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Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die „Liturgie”
von Claudia Bader

Leer„Als Priester muß man die Seelen auf den Händen tragen und in liturgischen Sachen leben.” - Wer von uns vermutet als Autor dieses vom 27.3.1747 stammenden Wortes den Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, den Vater der Brüdergemeine und den Schöpfer des Pietismus, der Zeuge der F r o h -Botschaft und nicht eines falschen Bußkrampfes war? - Vielleicht können wir den Grafen, dessen 250. Geburtstag sich im Vorjahre jährte, nicht besser ehren und kennen lernen, als aus seinen Selbstzeugnissen, in denen sich uns in ganz überraschender Weise dieser Graf als ein genuin „evangelischer Liturgiker” ausweist. Vielleicht wird durch diese Selbstzeugnisse manch ein voreiliger und unsachlicher Angriff auf „liturgische Bewegungen” unsrer Gegenwart, wie er oft gerade von sogenannter „pietistischer” Seite erfolgt, sich selbst in Frage stellen und manches vermeintlich „traditionstreue” Gemeindemitglied zum Nachdenken über den Sinn der Liturgie gezwungen, dabei auch der allzu oberflächliche Vorwurf des „Katholisierens” entkräftet. Wir möchten in den folgenden Ausführungen möglichst ausschließlich den Grafen selbst zu Worte kommen lassen,) um nicht in den Verdacht zu kommen, das liturgische Anliegen in ihn hinein zu interpretieren. (Anm.)

LeerWer als „Priester” in „liturgischen Sachen” lebt, dessen Christsein ist zutiefst Ausdruck der Freude über sein Erlöstsein, über die „Kindschaft Gottes”, darum schlechthiniger „Lobpreis” des gegenwärtigen Herrn im Leben, das Gottesdienst, immer- währender Kultus sein sollte. Freilich ist es eine erschrockene heilig-ernste Freude, denn „der liebe Gott schreckt die Leute, er greift sie an, er läßt ihnen so etwas Schauriges vorkommen, was (Grandes) Ungeheures, daß ihnen ihre Gedanken stille stehen und die Haar zu Berge stehen.” (Wundenlitanei, S. 224, 30.7.1747.) Dieses „Stillestehen” in Gottes „Audienzgemach”, in dem Gott uns anredet und annimmt als Kinder, denn christliche „Religion bedeutet Kind werden”, (4.3.1758) ist echter Gottesdienst.
„Wenn der Heilige Geist etwas an dem Instinkt des Menschen von seinem Schöpfer rüttelt, so wird dem Menschen gleich, als wenn er an einen ehrwürdigen Ort, vor einen Altar oder in ein Audienzgemach treten sollte.” Augsburger Diskurse, S. 228. 12.2.1748.
LeerDer Hauptcharakter des „neuen Gottesdienstes” besteht in dem Wort „Seligkeit”.
„Der Hauptcharakter des alten Gottesdienstes stand in dem Wort Furcht, und der Hauptcharakter des neuen Gottesdienstes stehet in dem Wort Seligkeit. Mit seinem Heiland so nahe verwandt sein, daß man ihn selbst zum Bruder hat, davon so gewiß sein, als daß man lebt, das heißt die wahre Religion haben.” Pensylvan. Reden 1, S. 35, 31.12.1742.
LeerSolche Seligkeit ist übermoralisch, „jenseits von gut und böse” und bewirkt, daß alle Arbeit der Zeugen zum „Spiel” wird.
„Laß uns spielen, daß dein Herze lacht.
Wir wollen unsre Lebenszeit dir dienen und dir spielen.
Die Arbeit der Zeugen ist Spiel.”
Herrnhuter Gesangbuch 932, 6.1734
LeerKlingt hier nicht das Grundmotiv von Kol. 3,16 an? -
Dieses Priesteramt ist aber das „Amt des Christen” schlechthin, es bedarf keines besonderen „Standes” dazu, denn die „Christen sind Priester”.
„Die Christen sind Priester Gottes, daß sie täglich im heiligen Schmuck einhergehen und heilige Hände aufheben usw.” Berliner Reden an die Männer, S. 36 f. 2.3.1738.

„Hier ist man ein Priester Gottes, der täglich in einer solchen heiligen Fassung vor dem Heiland bleiben kann, wie ehemals die Priester bei ihren allerheiligsten Handlungen. Es muß täglich geschehen, stündlich und ohne Aufhören. Reiniget euch, die ihr des Herrn Geräte tragt, das ist der vernünftige Gottesdienst.” Berliner Reden an die Frauen, S. 59, 17.3.1733.

„Im Neuen Testament sind alle zu Königen-und Priestern gesalbt, und so muß in einer Gemeine ein möglichst großes Kollegium werden, bei dem man den Eindruck bekommt wie die Gesandten des Pyrrhus im Römischen Senat, man habe lauter Könige gesehen.” 11. 2.1759.
LeerDie Liturgie des täglichen Lebens ist das christliche Priesteramt. In dieser Liturgie sind wir Christen lauter „lebendige Bibeln”, denn
„In der Gemeine des lebendigen Gottes ist man seiner beständig froh, da beweist er sich auf eine solche Art und Weise, daß es lauter lebendige Bibeln gibt.” Pensylv. Reden 2, S. 195. 16. 12. 1742.

„Wir sind die Leute, die der ganzen übrigen Welt ein Buch sein müssen, daraus sie lesen kann, was der Umgang mit dem Heiland für eine Wirkung auf das Gemüt hat...” usw. 21. 11. 1753.
LeerFür Zinzendorf ist das ganze Leben des Christen Liturgie. Alle Handlungen, das ganze Sein, die alltäglichsten Dinge sind Ausdruck und Gebärde der „neuen Kreatur”, in der alles „natürlich” ist, weil alles aus G o t t e s  N a t u r quillt.
„Unser Essen, Trinken, Schlafen und ganzes natürliches Leben müssen priesterlich und heilig geführt werden, weil alle gute Ordnung Gottes durch den Mißbrauch nicht nur gestört, sondern verunreinigt wird.” Ieremisa, S. 156. 1739.

„Ein gläubiges Herz, das mit dem Heiland aufsteht und zu Bett geht, das tut Gutes wie eine laufende Quelle, die nicht aufhört, da ein gutes Werk sich an das andere anschließt. Denn Gutes tun ist eine Fürstenlust. Aber ohne viel dran zu denken und sich drüber aufzuhalten, es offenbart sich von selbst.” 13.11.1757.

„Liturgisch ist ein gewisses gesetztes, solides Wesen, das sich immer gegenwärtig ist, das, wenn's zu einer heiligen Handlung berufen wird, niemals erst eine Fassung braucht, sondern allemal in seiner natürlichen Situation bleiben kann. Dann gewöhnt sich der Mensch nach und nach, alle seine Handlungen, auch die mißachtetsten Verrichtungen mit einer Würde zu tun, dabei die Jesushaftigkeit herausblickt und nicht dabei verliert.” 20.4.1760.

„Ich liebe das liturgische Wesen, ich hab's so gern, wenn die ordinären Dinge können liturgisch traktiert werden. Die falsche Scheu und Scham fällt von sich selbst weg, sobald man einen liturgischen Respekt vor einer Sache hat. Denn es ist nicht möglich, daß man sich einer Sache im Herzen schämt und sie zugleich innerlich respektieren kann. Es folgt gar nicht, daß die Sachen, die man mit Respekt und Andacht behandelt, fürchterlich sein müssen. Gesetzlichkeit und Andacht sind nicht gleichbedeutend. Es gibt eine andere Gattung von Andacht, die herzlich, zärtlich und sympathetisch ist.” 25.5.1753.
LeerDieser Liturgie ist Andacht und Meditation wesenhaft. Sie ist das Beten, das zur schlechthinigen A n b e t u n g  G o t t e s wird.
„Eine jegliche selige Meditation (Betrachtung) über Ihn, welches die Katholiken einen Akt, ein feierliches Vernehmen und Exerzitium nennen, ein jeder augenblickliche Gedanke an Ihn, da man sich etwas von Ihm als gegenwärtig vorstellt und sich daran erquickt, tröstet und erfreut oder beschämt und beugt über eine Seiner Seligkeiten, ist eine Liturgie; wo in einer jeden Seele das vorgeht, was in der ganzen Gemeine vorgeht, wenn sie Liturgie hält.” 1.1.1758.

„Wir wollen ein andächtiges Volk werden in einer nützlichen Meditation der Gottesmarter. Die muß uns zu so realen Gedanken verhelfen, über welchen wir nicht nur alles andere vergessen, sondern auch in den wichtigsten Geschäften von Zeit zu Zeit eine Pause machen, um in die Meditation zu gehen. Wenn dann die Menschen eine andere Art an uns sehen, so muß das in der Devotion bestehen. Unser alltäglicher Blick muß den Leuten f e s t t ä g l i c h,  l i t u r g i s c h vorkommen, wie man sich einen andächtigen Lehrer vorstellt, wenn er die Sakramente verwaltet und ihm ernst ist. So muß eines jeden auch mit äußerlichen noch so zerstreuenden Dingen beschäftigten Bruders, zum Beispiel eines Matrosen Blick, geheiligt, altarmäßig, priesterlich sein, denn des Heilandes Seele geht immer mit uns herum.” 11.11.1753.

„Das Gebet kann auch Anbeten genannt werden. Es ist eine Betrachtung der Majestät und Herrlichkeit Gottes, der Liebe Jesu Christi, des Blutes des Sohnes Gottes, der Taten des Königs Jesu, der Pflege des Hl. Geistes. B e t e n heißt, sich verwundern, erfreuen, erkennen, was man für einen Gott und Heiland hat, vor Ihm niederfallen und anbeten. Das ist das Gebet ohne Unterlaß, ein immerwährendes Pflegen des Priesteramtes.” Berliner Reden an die Frauen, S. 129. 3.4.1733.
LeerDie so verstandene Liturgie ist für Zinzendorf und jeden Christen „ohne Anfang und ohne Ende”, denn sie lebt aus dem Auferstehungsglauben und weiß, daß sie im Glauben schon das „Ewige Leben h a t ”, (cf. Joh. 5, 24.)
„Es ist eine göttliche Wahrheit, daß die Kinder Gottes schon h i e r das ewige Leben h a b e n . Denn sie sind selig von der Stunde an, da sie Vergebung der Sünde haben.” Berliner Reden an die Männer. 12.2.1733.

„Die Liturgie geht Tag und Nacht fort in unserm Inwendigen wissentlich und unwissentlich. Die Kreatur ist schon so gestellt. Wie die Sonnenblume sich nach der Sonne richtet, so steht unser kreatürliches Leben, solange wir in Christo sind, in der rechten Stellung gegen Gott unseren Vater. Die  m ü n d l i c h e n Liturgien sind nur A u s d r ü c k u n g e n der im H e r z e n beständig fortwährenden Bewegung, die Tag und Nacht nicht stille steht, davon der Heilige Geist der Beweger ist.” 4.3.1755.

„Die Glieder der Gemeine sollen täglich Liturgie halten, d. h. soviel von ihrer Arbeit abzwacken, daß sie ein Sabbatstündchen haben, da sie mit ihrem Heiland, dem Vater und dem Heiligen Geist und mit der oberen Gemeine in einer näheren Verbindung stehen, ihre Einflüsse empfangen... Sein allgewaltig Reich ist droben und hier unten eins, das wird uns immer wichtiger im Herzen, und wir kommen nicht aus der Gewohnheit, Seelen dorthin abzuschicken, und so wird uns das Heimgehen ganz natürlich.” Jüngerhaus- Diarium, 1747. Beilage 31. 15.3.1747.
LeerIn diesem Worte kommt die Einheit des Leibes Christi zu lebendiger Wirkung, so wie sie uns im „Neuen Lied” der Offenbarung Johannis im 5.Kap.Vers 8 ff. in visionärer Schau nahe kommt. Auch die uns Vorangegangenen sind in Gott mit uns verbunden, denn „Gott ist nicht der Toten, sondern der Lebendigen Gott, denn sie leben ihm a l l e .” Luk. 20, 38. Wie sie mit uns, so sind wir mit ihnen verbunden, denn
„Die Kinder Gottes stehen in unverrückter Gemeinschaft mit den vollendeten Gerechten im Himmel und erfreuen sich, wenn sie derselben gedenken können.” Marchesches Gesangbuch. Vorrede S. 23 f. 30.7.1731.

„Es gibt in allen Gemeinen Leute, die schon mit ihrem Gemüt in der anderen Welt wandeln, die schon anfangen, ihre Flügel heraufzuschwingen. Wenn man genau acht gäbe, I» könnte man es ihnen ansehen, nicht sowohl an ihren Kränklichkeiten, sondern an dem Schimmer, den die Art der Nähe und das Winken des Freundes veranlaßt.” 24.10.1759.

„Der Heiland hat ihnen (den Christen) seinen Sinn gegeben, dabei man schon in der Zeit so selig ist wie droben, nur dort ganz ohne Aufhören und von Grad zu Grad immer herrlicher.” Auszüge Evangelien 1. S. 631 f. 13.3.1743.

„Es muß einem das Herz lachen, wenn man in Gemeinschaft mit den oberen Chören das Lamm anspricht.” 22.12.1751.
LeerAus dieser Gegenwärtigkeit des Ewigen Lebens folgt Zinzendorfs „Liedertheologie”. Er sagt:
„Es ist eine alte und bekannte Sache, daß die L i e d e r die beste Methode sind, Gottes- Wahrheiten ins Herz zu bringen und darinnen zu konservieren.” 2.12.1759.

„Es gibt keine excellentere Predigt als die L i e d e r . Sie bringen oft die tiefsten, wichtigsten und weitläufigsten Materien in eine kurze Form, daß man sich darüber wundern muß, und das kommt der Predigt des H e i l i g e n  G e i s t e s am nächsten.” 30.7.1755.

„Leute, die hören mögen, findet man durch die ganze Welt, aber Leute, die ihrem Herrn singen und spielen mit Gefühl und Bewußtheit und die des in Jahren nicht überdrüssig werden, die findet man nicht überall, sondern nur unter den Seinigen, sonderlich, wo Gemeinen sind, die haben das voraus.” 11.9.1758.
LeerDarum soll in der christlichen Gemeinde der U n t e r r i c h t der Kinder nicht in erster Linie trocken-lehrhaft sein, sondern christlich - m u s i s c h . Die „kleinen Kinder werden mit der heilsamen Liedertheologie geweidet, wodurch sich ihren Herzen und Sinnen die herrlichsten Wahrheiten auf das Lebhafteste einprägen”. (Beschreibung und zuverlässige Nachricht, S. 120 ff. 1733.) Diese „Liedertheologie” ist bis in die heutige Zeit in der Brüdergemeinde lebendig geblieben, u. a. in ihrer wöchentlichen „Sonnabend-Singstunde”, die jedem unvergeßlich bleiben wird, der sie jahrelang miterleben durfte im In- und Ausland. In ihr wird die Bedeutung des G e s a n g b u c h s nicht „gelehrt”, sondern gelebt von groß und klein, alt und jung. Für Zinzendorf ist „das Gesangbuch eine Antwort auf die Bibel, ein Echo und die Fortsetzung derselben. Aus der Bibel sieht man, wie Gott mit den Menschen redet, und aus dem Gesangbuch, wie die Menschen mit Gott reden”. (Vorrede zum Gesangbuch. Dez. 1734.) Darum können die Gemeindeglieder so viele Lieder auswendig, weil „die meisten Geschwister daran gewöhnt sind, weil man sie in einem fort singt, ohne die Nummer erst anzuzeigen, eine derartige Liederpredigt sogleich und ohne Buch mitzusingen. So werden die Lieder je nach Beschaffenheit der Umstände auf unzählige Art verwechselt.” (Vorrede zum Gesangbuch. Dez. 1743.) Zinzendorf sagt im Blick auf die Singstunden von sich selber: „Was unsere Liturgen betrifft, dabei ist ein Wehen, das niemand kann verstehen als er allein und die Gemein. Ich habe schon vielemal gesagt, ehe ich eine Singstunde versäumen wollte, so wollte ich lieber zwanzig Reden versäumen. Ich wollte lieber einen halben Gemeintag auf dem Saal verschlafen, als in einer Liturgie nicht gegenwärtig sein mit meinem Gemüt...” 15.3.1760.

LeerDamit ist auch schon fast der ganze Inhalt der Zinzendorfschen Pädagogik erschlossen, denn auch aller Unterricht und alle Erziehung der Jugend wurzelt darin, daß die Eltern und Erzieher liturgisch leben. Fällt uns dabei nicht das Verheißungswort aus Jerem. 31, 34 ein?
„Eure Kinder müssen an euch nichts als Liturgisches sehen, denn ihr wißt, daß Säen und Pflügen, Viehfüttern und Dreschen, Spinnen und Stricken, Nähen, Kochen und Backen, wenn das eine Seele tut, die Schritt für Schritt mit des Heilandes Seele zieht, ihr lauter Liturgien sind.” 9.5.1756.

„Eltern können ihre Kinder nicht zu Kindern Gottes machen, aber sie können sie in ihrer Person Priester und Priesterinnen des Heilandes sehen lassen, und das Kind wird denken lernen: Sie sind heilige Menschen, aber sie nennen sich arme Sünder. Ihre Art, mit mir umzugehen, ist so liebreich, gleichwohl sind sie mir ehrwürdige Menschen. Ach wäre ich nur wie sie!” 16.8.1754.

„Macht, daß euch die Kinder lieb kriegen, daß sie eures Herren Bild an euch sehen und denken: es ist ja, als wenn der Heiland käme. Ihr könnt in 30 Jahren noch das Kind bekehren durchs Andenken. Bewahrt nur eure Seele und ganzen Auszug, daß der Heiland ihnen durch euch nicht verhaßt und zur Last wird. Er wird sich schon selbst empfehlen, wenn er seine Zeit ersehen haben wird, daß es keines weiteren Drängens brauchen wird.” 13.1.1760.
LeerDieses „Vorleben” sollte selbstverständlich sein in der Christenheit, da die „Kinder kleine Majestäten sind; die Taufe ist ihre Salbung, und sie sollten von Stund an nicht anders behandelt werden als ein geborener König.” (Sonderbare Gespräche S. 126. 1735.)

LeerDiese „liturgische Pädagogik” umschließt gleichsam alle Aufgaben der christlichen Kirche oder Gemeinde, wie sie ihr in der Inneren und Äußeren Mission gestellt sind. Sie schließt auch alle falsche Apologetik aus. Im Blick auf die Innere Mission, d. h. hinsichtlich d e r Frage, wie unser eigenes Volk zum Evangelium kommen soll, sagt Zinzendorf:
„Wir wissen, daß wir nicht gesandt sind Gerechte zu rufen, sondern Sünder. Und wenn sie den geringsten Anfang haben, den Heiland lieb zu kriegen, so müssen wir sechs Schritt zu ihnen tun, ihnen zuvorkommen und vollends drauf helfen. Ja, wir müssen sogar allerlei Unarten an ihnen tragen und können sie nicht übereilen, damit ihre Jüngerschaft nicht jählings und von kurzer Dauer, sondern alles ein freies Werk des Heiligen Geistes sein möge.” 14.3.1750.
LeerWeil G o t t den Glauben weckt, nicht wir, ist Zinzendorf skeptisch gegenüber allen sogenannten „Erweckungen”. „Erweckungen und Ermunterungen im Gemüt, die kenne ich. Die sind in Gelegenheiten, wo viele Kinder Gottes beisammen sind, unvermeidlich, beweisen aber nichts.” 23.5.1751.

LeerDamit ist für Zinzendorf die christliche Gemeinde die „Mitte” eines jeden Volkes. In ihr kommt Christus zum Volke und das ganze Volk beginnt in dieser Mitte „liturgisch” zu leben. „Je näher der Heiland dem Volke kommt und sich ihm mitteilt, je mehr bringt er auch Andacht und liturgischen Geist auf sie.” 11.11.1756.

LeerJe „andächtiger” die Gemeinde lebt, desto mehr Andacht strömt in die Welt hinein. „Andacht muß allemal sein, die Gnade unserer Zeit besteht im Andächtigsein. Sonderlich darf sich niemand unterstehen, einen Liturgus abzugeben, der nicht von Andacht durchdrungen ist, der nicht alle Silben, die er ausspricht, so in seinem Herzen fühlt. Priesterliche Handlungen müssen auch Wirkungen aufs Herz haben, so daß die ganze Person davon durchdrungen werde, und alles in der Autorität Jesu und in der Ähnlichkeit mit Ihm geschehe und daß man die Gegenwart Gottes einer dem andern ansehe-” 29.8.1759.

LeerIn dieser Haltung aber wird die christliche Gemeinde als Kirche Jesu Christi zugleich auch die „Mitte” der ganzen übrigen Welt. Sie ist und wird ihrem Wesen nach immer mehr „oekumenische Christenheit.”
„Wir sind die Leute, die der ganzen übrigen Welt ein Buch sein müssen, daraus sie lesen kann, was der Umgang mit unserm Herrn für Wirkung aufs Gemüt hat. Eine solche Wandlungsgabe muß schlechterdings an uns gesehen werden.” 21.11.1753.
LeerDie Gemeinde Jesu Christi ist der Beweis für die Gegenwart des lebendigen Gottes, die eigentliche und wirkliche Überwindung des Nihilismus und all seiner Bedrohungen, die uns ängsten wollen. In dieser Gemeinde lebt die Bruderliebe. „Eines der gewissesten Kennzeichen des Lebens aus Gott ist die B r u d e r l i e b e , das ist offenbar.” (Berl. Reden an die Männer. S. 277. 19.2.1738.)

Leer„Eine Gemeine ist der einzige Beweis gegen den Unglauben. Es braucht gar keiner Begründung, wenn nur eine Gemeine ist.” 10.9.1749.

LeerIst aber die christliche Gemeinde der einzige Beweis gegen den Unglauben, dann kann der „Zweck eines Hauses Gottes kein anderer sein, als der freie und ungestörte Umgang mit dem Schmerzensmann und das Zeugnis in aller Menschen Herzen, denen man von nahem und fernem bekannt ist: Der Heiland lebet noch, denn da sind seine Jünger, weil sie sind, so ist Er.” 12.6.1753.

LeerSolange wir aber noch nicht .von Angesicht zu Angesicht schauen dürfen , ist in diesem Äon der liturgische Gottesdienst als ganzer „stammelnde Vorwegnahme” des kommenden Äons da wir „erkennen werden gleich wie wir erkannt sind” und da „Gott sein wird alles in allem”. Bis dahin ist alles gottesdienstlich-sakramentale Feiern Ausdruck der Gemeinschaft Jesu Christi mit uns und untereinander. „Liturgien halten, das kann man immer, sich im Geiste vereinigen, zusammen hinstellen. Da geht man nie auseinander, ohne Sein Dasein zu fühlen.” 9.4.1755.
„Beim Sakrament sind Christus und die Glieder seiner Gemeinde in einer Form, sie haben sich ineinander gestaltet.” 1.12.1758.

„Eine gemeinsame Abendmahlsfeier, wo sich eins in das andere und durcheinander in Ihn verliert, ist in der Tat etwas die Natur Übersteigendes.” 13.5.1755.
LeerLebt in dieser Gegenwärtigkeit nicht Kierkegaards Wissen um das „Gleichzeitigwerden” des Christen mit Christus und Luthers Bitte, daß „Einer des Andern Christus werde” in der Gemeinde?

LeerBis zu jener letzten Vollendung der ganzen Schöpfung Gottes in der Könlgsherrschaft Gottes, auf die wir als Christenheit im Glauben unter „Furcht und Zittern” hoffen, versuchen wir in der Liebe Gottes einander zu lieben, so daß „unser Zusammenkommen und Liturgisieren eine tägliche Gratulation ist, da einer dem andern seine Freude bezeugt über die Gemeinschaft an dem Heiland und Seiner lieben Nähe.” (Auszüge Mose 3, S. 1248. 6.3.1757.)

Anmerkung der Redaktion:
In dem gedruckten Aufsatz sind einige Zitate in einer kleineren Schrift gesetzt. Hier werden diese Zitate eingerückt wiedergegeben.


Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 100-106

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-11-30
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