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Um die Katholizität der Kirche
von Karl Bernhard Ritter

1.

LeerDer Glaube an die „eine, heilige, katholische” Kirche wird zwar in der lutherischen Kirche ohne Zweifel bekannt, aber was dieses Bekenntnis für das Lebensgefühl ihrer Glieder ausmacht, ist doch eine sehr offene Frage. Es stimmt jedenfalls sehr nachdenklich und scheint auf einen tieferen Mangel im Selbstverständnis unserer Kirche hinzuweisen, daß wir uns den Namen „katholisch” einfach haben nehmen lassen, oder vielmehr ihn völlig vernachlässigt und so selbst freiwillig abgetreten haben, um dafür trotz der Warnung des Apostels (1. Kor. 3,4) den Spaltungsnamen „lutherisch” anzunehmen. Ist das Gefühl für die Katholizität der Kirche unter uns wirklich lebendig, wie es in den eindringlichen Worten des orthodoxen Theologen G. Florovsky zum Ausdruck kommt: „In einer zerteilten Christenheit kann niemand von uns wirklich Christ sein, selbst wenn er im vollen christlichen Glauben steht, denn niemand hat die Erlaubnis, sich von der Verantwortung für die anderen frei zu machen. Jeder hat den zugleich schrecklichen und schönen Auftrag, der Wächter seiner Brüder zu sein. Christliche Zerspaltenheit ist eine offene, blutende Wunde am Leibe Christi”? Das Abendland ist in seiner Theologie, Kirchenverfassung und Frömmigkeit bis in die letzten Fasern hinein von der großen Kirchenspaltung seit der Reformation des 16. Jahrhunderts bestimmt und geprägt. Viel mehr, als es uns selbst bewußt ist, sind alle Thesen auf evangelischer Seite antirömisch, alle Thesen auf römischer Seite antiprotestantisch geprägt. Es gibt in diesem Abendland, so möchte man fast mit Erschrecken feststellen, kein unbefangenes, unmittelbares, unpolemisches Verhältnis zur Wahrheit, zur großen, allgemeinchristlichen Überlieferung mehr. Zu weit ist die Verhärtung auf beiden Seiten fortgeschritten. In dieser Lage scheint nun durch Gottes Vorsehung die Tatsache eine ungemeine, ja eine sehr wunderbare Hilfe zu werden, daß beide abendländischen Kirchen in dieser unserer Zeit in einer Weise mit dem Christentum des Ostens in Verbindung gekommen sind, wie es durch Jahrhunderte hindurch und noch während des ganzen 19. Jahrhunderts völlig undenkbar gewesen wäre. Lange Zeit hat unser Abendland dir Ostkirche verachtet, jedenfalls auf protestantischer Seite. Die Urteile der evangelischen Theologen schwankten zwischen Mitleid und schroffer Ablehnung. So findet man bei Adolf Harnack etwa Ausführungen, die in ihrer vernichtenden Verurteilung nicht mehr überboten werden können. Aber das Blatt hat sich gewendet. Wir fangen an, zu hören. Wir sind von dem hohen Thron unseres konfessionellen Selbstbewußtseins längst herunter und wir fangen an, zu ahnen, daß die Stimme des Ostens aus einer Tiefe kommt, die vielleicht gerade das Heilmittel birgt, dessen wir dringend bedürfen. Dabei scheint mir äußerst bemerkenswert, daß die ostkirchliche Theologie, die so lange geschwiegen hat, nun, bei ihrer Begegnung mit dem Westen, ihre eigene Sendung, ihren Auftrag an die gesamte Christenheit zu verstehen beginnt als die Weitergabe des unverändert bewahrten Zeugnisses der alten ungeteilten Kirche, der Kirche, die vor der Zerspaltung die ganze katholische Fülle des Lebens und der Erkenntnis Christi in sich trägt.

2.

Leer„Die Stimme der Ostkirche” heißt ein Buch, das vor kurzem im evangelischen Verlagswerk Stuttgart erschienen ist. (Anm. 1) Der Verfasser Karl Friz, württembergischer Theologe, war viele Jahre hindurch Pfarrer einer deutschen evangelischen Gemeinde im Vorderen Orient und bat dadurch die Möglichkeit gehabt, die Ostkirche in ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen gründlich kennen zu lernen, nicht nur aus literarischen Quellen, sondern, was bei einer Kirche, die so sehr in ihrer Liturgie existiert, ganz unerläßlich ist, aus praktischer Anschauung. Ihm sind dort die Augen des Herzens für das kostbare Erbe aufgegangen, das uns die Ostkirche bewahrt hat. Das spürt man aus der ganzen Anlage und Darstellung seines Buches, das sich ganz und gar nicht nur an die gelehrten Spezialisten, die theologischen Fachleute wendet, sondern an alle, die mit offenem Sinn und wachem Gewissen nach dem Wege fragen, den Gott heute die Christenheit führen will. Die Erfahrungen, die der Verfasser nach seiner Rückkehr aus langer Gefangenschaft mit den kirchlichen und theologischen Auseinandersetzungen im Raume der deutschen evangelischen Kirche und der Oekumene des Westens machen mußte, haben in ihm die Überzeugung nur vertiefen und festigen können, daß wir alle Ursache haben, auf die Stimme der Ostkirche zu hören. Man kann, wenn man das von Anfang bis zu Ende lebendig, ja fesselnd geschriebene Buch aus der Hand legt, nicht dankbar genug sein, daß der Verfasser die Gefahr „in den Verdacht der Ketzerei kommen” nicht gescheut und den Versuch einer positiven Vergegenwärtigung und Würdigung der Grundlinien der ostkirchlichen Theologie und Frömmigkeit gewagt hat. Denn es ist ihm gelungen, aus einer umfassenden Kenntnis der Väterstimmen und der ostkirchlichen Stimmen der Gegenwart nicht nur, sondern aus einer innersten Begegnung und echten eigenen Erfahrung heraus deutlich zu machen, wie unerhört aktuell, wichtig, lösend und vorwärtsweisend für die ganze oft so festgefahrene, unfruchtbar und dürr gewordene abendländische Christenheit diese Begegnung mit dem Osten zu sein vermöchte, wie sie zum mindestens eine Fülle von Fragen aufwirft, die unsere eigene Besinnung auf den Auftrag und das Wesen der Kirche unmittelbar befruchten können.

Leer0er zweite Teil des Buches bietet eine sehr sorgfältig gewählte Zusammenstellung von Stimmen der Ostkirche selbst, angefangen von den großen Vätern der alten Kirche bis zu den Religionsphilosophen der Gegenwart, von Stücken aus der Liturgie des Ostens bis zur großen Dichtung der letzten Menschenalter.

LeerAn einem Abend, der noch nicht allzulange zurückliegt, war der oben zitierte Professor der orthodoxen Theologie G. Florovsky, Vertreter der Orthodoxie im ökumenischen Rat, Gast des Marburger Konvents der Evangelischen Michaelsbruderschaft. Ich bat ihn, uns in zwangloser Form von dem zu erzählen, wag nach seiner Überzeugung das eigentliche Leben, die fruchtbare Mitte des orthodoxen Christentums ausmache. Der wahrhaft geistliche Mann ging mit einer großen, beglückenden und herzlichen Offenheit und Freiheit auf unsere Bitte ein. Als er geendet hatte. konnten wir ihm nur einmütig sagen, daß wir ihn während seiner Ausführungen immer mehr und immer überzeugender als „einen der Unseren” empfunden hatten. So durfte mancher Leser des Buches von Friz am Schluß die Empfindung haben, darin einer geistlichen Welt begegnet zu sein, die in einer merkwürdigen, tief bewegenden Weise dem verwandt ist, was ihm seit vielen Jahren in dieser Zeitschrift begegnet.


3.

LeerNeben dem schönen Buch von Karl Friz möchte ich auf einen Sammelband hinweisen der aus der Arbeit des Marburger Kirchenhistorikers Ernst Benz und seines Kreises entstanden ist. Benz ist aus eigener Anschauung und durch langjährige wissenschaftliche Forschung einer der besten Kenner der Ostkirche unter uns und ständig um Erweiterung und Vertiefung der Begegnung zwischen evangelischem und orthodoxem Christentum bemüht. Der von ihm herausgegebene Band „Die Ostkirche und die russische Christenheit” (Anm. 2) will bewußt auch die gegenwärtige Lage der Ostkirche in Rußland klären und sie nach ihren geschichtlichen und grundsätzlichen Voraussetzungen verständlich machen. So schreibt H. Schaeder über Kirche und Staat in Rußland und E. Benz über Menschenwürde und Menschenrecht in der Geistesgeschichte der Ostkirche. Zwei weitere Beiträge befassen sich mit dem Verhältnis von Ostkirche und Abendland. In einer sehr zur kritischen Selbstbesinnung und Prüfung anregenden Studie schildert Ludolf Müller die Kritik, die in der russischen Theologie und Philosophie am Protestantismus geübt worden ist, während E. Benz in einem Überblick der zum Teil höchst überraschendes und gemeinhin gänzlich unbekanntes Tatsachenmaterial verarbeitet, die negative und positive Geschichte der Beziehungen zwischen Ost und West berichtet. Sein Aufsatz mündet in zwei Schlußkapitel ein, von denen eines die innere Affinität des östlichen und des westlichen Nihilismus, Nietzsche und Dostojewskij behandelt das andere die Gemeinsamkeit der religiösen Situation in Ost und West, Pascal und Dostojewskij. Hier wird von der tieferen Einsicht in die bestimmenden religiösen Kräfte des Ostens und Westens her zur Lage gesprochen.

LeerEin letzter Beitrag von Rudolf Schneider (Kiel) ist einer eingehenden Darstellung der eucharistischen Feier der Ostkirche und ihrer Bedeutung für das gesamte Sein und Leben der Kirche des Ostens gewidmet. Wenn irgendwo, dann gilt für den Osten, daß die Liturgie die Lebensform der Kirche ist. Dabei ist für uns der Nachweis besonders wertvoll wie sich die Eucharistie in der Heiligen Schrift Neuen Testaments begründet und wie sie für die Väter der alten Kirche die Quelle der Erkenntnis, der Konzentrationspunkt des theologischen Denkens und des frommen christlichen Lebens ist. Und wie heute in der ganzen Christenheit, sowohl in der evangelischen Ökumene wie in der römischen Kirche ein Kampf um Erneuerung des kirchlichen Lebens vom Gottesdienst her, von der Liturgie her zu beobachten ist, so ist auch in der Ostkirche eine Art Reformation im Gange: „die Wiedergewinnung gerade des Lebens der alten Kirche, die Freilegung der Wahrheits- und Wirklichkeitsfülle in alter Reinheit, ist eines der hervorragendsten Kennzeichen der heutigen ostkirchlichen Theologie”.


4.

LeerSo wichtig es ist, daß wir die Stimme der Ostkirche hören, es kann uns dadurch nicht erspart werden, das im 16. Jahrhundert aufgebrochene Streitgespräch der abendländischen Christenheit wieder aufzunehmen und fortzuführen. Die Ostkirche wird uns dabei helfen, von den eigenen Positionen innerlich Abstand zu gewinnen, sie aufs neue nachzuprüfen, ihre Bedingtheiten durch die konkrete geschichtliche Lage der Reformationszeit zu verstehen. Die große Schuld des Abendlandes ist doch wohl, daß. dies Gespräch eigentlich schon sehr früh als ein echtes Gespräch, d. h. also als ein Versuch, dem Gegenüber die eigene Wahrheitserkenntnis verständlich und annehmbar zu machen, verstummt ist und nur noch die bloße Polemik übrig blieb, die gar nicht ernsthaft damit rechnete, daß der andere hören könnte. So ist eigentlich das Augsburger Bekenntnis der letzte echte Versuch zu einer Begegnung zwischen den Anhängern der Reformation und der römisch-katholischen Kirche geblieben. Es ist darum ganz folgerichtig, wenn Hans Asmussen mit einer Darstellung und kritischen Nachprüfung der in der Confessio Augustana bezogenen Positionen für das heute neu begonnene verantwortliche theologische Gespräch zwischen den zwei großen Konfessionen des Abendlandes die ausreichend breite, uns nun einmal durch die Entscheidung der Geschichte vorgegebene Grundlage festzustellen versucht. Wie weit ist diese Grundlage heute »och tragfähig? Wie weit sind die Aussagen der Augustana für uns noch bindend? „Warum noch lutherische Kirche?” Mit diesem Titel seines Buches geht der Verfasser offensichtlich aufs Ganze. (Anm. 3)

LeerEr spricht damit tapfer und unbekümmert eine Frage aus, die vielleicht vielen, ihrer Kirche in selbstverständlicher und niemals in Frage gestellter Zugehörigkeit anhangenden evangelischen Christen je nachdem erschreckend oder ärgerlich erscheinen wird, die aber für unzählige zu einer brennenden Not geworden ist. Muß die Kirchenspaltung aufrecht erhalten werden, darf sie es angesichts der Lage, in der sich die Christenheit heute unter dem Ansturm der Dämonen befindet, in einer Zeit so blutiger und erbarmungsloser Verfolgung? Was soll den eigentlich noch geschehen, damit die eine Herde sich gemeinsam zu ihrem einigen Hirten bekennt? Wir wissen, wie viele wertvolle, lebendige, tief fromme Männer und Frauen für sich selbst den Übertritt in die Kirche gewählt haben und wählen, die ihnen die eine katholische Kirche am ehesten zu verkörpern scheint. Aber gerade darum ist ja die Frage um so brennender, wo denn in Wahrheit die Katholizität der Kirche, die Fülle der Wahrheit zu finden ist. Luther jedenfalls und die mit ihm bekannt haben, wollten nichts anderes, als eben für die eine, heilige, katholische Kirche streiten. Ist ihr Wort in Augsburg unter diesem entscheidenden Gesichtspunkt gültig?

LeerAsmussen geht es also nicht, wie fast allen Untersuchungen der letzten Jahrzehnte, lediglich um ein historisches Verständnis dieses Worts, so sehr er seinen geschichtlichen Ort und damit seine Bedingtheit im Auge behält, sondern um das Verständnis dieses Worts, soweit es ein aktueller Beitrag zu dem Gespräch ist, das wir heute mit den Brüdern auf der anderen Seite der Konfessionsgrenze führen. Darum muß er Satz für Satz der Augustana fragen: Wohin zielst du, was ist dein Anliegen? Und hält dies Anliegen stand bei einer Nachprüfung im Lichte der Heiligen Schrift, wie wir sie heute zu lesen und zu verstehen genötigt sind? Sind wir von der lebendigen Wahrheit her gezwungen, die gleichen Positionen zu beziehen, wie die lutherischen Väter? Ist die Augustana im Leben unserer Kirche auch realisiert, oder ist es bei der Theorie geblieben, oder hat die tatsächliche Entwicklung von ihr fort, über sie hinausgeführt? Sind denn die Gegner noch vorhanden, mit denen es die Väter zu tun hatten, oder halten wir sie nur künstlich fest in längst verlassenen Stellungen? Was sagen denn die Brüder jenseits der Grenze selbst heute zu den Bedenken, die auf dem Reichstag zu Augsburg vorgetragen wurden? Ist vielleicht sogar hier und da die Augustana mit ihren Sätzen in einer gemeinsamen Front mit den katholischen Brüdern gegen unsere kirchliche Wirklichkeit?

LeerIndem Hans Asmussen geduldig und unbeirrt diese Fragen auswirft und so das Bekenntnis der lutherischen Kirche zu einem Wort unserer Stunde werden läßt, entsteht vor den Augen der Leser - und es sollten gar nicht nur Theologen, sondern recht viele Männer und Frauen aller Berufe sein! - ein klares, lebendiges, uns innerlich angehendes Bild der entscheidenden Fragen, die heute in der ganzen Christenheit nach einer Lösung suchen.

Anmerkungen:
1: Karl Friz, Die Stimme der Ostkirche. Evangel. Verlagswerk Stuttgart.
2: Ernst Benz, Die Ostkirche und die russische Christenheit. Furche-Verlag Tübingen.
3: Hans Asmussen, Warum noch lutherische Kirche? Evangel. Verlagswerk Stuttgart.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 64-68

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-24
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