der (freiwillig oder unfreiwillig) auch im Gebet immer nur sich selbst im Spiegel betrachtet.

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LeerIm Blick auf das Weihnachtsfest muß uns eine doppelte Sorge bewegen. Die Gegensätze der äußeren Lage, das Nebeneinander von aufreizendem Luxus und bitterer Armut, Sorge und Not ist nie peinlicher und belastet unser Gewissen nie schmerzlicher als an Weihnachten. Dabei wäre es unsinnig, in den alten sozialen Kategorien zu denken; vielfach geht es den Kreisen, die vor einem Menschenalter Gegenstand der Fürsorge und der Wohltätigkeit waren, sehr viel besser als vielen, die ganz andere Zeiten gesehen haben und deren Not nur deswegen leicht übersehen und vergessen wird, weil sie wenig davon reden... Den Möglichkeiten der Hilfe und des Ausgleichs sind enge Grenzen gesteckt; aber sehe jeder, ob er die Art seiner Weihnachtsfeier verantworten und ihrer wirklich froh werden kann, wenn er sein Auge und fein Herz nicht verschließt vor der Not, die er in seinem Umkreis wirklich kennt. - Doch darf die andere und größere Not am wenigsten übersehen werden, daß wir über der „sozialen” Seite des Weihnachtsfestes den Sinn dieses Festes selbst aus dem Blick verlieren. Wenn wir Grund und Recht haben, uns über etwas zu freuen, dann ist es dies, daß heute wieder Weihnachtslieder gedichtet und schon auch gesungen werden, die jenseits aller Stimmung und Sentimentalität, abseits aller Märchenpoesie das Wunder der Menschwerdung Gottes selbst und das Mysterium seiner Gegenwart mit zitternder Freude besingen. Mit dieser Umkehr allein wird auch der Weg beschritten, auf dem die aus jenen krassen Gegensätzen erwachsenden Nöte und Gefahren überwunden werden können.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 31-36

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-23
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