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„Dies sind die Heilgen zehn Gebot'..”
Teil 2
von Wilhelm Stählin

LeerUnter allen zehn Geboten ist dasjenige, das wir als das vierte zu zählen pflegen, das einzige, dem eine Verheißung unmittelbar angefügt ist: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt” (2. Mose 20, 12). Niemand kann ernsthaft meinen, daß mit dieser Beifügung denen, die als Kinder ihren Eltern die schuldige Ehrerbietung erwiesen haben, ein höheres Lebensalter und das ungestörte Heimatrecht auf „heimatlicher Scholle” versprochen sei; sondern es ist das Volk, dem die Dauer seines Bestandes in „seinem” (nämlich ihm von Gott bestimmten) Lande verheißen ist, wenn in seinem Bereich der göttlichen Ordnung und Stiftung gemäß die Väter und Mütter geehrt werden. Damit ist, wenigstens an diesem einen Punkt, die „soziale” und „politische” Tragweite der zehn Gebote mit ausdrücklichen Worten umschrieben, und es ist also im besonderen gesagt, daß der Bestand und die Gesundheit des menschlichen Gemeinschaftslebens davon abhängt, ob die rechte Ordnung im Verhältnis der Kinder zu Vater und Mutter unangetastet gewahrt bleibt.

LeerWir würden den Sinn dieses „Gebotes” oder vielmehr der in diesem Gebot geschützten Ordnung leicht verfehlen, wenn wir allzu schnell mit Luther von unseren „Eltern und Herren” reden und damit freilich nicht nur die Herren den Eltern, sondern nicht minder die Eltern allen übrigen „Herren” gleichstellen wollten. Das Verhältnis des Kindes zu seinen Eltern kann aber mit keiner anderen Form menschlicher Beziehung auf die gleiche Ebene gerückt werden, weil der durch Zeugung und Geburt begründete leibliche Zusammenhang mit nichts anderem verglichen werden kann. Wir können die philologische Frage füglich beiseite lassen, ob das abgegriffene Fremdwort „Autorität” wirklich in seinem Ursinn auf die
auctoritas, auf Verursachung oder Erzeugung also, zurückgeht; jedenfalls beruht die Autorität von Vater und Mutter, die Verpflichtung sie zu „ehren”, eben darauf, daß beide im strengsten Sinn zur „Ursache”, zu Urhebern unseres irdischen Daseins geworden sind: ein leiblicher Zusammenhang, der eine einzigartige Bindung und Verbindung begründet und durch keine spätere Entfernung oder Entfremdung aufgehoben werden kann. Dabei ist auch dies der ernstesten Beach- lung wert, daß das biblische Gebot nicht zusammenfassend von den Eltern redet, sondern Vater und Mutter nebeneinander stellt, weil der Anteil des Vaters und der Mutter in der „Verursachung” unseres physischen Lebens und darum auch das gefühlsmäßige und das in unseren Gefühlen sich spiegelnde seinsmäßige Verhältnis des Kindes zu Vater und Mutter spezifisch verschieden ist. Es wäre darum nicht unbegründet, das Gebot zunächst so zu umschreiben und zu deuten: „Du sollst deinen Vater als deinen Vater und deine Mutter als deine Mutter ehren.”

LeerMit anderen Worten: Das Verhältnis des Kindes zu seinem Vater und seiner Mutter ist eine Grund-Ordnung des menschlichen Lebens; sie kann und darf also nicht weiter „begründet”, sondern sie muß als eine unaufhebbare und schlechthin gültige Ordnung gesehen und anerkannt werden. Da wir auf Schritt und Tritt geneigt sind, die von Menschen gemachten und in der Geschichte entstandenen -Ordnungen, Lebensformen und Beziehungen mit den in der Schöpfung Gottes selbst begründeten Ur- und Grundordnungen zu verwechseln und entweder die menschlichen Einrichtungen zu dem Rang heiliger Ordnung zu erheben oder Gottes Kreaturen mit der gleichen respektlosen Willkür zu behandeln, wie sie schließlich allem gegenüber, was Menschen sich ausgedacht und gemacht haben, möglich ist, ist es um so nötiger, zunächst und wenigstens an diesem einen Punkt die einzigartige und unaufhebbare „Autorität” des Vaters, der uns gezeugt, der Mutter, die uns geboren hat, unangetastet zu bewahren.

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LeerEs will mir darum seit langem als höchst bedenklich erscheinen, wenn etwa im Religionsunterricht Kindern gegenüber das vierte Gebot damit begründet wird, daß die Litern dem Kinde an Alter, Erfahrung und Klugheit so weit überlegen, und daß die Kinder ihren Eltern gegenüber um der zahlreichen Wohltaten und der leiblichen und seelischen Fürsorge willen zu größtem Dank verpflichtet seien. Hier wird eine rationale Erwägung eingeschaltet, um das zu begründen, was keiner Begründung bedarf und durch jede solche Begründung nur problematisch werden kann - weil es ja in der Tat keineswegs außer Zweifel steht, ob die Eltern wirklich klüger sind als ihre Kinder, und ob jene Dankespflicht der tatsächlichen Erfahrung der Kinder eindeutig entspricht. Im Gegenteil ist zu bekennen und zu lehren, daß die Ehre, die dem Vater und der Mutter gebührt, unabhängig ist von aller persönlichen Liebenswürdigkeit, Trefflichkeit und Tugend. Die Ehre gilt allein dem Amt des Vaters, dem Amt der Mutter, als einem von Gott verliehenen Amt, und kann durch die nie ganz fehlende und immer schmerzliche Spannung zwischen diesem von Gott gestifteten Amt und der Art, wie dieser Vater, diese Mutter dieses ihr Amt ausfüllt, nicht aufgehoben oder auch nur gemindert werden.

LeerDabei drückt das Wort „ehren” unmißverständlich aus, daß es sich hier um eine Zuordnung des Ungleichen, um eine Verschiedenheit des Ranges handelt. Frühere Geschlechter haben sich die Erfüllung dieses göttlichen Gebotes, die Wahrung dieser gottgegebenen Ordnung dadurch erleichtert, daß sie auch in der äußeren Form und Sitte den schuldigen Respekt vor dem Amt des Vaters und der Mutter auszudrücken pflegten: Es war selbstverständlich, daß das Kind, auch das schon erwachsene Kind, Vater und Mutter mit „Sie” oder mit „Ihr” anredete, daß sie bei dem Gespräch mit den Eltern aufstanden und was dergleichen mehr ist. Es ist sehr töricht, diese altmodischen Sitten zu belächeln und es für einen rühmenswerten Fortschritt zu halten, wenn heute die Kinder mit dem „Alten Herrn” und der „Alten Dame” auf gleich und gleich verkehren. Das Gift der Gleichmacherei hat unser soziales Gefüge schon in einem solchen Maß zersetzt, daß wir gar nicht merken, wie sehr wir damit zugleich den Aufruhr gegen die göttliche Ordnung der rangverschiedenen Gemeinschaft organisieren. In einer mir wohlbekannten Familie zwangen die Eltern ihr einziges Kind, Vater und Mutter mil dem Vornamen anzureden, weil sie „grundsätzlich” alle Autoritätsverhältnisse für verwerflich hielten; ich hatte leider keine Gelegenheit zu verfolgen, wie dieses Experiment sich weiterhin ausgewirkt hat; aber ich bin geneigt, das Kind tief zu bedauern und die Eltern wenigstens in dieser Hinsicht für ideologische Narren zu halten. Das schließt nicht aus, daß sich die äußeren Formen, in denen sich die Gemeinschaft zwischen Litern und Kindern vollzieht, im Laufe der Jahre wandeln, daß Vater und Mutter in ehrlicher Selbstentäußerung das eigene Leben und die persönlichen Notwendigkeiten ihrer heranwachsenden Kinder achten und es in lächelnder (aber nicht spöttischer, sondern liebender) Überlegenheit ertragen, wie sich die Kinder von ihnen entfernen, um ihren eigenen Weg zu gehen; und es ist schön, wenn beide Eltern einander helfen, die besonderen Versuchungen zu erkennen und zu überwinden, in denen sich der Vater, der seine Kinder nach seinem Bilde prägen, und die Mutter, die ihre Kinder dauernd lieb-„haben” möchte, dieser Aufgabe gegenüber finden. Je besser es Vater und Mutter gelingt, ihre Kinder zur rechten Zeit loszulassen, desto schöner und desto freudiger werden sie später zwar nicht zu kindlicher Abhängigkeit, aber zur echten ehrerbietigen Anhänglichkeit an die zurückfinden, die ihr irdisches Dasein verursacht und dadurch ein Amt lebenslänglicher Autorität empfangen haben.

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LeerWenn wir zunächst davon abgesehen haben, von „Eltern und Herren” zugleich zu sprechen, so soll damit doch keineswegs das tiefe Recht übersehen oder bestritten werden, mit dem Luther das vierte Gebot über das Verhältnis zu den leiblichen Eltern hinaus ausgeweitet hat. Denn nicht nur das unvergleichliche Verhältnis zu Vater und Mutter, sondern überhaupt die Gemeinschaft des Rangverschiedenen ist eine Grundordnung des menschlichen Lebens, und die Zerstörung der elterlichen Autorität und die „Ächtung der Autorität” überhaupt gehen Hand in Hand. Eine allgemeine Gleichmacherei („Du bist auch nichts anderes als ich”) stempelt jede Rangverschiedenheit, jeden Anspruch auf Autorität und jede Ehrerbietung zu einer verwerflichen, mindestens aber altmodischen und lächerlichen Sache. Unter der Firma „sozialer” oder „demokratischer” Gesinnung ist man geneigt oder bemüht, den Abstand zwischen Lehrer und Schüler, zwischen Meister und Lehrling, zwischen Herr und Knecht möglichst zum Verschwinden zu bringen. Daß es eine Form persönlicher Demut sein kann, wenn jemand die Würde seines Amtes wahrt, und daß es ebenso ein Ausdruck echter Würde sein kann, wenn jemand mit Stolz bereit ist, dem Übergeordneten und Überlegenen zu dienen: dieses beides wird in der feindseligen Ächtung der Autorität nicht mehr gesehen und anerkannt. Es muß einmal gesagt werden, daß sich hier eine gründliche Verkehrung aller Ordnung durchgesetzt hat. Abstand nach oben und Abstand nach unten zu halten, ist ein Stück Gehorsam gegen die lebenswichtige Ordnung des menschlichen Miteinander. Jene „umgekehrten Radfahrernaturen”, die „nach oben treten und nach unten buckeln”, brutal und subaltern zugleich, die jeden schönen Abstand für Hochmut oder Kriecherei halten, rauben dem Leben die Schönheit und Sicherheit, die an der ehrerbietig anerkannten Autorität der „Herren” haftet.

LeerDiese rebellenhafte Auflehnung gegen Rang und Würde kann sich freilich darauf berufen, daß so viele Träger eines Amtes persönlich versagen. Der Lehrling kann in dem Meister die Grenze seines Könnens, der Schüler in dem Lehrer ein offenbares Irren oder Nicht-Wissen entdecken; der Knecht kann darunter leiden, daß er bei seinem Herrn dem Mißbrauch der Macht statt der Verantwortung echter Herrschaft begegnet, und ebenso kann das Kind an seinen eigenen Eltern Fehler wahrnehmen oder spüren, daß es auf einer bestimmten Stufe seiner eigenen Entwicklung von ihnen nicht mehr die entscheidende Klarheit und Hilfe („auctoritas”) für sein eigenes Werden empfängt. Solange Autorität und Ehrfurcht nicht auf menschliche Vorzüge, sondern auf das „Amt” gegründet sind, können solche Erfahrungen grundsätzlich die Autorität nicht aufheben, sondern vermögen sie nur zu wandeln und von falschen menschlichen Bindungen zu befreien; wenn aber grundsätzlich die heilsame Ordnung der Ehrfurcht vor „Eltern und Herren” zerbrochen ist, dann bieten sich solche unvermeidlichen Enttäuschungen als willkommene Rechtfertigung der eigenen Respektlosigkeit an, und mit tiefer Befriedigung stellt der geborene Rebell fest, daß bei „denen dort, die etwas Besonderes sein wollen”, auch nicht alles in Ordnung ist.

LeerEs ist oft darauf hingewiesen worden, daß Luther in seinem Kleinen Katechismus eine „patriarchalische” Ordnung der menschlichen Beziehungen voraussetzt, und weil solche „patriarchalische” Ordnung nach veralteten Lebensformen, nach „Reaktion” usw. riecht, so meint man mit jenem Hinweis etwas sehr Bedeutendes gegen den Kleinen Katechismus gesagt zu haben. Aber was heißt denn eigentlich „patriarchalische” Ordnung? Doch nichts anderes als dieses, daß den „Vätern” ein Anspruch auf Herrschaft und Würde (
arche) zugebilligt, und daß von den „Herren” (im weitesten Sinn) erwartet wird, daß sie Väter seien; oder noch anders ausgedrückt, daß jeder „Rang”, jede Würde und Macht, zutiefst verpflichtet und nur in jener menschlichen Verantwortung, deren menschliches Urbild der Vater ist, ohne Schaden wahrgenommen werden kann. So will mir scheinen, daß die hochfahrende Verachtung patriarchalischer Ordnungen den verhängnisvollen Tatbestand verdeckt, daß an die Stelle der regierenden Väter, der väterlich Regierenden anonyme Herrschaftsmächte getreten sind, die nur herrschen aber nicht regieren können, weil sie selbst nicht zu dienen bereit sind. Das gilt auch und in einer sehr folgenschweren Weise für die Kirche. Die Ordnung der kirchlichen Gemeinschaft beruht darauf, daß sie „kreuzförmig” ist, das heißt, daß das Nebeneinander der brüderlichen Liebe und das Übereinander geistlicher Autoritätsverhältnisse sich im „rechten” Winkel begegnen und treffen. Eine „Hierarchie” ohne das echte Nebeneinander derer, die vor Gott Brüder und Schwestern sind, ist nicht die rechte Ordnung des heiligen Volkes; aber eine allgemeine Brüderschaft, die um der allgemeinen Gleichheit vor Gott willen keine geistlichen Väter achten und ehren will, ist mindestens im gleichen Maß vom Übel - nämlich von dem Ur- und Grundübel der menschlichen Hoffart. Und auch hier bedürfen diejenigen, die das Vater-Amt geistlicher Autorität verwalten, jener Formen der Ehrerbietung und des dienstwilligen Gehorsams, die nicht ihnen als menschlichen Persönlichkeiten, sondern ihrem Amt gilt. Denn nur in dem vollendeten Reich Gottes bedarf es keiner anderen Autorität mehr als der alleinigen Autorität Gottes. Hier auf Erden gehört es zu den das Leben erhaltenden Ordnungen, daß es Menschen gibt, die das Amt haben zu befehlen und zu regieren, und Menschen, die das Amt haben zu gehorchen; wobei freilich der zur Autorität Berufene nur darum „befehlen” kann und darf, weil er selbst in einem anderen Bereich zu gehorchen und zu dienen hat, und der zum gehorsamen Dienst Berufene eben darum nicht um seine Würde besorgt sein muß, weil er in einem anderen Bereich ein freier und verantwortlicher „Herr” ist. Diese Ordnung, die Luther bei seiner Auslegung des vierten Gebotes im Auge hatte, um der allgemeinen Gleichheit vor Gott willen aufzulösen, ist eine jener lebenzerstörenden Schwärmereien, die Luther mit gleichem Ernst verabscheut hat, wie die Irrwege einer weltlichen Herrschaft in der Kirche.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 43-47

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-23
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