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bei Alexander Vinet nach seiner „Théologie pastorale” von Arthur Graf |
Vor einhundert Jahren erschien in Paris ohne Verlagsbezeichnung die „Théologie pastorale”, ou theorie du Ministère évangélique des Waadtländer Theologen Alexander Vinet. Die ungenannten Herausgeber betonen im der Vorrede, daß der Verfasser kein druckfertiges Manuskript hinterlassen habe, das Werk sei vielmehr da« Kollegheft, dessen sich Vinet bei seinen Vorlesungen an der Lausanner Akademie bediente, die er aber frei zu gestalten pflegte. Es Seien daher auch zahlreiche Nachschriften von Hörern zu Rate gezogen worden. Vinet wurzelte im gottesdienstlichen Leben seiner Heimatkirche. Ihr wollte er dienen, wenn er auch als Protest gegen drastische Maßnahmen der radikalen Regierung 1847 mit 84 Pfarrern der Eglise Nationale aus derselben austrat, und die Eglise Libre - die noch immer besteht - gründen half. Auf die Gesamtkirche der Waadt hatte er denn auch bis auf diesen Tag einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt. Das erwähnte, posthum erschienene Buch zeigt, daß Vinet nicht nur ein „liberaler” Theologe in dem Sinn gewesen ist, daß er aller Gleichschaltung entschieden entgegentrat. Er war ein treuer Verwalter des der Kirche anvertrauten Erbes. Er hat in einer Zeit, in welcher rationalistische Verflachung und pietistische, gefühlsbetonte Unklarheit weithin herrschten, die saubere ideologische Linie, die von Calvin her zu uns herabführt, festgehalten. Ich möchte sagen, daß er auch die Tradition festhielt, welche in dem berühmten Brief ihren Ausdruck findet, den François Rabelais seinem Roman „Gargantua et Pantagruel” eingefügt hat. Es wird darin dem zur Hohen Schule zu Paris reisenden Jüngling eine höchst beachtsame Lebensordnung mitgegeben, die den Satz entwickelt: „science sans conscience n'est que ruine de l'âme”, was wir übersetzen möchten: Es leidet einer schweren Schaden, wenn er ob der geistigen (intellektuellen) Schulung die geistliche Übung vernachlässigt. In diesem Geist hat Vinet 1843-46 die akademische Jugend erzogen und den „esprit de Lausanne” gepflegt, der bis auf diesen Tag nachwirkt. Er sagt „La piété doit s'associer à la théologle pour former le théologien, c'est à dire le ministre du Saint Evangile”. Im dritten Buch der „Institutio” steht das 20. Kapitel „de oratione quae est praecipuum exercitium fidei exercitium”. Für Calvin ist das Gebet somit „exercitium”, Übung. Es dürfte darin etwas mit enthalten sein, das im Wort „officium” liegt, schuldiger Dienst, Verbindlichkeit, moralische Obliegenheit, das Gegenteil von allem „Privaten”, in das Belieben des Einzelnen Gestellten. Der Christ betet nicht „nach Bedürfnis”, sondern ex officio. Von da her kommt Calvin zu einer positiven Wertschätzung der Gebärden und der festen Gebetszeiten. Vinet handelt in seiner Pastoraltheologie natürlich vorerst vom Pfarrer. Er setzt voraus, daß er aus heiliger Berufung (rite vocatus: Augustana) ins Amt getreten ist und nicht „anderswo hereingestiegen” ist (Joh. 10, 1). Er setzt auch hingebungsvolle Bereitschaft zum Dienst (esprit fervent) voraus. Aber gleichwie der Christ überhaupt, gemäß 2. Petr.1 10 „seine Berufung fest machen soll”, so auch, und besonders, der Pfarrer. Vinet weiß von einem unsichtbaren, geheimnisvollen Zusammenwirken (un concours profond) des von dem göttlichen Willen erweckten Willens des Menschen mit dem, der ihn erweckt hat. Darin ist dir Berufung der Bekehrung durchaus entsprechend. Wohl wird man in gewissem Sinn einmal bekehrt, und so auch einmal berufen. Andererseits aber wird einer täglich bekehrt und berufen. Diese Entsprechung wäre als argumentum a fortiori genügend, die Schrift aber ist eindeutig und klar: „Ich ermahne dich, schreibt Paulus, daß du wiederentzündest (anaxopyrein to charisma) die Gnadengabe Gottes, die in dir ist durch Auflegung meiner Hände” 2. Tim. 1,6. Es ist durchaus denkbar, daß es so gleichsam nachträglich erst zu einer echten Berufung kommt. Niemals aber genügt es, ein übertragenes Pfarramt einfach zu verwalten. Schon solche Ausübung des Amtes sollte freilich die Gewißheit der Berufung stärken, sie kann aber auch das Gegenteil bewirken. So bedarf es denn eines Gleichgewichtes, in dem das Innenleben auf das äußere Tun einwirkt, und andererseits das Werk das geistliche Leben fordert und lebendig erhält. Wird das Amtsbewußtsein zur Funktion, so tötet diese das echte Berufungsbewußtsein. Es mag interessieren, daß Vinet hier mit großer Unbefangenheit den französischen Oratorianer Massillon und dessen „Discours sur la nécessité où sont les ministres de se renouveler dans l'esprit de leur vocation” zitiert. Er zeigt sich als Menschenkenner, der um die Unzuverlässigkeit der menschlichen Affekte weiß. Das erste Mittel, seiner Berufung als Pfarrer aufs neue gewiß zu werden, liegt darin, daß wir uns unserer Berufung als Christen neu bewußt und gewiß werden. Vinet schreibt: sind wir Seelsorger, so müssen wir uns vor allem andern um die eigene Seele sorgen. Wieder zitiert er Paulus 1. Tim. 4,16: Hab acht auf dich und die Lehre, denn wenn du das tust, wirst du dir und denen, die dich hören, Heil bringen. Auch die Ältesten von Ephesus mahnt er: .Habt acht auf euch selbst und auf die Herde, die euch befohlen ist” (Apg. 20, 28). Zur Auslegung dieser Stellen verweist er auf die griechischen Väter, wie auf einen zeitgenössischen französischen Bischof Duguet „Traité des devoirs d'un évêque” . Welches sind nun die Mittel und Hilfen, die Vinet empfiehlt? Es sind: Stille heißt nicht Untätigkeit. Christsein heißt denken, nicht träumen. Daher der dreifache Gebrauch der Stille: a) Gewissenserforschung. Als treuer Haushalter sollten wir jeden Abend die Bilanz unseres innern Lebens ziehen. Der Dieb pflegt in der Nacht einzubrechen. Doch hüte man sich vor frommer Selbstsucht! Man spreche nicht viel von sich, doch achte man auf scheinbare Kleinigkeiten, b) Man sammle Erfahrungen. Erfahrung ist Reaktion aus Tatsachen, Begebenheiten. Man soll sichten, abklären, ordnen, was man erlebt hat. c) Alles muß vor Gott geschehen. Es gilt Ihn befragen, alles in Sein Licht rücken. Wie sehr tut das dem Pfarrer not, der so vieles zu entscheiden hat. Ist Gott Ratgeber, wird mancher Fehltritt vermieden. Das Gebet des Pfarrers ist aber priesterliches Gebet, und daher wirklich Officium, wie des Moses Gebet auf dem Berge. Die Fürbitte ist, was dem protestantischen Pfarrer vom Priestertum geblieben ist. Dagegen sei alles, was nur aus Neugier getan wird, Wortgefechte und unnützes Fragen, verpönt. Man erwarte auch nicht vom Studium, was es nicht bieten kann: Erkenntnis Gottes, Gottesliebe, Friede des Herzens. Wissenschaft ist Propaedeutik, zeigt uns unsere Grenzen, wie das Gesetz auch tut (Gal. 3, 24). Gott lehrt die Demütigen. Auch hüte man sich vor allem Übermaß: der bescheidenste Dienst, den das Amt von uns heischt, muß uns wichtiger sein als alle Wissenschaft. Aber man kann auch in der „Praxis” verflachen. Vinet verweist auf Bengel, von dem er 1842 eine Sammlung Aussprüche herausgegeben hat. Die Apostel haben das Wissen nicht verachtet, aber seine Gefahren nicht verschwiegen (1. Kor 8, 3). Vinet will aber das Studium nicht auf Bibel und Theologie beschränken, er denkt auch nicht daran, ein Gesetz auszustellen. Aber er erinnert an die Regeln, die bestimmte Ordnung, die das Leben von Unrast und Betriebsamkeit frei halten. Der Pfarrer soll mehr als jeder andere „geistlich arm” sein, und sich täglich zu sterben üben (1. Kor. 15, 31). So spricht er mit Bezugnahme auf 1. Tim. 4, 8 von Askese (ascétisme). Wenn er mit Paulus allen selbst gewählten Gottesdienst ablehnt, so weiß er andererseits, daß wir in Gefahr stehen, dem Fleisch Raum zu geben. Darum mahnt er zur Selbstbeherrschung (1. Kor. 9, 27, Röm. 13, 14). Ferne sei aller verdienstliche Legalismus, aber das exercitium, die geistliche Übung darf nicht vernachlässigt werden. Die Schrift macht kein Aufhebens von Beten und Fasten, aber sie kennt die Übung „Abusus non tollit usum”. Der Christ ist frei. Er hat, als hätte er nicht. Insbesondere warnt Vinet davor, die Dinge durch die Brille römischer Mißbräuche zu sehen. Er empfiehlt die leibliche Übung, sie soll nie gesetzliches Werk werden. So hält sich Vinet von allem leibfeindlichen Spiritualismus frei, weist aber deutlich auf die Beschwerung hin, welche in den Ansprüchen des Leibes liegt. Der Leib ist Diener, es ist gut, wenn er nicht zum Herrn wird Zudem bezieht sich wahre Askese sowohl aus die Gelüste des Geistes wie des Leibes. Eitelkeit, Neugier, Geltungsbedürfnis, Herrschsucht u. a. m. dürfen nicht geduldet werden, samt allem, was unsere Lebensstraße verbreitern will und sie in Wahrheit verfälscht, denn es ist der schmale Weg, den wir zu gehen haben. Es gilt immer wieder die Liebe zum Amt und zur Gemeinde verwirklichen, die des Opfers fähig ist. Gerade hier wird jene Linie sichtbar, die von Calvin herkommt (vergl. Jnstitutio 3, Kap. 3 und 7 „De poenitentia und de abnegatione sui”). Was nun die Worte betrifft, so möchte sie Vinet „symboliques, sacramentelles, comme le reste”. Er steht eine gewisse Unvereinbarkeit zwischen lebendigem Wort und vorgeschriebenem Wortlaut (parole prescrite). Er befürwortet, wie Calvin, daher das „freie Gebet”. 1. das Ganze evangelischen Glaubenslebens zum Ausdruck bringen, unverkürzt. Jeder Gottesdienst vermittelt den ganzen Christus; 2. soll das sachgemäß sein, so kann es nur biblisch sein. 3. Der Mensch soll erhoben werden im Sinne des „sursum corda”. Wenige, aber überzeugende Riten (vergl. dazu Bullinger, Confessio Helvetica), Vinet schätzt die Litanei, die in ihrer Kindlichkeit echter Ausdruck der Anbetung ist. 4.Liturgie darf nicht ermüden. In ihr sind die alten Formen wesentlich, man sollte erst nach langer Zeit an Neuformulierungen denken, und dann Vorsicht üben! Je mehr sie Liturgie und nicht Kompendium der Dogmatik ist, um so länger ist ihre Lebensdauer. Wenn auch aller bloße Formalismus vom Übel ist, so gibt es doch Dinge, die nicht wie die Mode wechseln dürfen, und eine gewisse Kirchlichkeit ist nur gut. Wenn schon das Gewand wichtig ist, weil es den Menschen verhüllt, so muß doch gesagt werden: je mehr wahre Geistlichkeit, um so weniger wichtig ist das Gewand. Je mangelhafter eine Liturgie ist, um so sorgfältiger soll sie der Pfarrer handhaben. Das Gebet aber ist Zentrum und Schwerpunkt. Es sei erwähnt, daß Vinet sich abermals auf Bengel beruft. Wir fassen zusammen. Erst Pietas, dann Wissenschaft, Theologie. Man soll nicht mit dem Intellekt Wahrheiten erfassen wollen, die irrational sind. Die Wahrheit wird mit dem Herzen erfaßt. („L'Evangile compris par le coeur” in Discours religieux, pag. 29.) Der Glaube muß gelebt werden. Das ist nie im Sinne eines moralischen Pragmatismus gemeint, sondern will die Ganzheit des Menschen wahren. Es ging Vinet niemals um Individualismus im Sinne des bürgerlichen Liberalismus. Auf seinem Denkmal steht: „Je veux l'homme libre de soi-même, pour être mieux le serviteur de tous.” Nach alledem ist uns klar, warum und wie es in dem Lande, in dem Vinets Geist noch immer lebendig ist (wenn auch ebenso unzweifelhaft unter dem nachwirkenden Einfluß Johannes Calvins, und auch von Blaise Pascal, dem Jansenisten), zu einer Bewegung hat kommen können, deren Frucht die Communauté von Grandchamps und die Bruderschaft von Taizé sind. „Es bedeutet für uns eine große Freude, daß wirklich die Wahrheiten, die uns neu aufgegangen sind, .zwar in den Kirchen, denen wir unmittelbar dienen, gänzlich unbekannt geworden sind, der einen, heiligen Kirche aber in aller Welt, sehr wohl bekannt sind.” (Prof. van der Leeuw †.) Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 106-111 |
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