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„Dies sind die Heilgen zehn Gebot'..”
Teil 3
von Wilhelm Stählin

LeerIndem wir uns anschicken, das 5. Gebot in seiner Bedeutung für das öffentliche Leben zu betrachten, können wir nicht an der aufregenden Tatsache vorübergehen, daß das gleiche heilige Buch, das unter den 10 Geboten göttlicher Ordnung und Stiftung unmißverständlich auch das Gebot überliefert „Du sollst nicht töten”, ohne allen Unterton der Mißbilligung oder des Abscheus von blutigen und grausamen Kriegen berichtet, die Ausrottung alles Lebendigen in eroberten Städten als Erfüllung eines göttlichen Auftrages versteht und ausdrücklich erzählt, daß ein König Saul deswegen seiner göttlichen Berufung verlustig ging und verworfen wurde, weil er entgegen solchem strengen Befehl geschont hatte, wo er verbrennen und zerstören, töten und vernichten sollte. Dieser aufregende Widerspruch läßt sich gewiß nicht durch die bequeme Auskunft aus der Welt schaffen, daß es sich hier um zwei verschiedene Stufen der Gotteserkenntnis handle, von denen die ältere (und also natürlich „Niedrigere”) noch meinte, man könne Gott mit Flamme und Schwert der Vernichtung dienen, während erst auf einer späteren und höheren Stufe die Menschheit die „Heiligkeit des Lebens” erkannt und ihren Abscheu vor der Vernichtung fremden Lebens in der Form eines göttlichen Gebotes ausgesprochen habe. Dazu ist beides viel zu eng miteinander verflochten, als daß die beiden einander widerstrebenden Forderungen durch einen zeitlichen Abstand miteinander versöhnt werden könnten. Wohl aber muß uns diese unheimliche Nachbarschaft grausamsten Massenmords davor warnen, das 5. Gebot im Sinn einer sanften Humanität zu verstehen, die jedes Blutvergießen verabscheut und alles Lebendige als unantastbar achten möchte.

LeerFreilich steckt natürlich in diesem Gedanken ein richtiger Kern, den einfach beiseite zu lassen, verkehrt und gefährlich wäre. Das Urphänomen des Lebens setzt unserer Verfügungsgewalt eine Grenze, die es gegenüber allem, was wir Menschen gemacht haben, nicht gibt. Hier, in der Welt der Dinge, gebietet der drohende wirtschaftliche Verlust, auch die Angst vor der Rache, welche die Verletzung fremder Eigentumsrechte nach sich ziehen könnte, vielleicht auch der Respekt vor den geistigen Werten, die manchem Menschenwerk (wie Bauten und anderen Kunstwerken) innewohnen, dem natürlichen Zerstörungstrieb, den der Mensch mit auf die Welt bringt und nie gänzlich überwindet, einen gewissen Einhalt. Das „Leben” aber ist in keinem Sinn unserer oder anderer Menschen Werk; es kann durch menschlichen Willen und menschliche Tat wohl vernichtet, aber in keiner Weise ins Dasein gerufen, sein Entstehen wohl verhindert, aber nicht herbeigeführt, das zerstörte Leben eben darum nicht „wiederhergestellt” oder ersetzt werden. Die Scheu, sich an dem Lebendigen zu vergreisen, schwindet darum in dem Maß, als das Leben selbst versachlicht und der Unterschied zwischen dem lebendigen Geschöpf und dem leblosen Gegenstand verwischt wird. Die grauenhafte Verrohung, die zynisch von „liquidieren” oder „umlegen” redet, wo sie sich an tausendfachem Mord schuldig macht, ist nicht mehr mit moralischen Kategorien zu begreifen und zu messen, sondern allein als die notwendige Folge jenes abgründigen Frevels, in dem sich der Mensch dem Lebendigen, ja dem Leben selbst gegenüber die gleiche Verfügungsgewalt anmaßt, die er glaubt seinen eigenen Werken gegenüber zu besitzen.

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LeerWenn erst einmal diese Grenze durch rationale Nützlichkeitserwägungen verwischt wird, wenn der „soziale” Nutzen und das größtmögliche Glück einer größtmöglichen Zahl das oberste Gesetz des Handelns geworden ist, dann läßt sich gegen die Vernichtung des „lebensunwerten” Lebens sehr schwer etwas Durchschlagendes sagen. Die Gaskammern von Auschwitz und die Sklavenarbeit in arktischen Straflagern sind nur zwei (durch die verschiedene Rolle des Hasses und der Nützlichkeitsberechnung verschiedene) Erscheinungsformen der gleichen grundsätzlichen Nicht-Achtung des Lebens. Die Grenze, die hier überschritten wird, ist freilich völlig irrationaler Art und kann darum von jeder bloß rationalen oder biologischen Auffassung des Menschen nicht anerkannt werden: die ursprüngliche Scheu vor dem Geheimnis des Lebens als einer unbegreiflichen und darum unantastbaren Urgegebenheit. Wenn die Furcht Gottes abgeschafft ist, dann bleibt nur noch eine sentimentale Humanität, die ebenso von dem Haß wie von der Rücksicht auf den angeblichen Nutzen schnell überrannt und auf ein mehr oder weniger bedauerndes Achselzucken reduziert wird.

LeerAber selbst wo die Achtung vor dem Leben als einer naturhaften Urgegebenheit noch nicht durch rationale Nützlichkeitserwägungen ausgelöst ist, vermag diese Betrachtungsweise auf die Dauer keinen festen Damm gegen den Frevel der Lebens-Verachtung zu bilden. Zu dem biblischen Verständnis des Lebens als Kreatur (nicht nur als „Natur”!) gehört es, daß alles Leben (auch das der Pflanze und des Tieres, sonderlich aber natürlich des Menschen) teleologisch, das heißt von einer darin angelegten Bestimmung her, begriffen werden muß. In den Formen des Lebendigen will sich etwas ausdrücken und darstellen, und wer sich am Leben vergreift, zerstört nicht nur ein Gewordenes, sondern er greift in einen Werdeprozeß ein und stellt sich seiner Bestimmung entgegen. Gerade hier freilich ist die Rolle des Menschen unvergleichbar mit der Rolle alles anderen Lebendigen. Wenn im 5. Gebot der Mensch für den Menschen zum
tabu, zu einem unantastbaren Geheimnis gemacht wird, dann gilt dieser Schutz vor allem anderen jenem Menschenbild, auf das hin der Mensch geschaffen ist, und das von ihm ebenso wenig abtrennbar ist wie (um es in der biblischen Sprache auszudrücken) sein Engel, der ihn unablässig begleitet. Dieser Schutz gilt dem ganzen Menschen in der nicht aufzuspaltenden Einheit seines leib-seelischen Wesens. Darum ist auch der Schutz des leiblichen Lebens, der körperlichen Existenz, darin eingeschlossen. Aber der Schutz, den das 5. Gebot im Auge hat, ist nicht auf das physische Leben beschränkt. Es geschieht millionenfach, daß das Menschenbild, das eigentliche humanum, im Menschen angetastet, verletzt, ja gemordet wird, ohne daß die körperliche Existenzform in einer sichtbaren Weise verletzt oder zerbrochen wird. Aber jeder Angriff auf das auf Gott bezogene Menschenbild, jeder frevelhafte Angriff auf den „Engel” des Menschen, gibt zugleich die leibliche Existenz dem Angriff und der Zerstörung preis. Die Bedrohung der physischen Existenz, die den noch Lebenden mit der Furcht vor dem Tode erschreckt, ist die notwendige Folge und Ausdrucksform jener metaphysischen Bedrohung, in der der Mensch nur noch als ein naturhaftes Wesen und nicht in seiner göttlichen Bestimmung gesehen und geachtet wird.

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LeerTheologisch gesprochen: Wenn die Schöpfung nicht mehr trinitarisch verstanden, wenn die Kreaturen nicht mehr in ihrer Intention auf Christus, und das Weltganze nicht mehr im Blick auf eine neue Schöpfung gesehen werden, dann verblaßt der Schöpfungsglaube zu einer allgemeinen Verehrung „alles Lebendigen”, und die Verleugnung der Seinsfülle Gottes gibt auch sein irdisches Bild im Menschen dem Zugriff des großen Würgers preis.

LeerVon dieser Erkenntnis aus fällt nun auch ein Licht auf jenen quälenden Widerspruch zwischen dem Verbot des Tötens und jenen religiös verherrlichten Orgien der Vernichtung im Alten Testament. Was ist im 5. Gebot mit dem Zaun einer unantastbaren Würde umgeben? Nicht der Mensch als lebendiges Wesen, wie ihn eine humanitäre Weltschätzung alles dessen, „was Menschenantlitz trägt”, gerne verstehen möchte, sondern der Mensch als Träger einer Bestimmung und Verheißung, die über sein einzelnes und physisches Dasein hinausgreift. Diese göttliche Verheißung ist im Bereich der Offenbarung des alten Bundes gebunden an das Volk, das Gott (um Seiner freien Gnade willen) erwählt hat; um dieses Volkes und seiner heilsgeschichtlichen Aufgabe willen wird alles fremde Leben, das durch die heidnische Verführung diese Berufung gefährdet, mit rücksichtsloser Vernichtung bedroht und nicht etwa deswegen geschont, weil es „auch Menschen” sind. Was jener Bestimmung widerstreitet, es sei innerhalb oder außerhalb des Gottesvolkes, muß ausgerottet werden, damit das Leben, in dem die göttliche Berufung verkörpert ist, gerettet werde.

LeerDie Auslegung, die der Herr in der Bergpredigt dem 5. Gebot gegeben hat, bedeutet freilich nicht nur eine radikale Steigerung und Vertiefung des alttestamentlichen Gebotes, sondern sie macht vor allem sichtbar, daß der Schutz des Menschenbildes und seiner göttlichen Bestimmung nun, seit Er erschienen ist, in einer ganz anderen Weise geschehen muß, als es in den blutigen Religionskriegen Israels geschehen war. Die Grenze verläuft nicht mehr zwischen einem Volk und dem anderen, sondern sie geht quer durch alle Völker und quer durch alle irdischen Gemeinschaften hindurch; ja sie geht quer durch den einzelnen Menschen hindurch, so daß er aufgerufen werden muß, um seines Lebens willen sich selbst zu „kreuzigen”. Und es ist weder möglich noch nötig, das überall bedrohte Gottesbild mit physischer Gewalt zu verteidigen oder zu retten. Was in der Selbstverteidigung irdischer Macht selbstverständlich geübt wird, verliert im Bereich des in Christus neu begründeten Menschseins völlig seinen Sinn: „Also soll es unter euch nicht sein” (Mark. 10, 43). Nur die „geistliche Waffenrüstung”, das Schwert des Geistes und die Pfeile der Liebe, können den so sehr bedrohten Wesenskern in seiner tödlichen Gefährdung schützen. Wenn nach Christus noch einmal der Versuch gemacht wird, eine angebliche und vermeintliche Menschenwürde (oder Würde einer Rasse oder eines Volkes) durch die brutale Unterjochung oder die radikale Vernichtung der anderen zu schützen, so ist ein solcher Versuch nur als Abfall von Christus, als bewußte Feindschaft gegen Christus zu verstehen. Die Geste des „Fortschrittes” täuschte ungezählte Menschen darüber hinweg, daß solche Gewalttat ein Rückfall in eine längst überwundene Menschheitsperiode war; die Fassade des Antisemitismus verdeckte den alttestamentlichen und gegenchristlichen Charakter des Nationalsozialismus, und eine lärmende Propaganda-Ideologie kann den Tieferschauenden doch nicht mehr darüber täuschen, daß die bewußte Gottlosigkeit die Menschheit in die Barbarei ihrer Anfänge mit Sklavenjagd und Massenmord zurückwirft.

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LeerVom gleichen Punkt aus müssen nun so unheimliche Fragen wie die des Selbstmords und des Krieges zwar nicht gelöst, aber doch aufgehellt werden.

LeerDie Neigung, statt vom Selbstmord vom „Freitod” zu reden, ist ein typischer Ausdruck jener feigen Verlogenheit, die bis in die Sprache hinein der Wirklichkeit nicht mehr ins Auge sieht und die Dinge nicht mehr als das anerkennt, was sie in Wahrheit sind. Denn die angebliche „Freiheit” dieses Todes kann ja nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Mensch über sein eigenes Leben kein Verfügungsrecht hat, und daß also, wer „sich selber das Leben nimmt”, sich an dem vergreift, was ihm nicht wie irgendein Eigentum „gehört”. Aber damit ist wohl etwas Richtiges und Wichtiges, aber nicht das Entscheidende gesagt. Jedes Menschenleben trägt in sich die Bestimmung, in dem besonderen und einmaligen Rahmen dieses individuellen Daseins das Bild Gottes zu verwirklichen. Daß ungezählte Menschen nicht an einen solchen Sinn ihres Lebens glauben oder gänzlich daran verzweifeln, ihn zu erfüllen, hebt die objektive Bindung an diese Bestimmung nicht auf. Vielleicht sind gerade sehr schwere Schicksale, lange und qualvolle Leiden, vielleicht auch tiefe Erschütterungen durch eigene Verschuldung die notwendigen Mittel, durch welche dieses Menschenleben zu seinem ihm bestimmten Ziel gelangt, und vielleicht gehören gerade auch furchtbare Leiden und selbstverschuldete Zusammenbrüche in einem tieferen Sinn zu der „Erfüllung” dessen, was einem Menschen bestimmt und vorgezeichnet ist. Wer sich selber tötet, greift ein in einen Werdeprozeß, den er selbst keineswegs überschauen kann, und indem er schmerzhaften Leiden oder ausweglosen Konflikten entfliehen will, meidet er - nach Meister Eckeharts tiefsinnigem Wort - das schnellste Pferd, das ihn zur Vollendung tragen sollte. Vielleicht ist darum einem Menschen, der von der Versuchung zum Selbstmord angefochten ist, nichts so sehr und so nachdrücklich zu sagen wie dies, daß er durch seine Flucht Gott nicht hindern wird, ihn nach seinem Bild zu formen, und daß er wahrscheinlich in einer sehr viel schwierigeren und mühsameren Weise wird lernen müssen, was ihm zu lernen aufgetragen worden ist.

LeerDie empfindlichste Weise, in der uns das 5. Gebot bedrängt, ist die Frage des Krieges. Ist es nicht in der Tat notwendig, daß etliche Menschen, in ihrem Gewissen an das 5. Gebot gebunden, den Dienst mit der Waffe, das heißt den Dienst des Tötens, radikal verweigern und jedes Leiden, bis hin zum Opfer des eigenen Lebens, auf sich nehmen, um nicht mitschuldig zu werden an dem Blut der erschlagenen Brüder, das zum Himmel schreit? Niemand wird über diese furchtbare Frage leicht hinweggehen; niemand wird - oder niemand sollte! - den Versuch machen, die unvorstellbare Vernichtung von Leben, welche jeder neue Krieg unausweichlich mit sich bringt, mit irgendwelchen traditionellen Gedanken zu verteidigen oder ihres Entsetzens zu entkleiden. Aber die physische Vernichtung von Menschen ist nicht die schlimmste Form des Angriffs auf den Menschen und sein eigentliches Sein. Mit immer neuem Staunen haben wir erfahren, bei wie vielen unserer Brüder und Söhne, deren Leben durch den Krieg, menschlich gesprochen vor der Zeit, zerstört worden ist, in dieser ständigen Bedrohung und der schließlichen Zerstörung das eigentliche Menschenbild in einer Weise sichtbar geworden ist, wie es ein langes Leben im Staub der alltäglichen Gewohnheit niemals vermocht hätte. Scharf gesagt: Viele, viele der Menschen um uns, die völlig dem Diesseits, dem Genuß, der Gier ergeben sind, sind in einem viel radikaleren Sinn zerstört als ein von einer Fliegerbombe zerfetzter Körper. Das Gebot „Du sollst nicht töten” ist ganz und unteilbar, und die Art, wie der Herr in der Bergpredigt sein „.Ich aber sage euch” dem alttestamentlichen Gebot gegenüberstellt, weist genau auf diesen tieferen Zusammenhang: Haß, Verachtung und Beschimpfung können in viel tieferem Sinn den Bruder töten und die Liebe Gottes, des „Liebhabers alles Lebendigen”, verleugnen, als es die Waffe des Soldaten zu tun vermag.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 83-87

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-23
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