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Das Ehesakrament in der russischen orthodoxen Kirche
von Iwan Tschetwerikow

LeerChristus hat Fleisch angenommen und zwar nicht nur illusorisch oder teilweise, sondern ganz, sogar mit den sinnlichen Trieben, jedoch frei von Sünde. Er vergeistigte die Sinnlichkeit durch die Jungfräulichkeit; er machte sie unsterblich und erhob sie zu dem Throne seines Vaters. Die Sinnlichkeit wurde heilig; und diese Heiligkeit hilft uns, den sündigen Menschen, unsere Unreinigkeit zu erkennen. Sie zieht uns in die großartige Synthese der zwei Pole, die in dieser Welt sich zu widersprechen scheinen als Fleisch und Geist. Nur in dieser Synthese kommt es zur Heiligkeit. Wie der Sonnenstrahl im luftleeren, unmateriellen Raume finster ist und erst Licht wird, wenn er in den materiellen Luftraum tritt, so wird Jungfräulichkeit erst heilig im Bezirk des Sinnlichen. Die „Verschnittenen” sind nicht Heilige; die Kirchenväter verurteilten diese Verschneidung. Die Synthese von Sinnlichkeit und Jungfräulichkeit, nach Paulus das große Mysterium (lateinisch: Sacramentum)), ist ähnlich der Vereinigung Christi mit der Kirche. Diese Lehre des Apostels Paulus hatte einen großen Einfluß auf die christliche Ehe und Familie. Man entdeckte kürzlich in den Katakomben eine Grabinschrift aus dem zweiten Jahrhundert, in der der hinterbliebene Gatte seiner verstorbenen „dulcissima uxor” dankt für ihre Zärtlichkeit. Die Ehe wurde im Urchristentum zum Sakrament erhoben. In ihm bekommen die Eheleute eine Gnade, die sie in die übernatürliche Welt erhebt, wo Sinnlichkeit und Jungfräulichkeit sich vereinigen. Die Gnade ist dir göttliche Liebe und Kraft zugleich. Also in dem Sakramentum gibt Gott dem Menschen seine göttliche Kraft, die so nötig ist für die Menschen, die sich für ewig vereinigen in der ehelichen Liebe. Diese Gnade ist verkörpert im Worte und in den materiellen Elementen, die dem Ritus dienen. Diese Verkörperung der Gnade entspricht der Fleischwerdung Gottes wie der Erschaffung der Welt. Wort und Materie sind „verba visibilia” (sichtbares Wort), oder „stumme Sprache” der Materie, wie der selige Augustinus sagte. Verneinung des Wortes und der materiellen Elemente im Sakrament hat zur Folge einmal die Verneinung der Materie überhaupt, als etwas Bösem, zum andern den Versuch, die ganze Welt aus der Idee zu erklären. Gott schuf die Materie und bestimmte den Menschen zu seinem „Mitarbeiter” (1. Kor. 3, 9), der die Welt zur Vergeistigung und zur Vergöttlichung führen sollte. Die Kirche versuchte von Anfang an, Riten der Sakramente auszuarbeiten. Weil in der urchristlichen Kirche einige die Jungfräulichkeit in falscher Weise hochschätzten, indem sie die Sinnlichkeit als etwas Niedriges ansahen, ist man sehr spät zur Schaffung des Ritus für die Eheschließung gekommen. Dieser hat seine jetzige Form erst am Ende des 8. Jahrhunderts bekommen, zunächst in der byzantinischen Kirche. Die Ehe wurde nicht von Anfang an in die sieben hauptsächlichen Sakramente eingereiht. Das bedeutet aber nicht, daß sie kein Sakrament war. Die Ehe als Hauptsakrament wurde in der byzantinischen Kirche im 5. Jahrhundert (auf Anordnung des Konzils zu Karthago im Jahre 408), in der westlichen Kirche im 12. Jahrhundert gegründet. Thomas von Aquino motivierte diese Gründung mit der Notwendigkeit des räumlichen und zeitlichen Wachstums der Kirche.

LeerIn der orthodoxen Kirche besteht der Ritus des Ehesakraments aus zwei Teilen: 1. Verlobung, 2. Trauung (russisch: Ringvereinigung, Bekränzung). Sie können zeitlich getrennt sein.

LeerVerlobung ist die Vereinigung von zweien in eins durch die Liebe, wie die Liebe viele in einer Kirche vereint. „Unser Herre Gott”, spricht der Priester in einem Verlobungsgebet, „der du in der Kirche als der reinsten Jungfrau die Menschen vereinigt hast, segne diese Verbindung, und vereinige und bewahre deine Knechte in Friede und Einheit der Gedanken.” Die Kirche betet hier um die g e i s t i g e Vereinigung, um die wahre vollkommene Liebe, die von dunklen Trieben frei ist und die Jungfräulichkeit bewahrt. (Anm. 1)

LeerDie orthodoxe Kirche versteht die eheliche Bereinigung als einen eigenartigen und übernatürlichen Akt, als ein Wunder der Liebe. Das Gesetz der Unvertretbarkeit der physischen Objekte wird hier überwunden. In der Natur gibt es auch Einheit in Vielheit; aber die natürliche Einheit ist mehr äußerlich, elementar, unfrei und unbewußt. Unter den Menschen soll sie innig, frei und bewußt werden. Der Priester fragt die Verlobten, ob sie freiwillig und mit gutem Willen sich trauen lassen wollen, und betet dabei um die Einigkeit in Gedanken und um die Einheit oder besser Ganzheit der Seele. Also vor der Verheiratung war der Mensch nicht der volle Mensch. (Anm. 2) Erst Verheiratete, oder die Menschen als Glieder der Kirche werden ganze Menschen.

LeerDie Übernatürlichkeit der Einheit durch die Liebe besteht in der innerlichen, nicht äußerlichen, in der ewigen, nicht zeitlichen Vereinigung zweier Menschen. Diese untrennbare Vereinigung ist ähnlich der Vereinigung der Glieder der Kirche. Die Individualität der Menschen bedeutet 1. die Eigenartigkeit ihrer Persönlichkeiten, 2. ihre Trennung voneinander. Diese zwei Funktionen sind nicht notwendig miteinander verbunden. Die Eigenartigkeit ist nicht Getrenntsein; erst nach dem Sündenfall wurde die Individualität die Ursache der „schlechten Vielheit” ohne Einheit, die sich dem physischen Gesetz untergeordnet hat, wonach zwei Körper nicht gleichzeitig ein und denselben Raum ausfüllen können. Nur göttliche Kraft schafft das Wunder, das dieses Gesetz aufhebt. Der Mensch durchbricht in der Liebe seine trennende Individualität, tritt über ihre Grenze hinaus, um in die Persönlichkeit des Geliebten einzutreten, sie in seine Seele einzuführen. Die Liebende ist im Geliebten und der Geliebte in der Liebenden.

LeerWie es in der Kirche Glieder mit verschiedenen Begabungen gibt, so vereinigen sich auch in der Ehe nicht gleichartige, sondern physisch und psychisch verschiedene Persönlichkeiten. Der Mensch ist keine Substanz, er ist eine Persönlichkeit, die in ihrer letzten Tiefe sich mit Gott berührt. Die Substanz ist Grund des Seins, die Persönlichkeit aber ist das Streben nach dem Sein. Die Möglichkeit dieses Strebens setzt eine Kontemplation oder ein Fühlen des Seins voraus; das Sein soll sich allmählich in der unbewußten Tiefe der Persönlichkeit entfalten. Der Weg zur Kontemplation ist das Versinken in diese Tiefe, in das stille Leben im Innern des Menschen. Das ist der eigentliche Charakterzug des Weibes. Der Mann richtet sich mehr nach außen; sein Leben ist auf äußere Ziele gerichtet, die er nicht aus der Kontemplatio des Seins nimmt, sondern rationalistisch auf die Basis seiner Triebe baut. Das ist die Grundverschiedenheit zwischen Mann und Frau, die die ganz verschiedenen Einstellungen des psychischen Lebens bei beiden verursacht.(Anm. 3) Aber gerade diese Verschiedenheit macht erst möglich und zugleich notwendig die innere Einheit von Mann und Weib. Die Aktivität des Mannes soll durch die Kontemplatio des Weibes befruchtet werden. Diese Kontemplatio ist der Boden, aus dem seine Tätigkeit erwachsen soll. Zugleich kommt das Weib im Manne und seiner Tätigkeit zur Verkörperung ihres dunklen Fühlens des neuen Seins, das sich ihr in seiner Vollkommenheit mehr und mehr entfaltet. In diesem verschiedenartigen Streben von Mann und Weib liegt der Grund für die innere Vereinigung und Ganzheit von Braut und Bräutigam. Das ist der Sinn der Verlobungsgebete. Die Verlobung ist schon eingeschlossen im Sakrament der Ehe. Sie kann deshalb auch nur gelöst werden mit Zustimmung der Kirche. Ohne diese kann eine nochmalige Verlobung nicht stattfinden.

LeerDer zweite Teil der Eheriten ist die Trauung, russisch das Bekränzen. In den Handlungen und Gebeten dieses Ritus entfaltet sich die andere Seite des Sinnes der Ehe. Am Anfang betet der Priester, daß die zu Trauenden durch ihre Kinder in den „Strom des menschlichen Geschlechts” hineingenommen werden. In diesem Gebet verbindet sich der Sinn der Ehe mit dem Sinn der Weltgeschichte, der nicht mit der unendlichen Fortpflanzung der Menschheit und ihrem irdischen Glück ausgeschöpft werden kann, sondern im „Streben zum ewigen Frieden für Israel”, d. h. zum Frieden zwischen Gott und Menschen, besteht. Die eheliche Vereinigung von Mann und Frau ist das Eintauchen in den Wust des Fleisches, und darum ist diese eheliche Vereinigung zulässig bei stark gewordener Liebe. Das ist ein kritischer Moment im Leben der beiden. Vor ihnen steht die Gefahr, Sklaven des Fleisches zu werden, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren; aber vor ihnen steht zugleich die Möglichkeit des Sieges über die Sinnlichkeit, d. h. der Unterwerfung der Sinnlichkeit unter den Geist. Die sinnlichen Triebe sind ein Chaos, das die Persönlichkeit des Menschen zu verschlingen droht. Nach den Trauungsgebeten sind die zu Trauenden zu vergleichen dem Noah in der Arche mitten auf den brausenden Wellen, den drei von Nebukadnezar in den glühenden Ofen geworfenen Knaben, Jonas im Bauche des Walfisches. Darum betet die Kirche: „Bewahre sie, unser Herre Gott, wie du . . . bewahrt hast die drei Knaben vor den Flammen; sende auf sie herab Tau vom Himmel.” Die Menschen, die nur die natürliche Kraft haben und außerdem durch die Erbsünde schwach geworden sind, werden unvermeidlich in der Sinnlichkeit versinkend, ihre Persönlichkeit verlieren. Die göttliche Gnade, abkühlender Tau, der unaufhörliche Aufenthalt in der Arche (Kirche Christi) ist nötig, um nicht vom Chaos verschlungen zu werden. Darum kehrt im Ritus der Trauung das Gebet um Keuschheit immer wieder. Man bittet, daß die sinnlichen Triebe dieser beiden Menschen zu höchster Reinheit erhoben, mit der Jungfräulichkeit innerlich verschmolzen werden, damit in der Ehe geschieht die Verklärung der Sinnlichkeit und die Geburt „g u t e r  Kinder”, d. h. solcher, die wiederum gute Kinder gebären usw., bis sie geistig so entwickelt werden wie Johannes der Täufer und die heilige Maria, die den Heiland der Menschheit geboren hat. „Segne sie, unser Herre Gott” betet der Priester, „wie du Abraham und Sarah gesegnet hast; segne sie, unser Herre Gott, wie du Isaak und Rebekka gesegnet hast; segne sie, unser Herre Gott, wie du Jakob und alle Patriarchen gesegnet hast; segne sie, unser Herre Gott, wie du Joachim und Hanna gesegnet hast; segne sie, unser Herre Gott, wie du Zacharias und Elisabeth gesegnet hast.” „Würdige sie, Herre Gott, die Kinder ihrer Kinder zu sehen”, das bedeutet- würdige sie, den Patriarchen, den Stammesvätern der geistig wachsenden Generationen, die die Menschheitt auf das Erscheinen des Herrn vorbereiteten, ähnlich zu werden. Man sieht hier deutlich, daß das Ziel der Ehe nicht die Vervollständigung des Menschenstroms, sondern seine Vervollkommnung, Vergeistigung, und dadurch das Heranrücken des Endes der Weltgeschichte und die Annäherung der Ewigkeit ist. Die Ehe hat eschatologische und kosmische Bedeutung; sie ist der Weg zu Gott, zusammenfallend mit dem Weg der Kirche. Darum nennt der Apostel Paulus die Familie die kleine oder häusliche Kirche.

LeerDer Weg der Kirche ist der Märtyrerweg; er ist unaufhörlicher Kampf mit „dieser Welt” oder, nach apokalyptischem Ausdruck, der Kampf mit dem Drachen, mit der babylonischen Buhlerin. Die zu Trauenden stehen an der Schwelle sie erwartender Tragödien; „gedenke, unser Herre Gott, wie du gedenkst der heiligen 40 Märtyrer, denen du die Kränze vom Himmel reichst”, betet der Priester. Die Verwirklichung der beiden Aufgaben - Vereinigung der Individualitäten als Eigenartigkeiten auf dem Boden der Wesenseinheit der Menschen und ihrer gemeinsamen Liebe (Verlobung), und Befreiung des Menschen von der Sklaverei der Sinnlichkeit, nicht durch deren Unterdrückung, sondern durch Verklärung und Vergeistigung (Trauung) - fordert eine große Anstrengung und viele beiderseitige Opfer. Um diesen schweren Weg zu gehen, bedarf der Mensch der Gnade, die er von Gott im Ehesakrament bekommt.

LeerUm den Trauenden die Schwere des Weges und zugleich die Hilfe durch die Gnade Gottes deutlich zu machen, werden sie durch den Priester bekränzt. Sie legen ihre rechten Hände ineinander, und der Priester bedeckt diese mit einem weißen Tuche. Er faßt ihre Hände und führt sie um das Chorpult herum. Der Chor singt dabei: „Jesaja jubele! Die Jungfrau trägt im Mutterleibe und gebiert den Sohn Emanuel:- Gott und Mensch, Ost (Aufstieg) ist sein Name: preisend ihn, laßt uns Freude bereiten der Jungfrau”. Die Kirche zeigt den zu Trauenden das Endideal: die Einheit der Jungfräulichkeit und der Mütterlichkeit, der Jungfräulichkeit in der Geburt, der Geburt des Gottesmenschen. Das nächste Lied, das während der Kreisbewegung gesungen wird: „Ihr heiligen Märtyrer, die ihr gut gelitten habt und bekränzt wurdet, betet um die Begnadigung für uns.” Und das letzte Lied: „Ehre dir, Christe unser Gott, Lob der Apostel, Freude der Märtyrer, deren Predigt ist: wesensgleiche Dreieinigkeit” (homousia).

LeerMit diesen Riten und Liedern deutet die Kirche den märtyrerhaften und zugleich königlichen Weg der Eheleute an. Die Ewigkeit ist in die Zeit eingegangen; wir leben zugleich in zwei Aeonen, dem zeitlichen und dem ewigen; leidend im ersten erleben wir schon die Freuden der Ewigkeit. „Es komme auf die zu Trauenden”, betet der Priester, „jene Freude, die die heilige Helena hatte, als sie das Kreuz Christi gefunden hatte”, d. h. die Freude der Auferstehung durch das Kreuz, die Freude des Brautgemaches durch den Weg nach Golgatha, die Freude der Vereinigung des Zerstreuten durch Erleuchtung der Sinnlichkeit und des ganzen Kosmos. Diese Verwandlung des Leidens in Freude ist eines aus vielen Wundern der Liebe. Das beiderseitige Opfer in der Ehe hört dank der Liebe auf, ein Opfer zu sein, und wird ein Geschenk. In der Liebe gibt es nicht „geben” und „nehmen”, sondern schenken und beschenkt sein Die Liebe selbst ist ein Geschenk. Etwas zu „geben” bedeutet: dieses etwas zu verlieren. Aber s c h e n k e n  ist: sich selbst in den Geliebten, dem ich schenke, zu verlieren und zugleich zurückzukehren zu sich selbst, aber nicht allein, sondern mit dem Geliebten und Beschenkten. Die Märtyrer schenken ihr Leben Christo, fühlen sich in ihm und ihn in sich. Darum frohlocken sie schon in der Zeit. Unsere Liebe ist ein Strahl der ewigen Liebe Gottes. Gott und allein Gott ist vollkommene Liebe (1. Joh. 4, 8). Dort wo die Liebe ist, ist eine andere Welt: nicht die Welt der Vielheit, sondern die Welt der Einheit. Und in dieser Welt der Liebe ist alles Wunder; das Opfer des eigenen Lebens wird zur Freude. Hier ist die metaphysische Quelle der Freude der ehelichen Opfer.

LeerDie Liebe, hier nicht als Gefühl, als Streben begriffen, sondern als ontologische Kraft, kann nicht vom Menschen aus einmal in ihrer ganzen Fülle angenommen werden. Sie erhellt die Dunkelheit dieser Welt und wächst im Menschen allmählich. Der opfervolle Weg der Ehe bleibt lange der Märtyrerweg, und der Kranz des Siegers in der Ewigkeit (Offenb. Joh. 2, 10) bleibt lange Märtyrerkranz. Ebenso schmal ist der Weg zur Verklärung der Sinnlichkeit; das bestätigt die lange Qual des seligen Augustinus.

LeerEhe und Familie gehören zusammen. Sie sind ein Tröpfchen im „Strom der Gattung”. Das einzelne Tröpfchen strömt mit unendlich vielen anderen hin zur Grenze der Weltgeschichte. Das Kind ist in seiner Entwicklung physiologisch mit den Eltern verbunden. Aber dieses Verbundensein bricht schon sehr frühe ab und wird von der geistigen Verbindung abgelöst Die letztere kann aber auch aufgehoben werden, wenn die Familie keine starke Einheit und Persönlichkeit hat. Die Liebe schafft diese geistige Einheit durch das in der physischen Welt unmögliche Eingehen ineinander. „Ich bitte..., auf daß sie alle eins seien, wie du, Vater, in mir und ich in dir, auf daß auch sie in uns eins seien (Joh. 17, 21). In der Liebe geht der Liebende in die Seele des Geliebten und nimmt ihn in seine Seele. Diese wunderbare Einheit nennt man in der orthodoxen Kirche „Sobornastj”. „Soborna” = die Familie und die Persönlichkeit jedes Gliedes der Familie. Das Kind nimmt durch Aneignung der Sprache und Kultur die Seele seines Volkes an. „Sobornost”, seine Persönlichkeit erweitert sich, wird reicher, nimmt mehr und mehr die Seele seines Volkes in sich auf. Aber seine Persönlichkeit ist schon von der Geburt an, durch Vererbung, durch die ununterbrochene Weitergabe der keimenden Zellen allmenschlich. Seine „Sobornost” wird kosmisch. Jeder Mensch ist in den Strom der Gattung eingetaucht und zugleich wird dieser in seine Persönlichkeit eingeschlossen. Die kosmische Bedeutung des heiligen Opfers Christi beruht auf seiner Allmenschlichkeit.

Johannes der TäuferJohannes der Vorläufer wird in der orthodoxen Ikone dargestellt als der Engel, der aus dem Walde (dieser ist ein Bild der kosmischen Geschichte) mit dem Kelch, in dem der Leib Christi (also die Kirche) liegt, heraustritt. Er stellt die ganze Menschheit dar; er trägt die katholische Kirche als Braut Christus, dem Bräutigam entgegen. Der Sinn des Gebetes um Aufnahme der zu Trauenden in den Strom der Gattung besteht darin, daß sie in diesem Strome das Kommen Christi vorbereiten sollen.

LeerDie Ehe soll ein Mittel der moralischen Erhebung der Menschheit sein. „Der ungläubige Mann ist durch das Weib geheiligt, und das ungläubige Weib ist durch den Mann geheiligt;sonst wären ihre Kinder unrein” (1. Kor. 7, 14). Und diese moralische Erhebung der Menschheit durch die Familie ist ein Wunder der christlichen Liebe. Der liebende Mann neigt sich zur Frau, die sich an ihn anzulehnen sucht und seiner würdig sein will. Er sieht die Schönheit des Gottesbildes in ihr und will seinerseits ihrer würdig sein. Dieselbe Beziehung besteht zwischen Eltern und Kindern. Die reine Seele des Kindes in sich aufnehmend, streben die Eltern darnach, selbst innerlich reiner zu werden. Auch die Kinder sehen in der Seele ihrer Eltern die Opferbereitschaft und streben darnach, ihrer würdig zu sein. Aber nicht nur die Persönlichkeit der Eltern, sondern das moralische Niveau des Volkes, der Charakter der Gesamtkulturepoche prägen sich in die Seele des Kindes ein. In den Zeitabschnitten des geistigen Verfalls der Völker werden die Kinder schon mit belasteten Seelen geboren. Sie sind innerlich krank. Das Kind soll kämpfen mit dieser Krankheit, und die christliche Familie ist ihm dabei eine Hilfe.

LeerDie Ehe ist fest verbunden mit dem irdischen Leben; aber das Ehesakrament lenkt es zum : Himmel, ohne es von der erde loszureißen. Die christliche Ehe ist die grandioseste Synthese der Erde und des Himmels, der Zeit und der Ewigkeit. Das ganze Leben in der -Orthodoxie ist eschatologisch; eschatologisch gerichtet ist auch das Ehesakrament. In einem der letzten Trauungsgebete betet der Priester- „Erhöre sie wie die Zeder vom Libanon, wie die vielzweigige Weinrebe, um dir wohlgefällig zu werden und wie die Gestirne am Himmel in dir, unserm Gotte, zu glänzen.”

LeerSolche Erfassung des Ehesakraments war schöpferisch bis zur Zeit Peters des Großen und bewahrte sich im Gedächtnis des Volkes bis jetzt auf. In einigen Dörfern der Ukraine existiert noch jetzt als Brauch ein Ringeltanz der jungen Mädchen auf den Friedhöfen in Anwesenheit der jungen Männer am ersten Sonntag nach Ostern. Diesen Tag nennt man in Rußland den „Tag der roten Hügel”. Roter Hügel ist der uralte Name für Friedhof. An diesem Tage sammelten sich die Mädchen in schönen bunten Kleidern auf dem Friedhof und tanzten Reigen auf den Gräbern ihrer Väter. Die Jünglinge standen als die Zuschauer beiseite. Hier bahnten sich die zukünftigen Ehen an. Die Mädchen schienen wie Blumen, die aus der Väter Gräber erblühten. Mit ihren Wurzeln waren sie in der Vergangenheit, mit ihren Gedanken über die mögliche Ehe in der Zukunft. Vergangenheit und Zukunft begegneten sich in der Gegenwart. Ein schönes Bild der Ewigkeit. Die Gedanken über die Ehe füllten ihre Seele aus mit den verfließenden Freuden und mit der Besorgnis über das Zukünftige. Die Jünglinge trachteten nach der besten Blume und versanken in Betrachtungen über das neue Leben. Das war kein Spiel und kein Scherz, sondern ein entscheidender Moment in ihrem Leben. Die altrussischen Hochzeitslieder sind keine fröhlichen, sondern ernste, traurige Lieder. Man betrachtete die Ehe als verantwortungsvolle Pflicht, nicht nur vor sich selbst, sondern vor Gott und vor der Gattung, es blieben von diesen Bräuchen in Moskau nur noch die Benennungen. Auf einer bestimmten Wiese (in Wirklichkeit einem park) wurden bis zu den Tagen der Revolution noch für die Jugend Spazierfahrten am „Tage des roten Hügels” und in der Faschingswoche veranstaltet. Diese wurden auch mit den Gedanken über die Ehe verbunden. Man sieht jedoch in der neuen Art des Brauches mehr den westlichen Einfluß als die Aufbewahrung der altrussischen Gesinnung. Der tiefe Sinn der Trauung ist jetzt vergessen und wird nur aufbewahrt in den Büchern der kirchlichen Riten. Um die Familie und mit ihr die ganze Menschheit zu erneuern, sollte man die christliche Ehe mit ihrem tiefen Sinn wieder erstehen lassen und die heidnische Ehe - nicht nur mit Worten, sondern in Wirklichkeit - ablehnen. In der Wiedergeburt der Ehe und Familie wurzelt die Wiedergeburt der irdischen Kirche und der Menschheit.

Anmerkungen:
1: Die Verlobung war in Rußland schon vor der christlichen Aera bekannt und wurde zum Gedächtnis an das feierliche Versprechen zweier Personen, in die Ehe zu treten, veranstaltet. Aber die Erfüllung dieses Versprechens war damals nicht obligatorisch, und dessen Nichterfüllung wurde nur mit einer Geldstrafe belegt. Achtgebend auf die sittliche und religiöse Seite der Verlobung, verlieh die Kirche der Verlobung einen gottesdienstlichen Charakter; und obwohl sie dieselbe abgesondert von der Trauung gestattete, bemühte sie sich, einen willkürlichen Bruch dieses feierlichen Versprechens zu verhindern, und der Eintritt in die Ehe mit einem Mädchen, das mit einem anderen verlobt war, der noch lebte, wurde als Ehebruch betrachtet (VI. Oekumenisches Konzil). Nachher, zur Zeit des griechischen Kaisers Alexis Komnen (gegen Mitte des XI. Jahrhunderts) wurde die kirchliche Verlobung auch durch die Zivilgesetze anerkannt, wobei sie sogar der kirchlichen Trauung gleichgestellt wurde, im Sinne der Unauflösbarkeit derselben. Anschließend hat auch die Kirche selbst die kirchliche Verlobung mit der Trauung gleichgestellt (Beschluß der Synode in Konstantinopel vom Jahre 1066 - 1067 zur Zeit des Patriarchen Johann Ksifilin). - Dementsprechend, wenn die Verlobten auch eine erstmalige Ehe, aber mit anderen Personen, eingingen, betrachtete die Kirche das als zweite Ehe, infolge dessen die früheren Verlobten nicht das Recht hatten, in den Klerus zu treten; und schließlich übertrug die Kirche die Folgen der Verlobung sogar auf die Verwandten der Verlobten. - In der alten Russischen Kirche wurde, wie das aus dem Buch „Kormtschaja” (Leiter) ersichtlich ist, die Verlobung als feierliches Versprechen der zukünftigen Ehe angesehen und der Ehetrauung gleichgestellt, wobei ihr eine feierliche Ausrufung des Bräutigams und der Braut in der Kirche vorausging; bei der Verlobung wurden die Ringe getauscht und die Verlobten küßten sich. - Kaiser Peter I. erlaubte den Bruch der Verlobung (Ukas vom Jahre 1702); die Kaiserin Elisabeth Petrowna hat jedoch die Unumstößlichkeit der kirchlichen Verlobung wiederhergestellt, mit Ausnahme von besonderen Fällen, die von der Synode zur Allerhöchsten Entscheidung vorgelegt wurden (Ukas vom Jahre 1744). Seit dem Jahre 1775 (Ukas der Synode vom 5. August) geschieht bei uns die Verlobung gleichzeitig mit der Trauung. Eine Ausnahme wird nur hinsichtlich von Angehörigen des Kaiserlichen Hauses gemacht, falls sie eine Ehe mit Angehörigen anderer Staaten und Andersgläubigen eingehen. (Netschajew: Praktische Anleitung für Priester, S. 250 - 251).
2: In der Ukraine fragt man den jungen Mann, ob er schon Mensch sei, das bedeutet: ob er schon verheiratet sei.
3: Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit richtete der Mann sein Leben nach dem „Lächeln zustimmenden Grußes oder dem stummen Frost der Abweisung” der Frauen. Dante suchte im Lächeln Beatrices die Rechtfertigung seines Verhaltens. Leonardo da Vinci suchte in seinen Bildern die Formen dieses geheimnisvollen Lächelns, das Dante in seinen Sonetten besungen hat. Man war sich damals bewußt dieser Eigenart der Frauenpsyche. Später vergaß man das.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 93-99

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-27
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