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Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist
Eine Erntefestbetrachtung
von Edith Thomas

LeerWir können uns kein Erntefest ohne dies Psalmwort denken. Wir dürfen die Fülle der Schöpfungsgaben anschauen, die uns zur Erhaltung des Lebens geschenkt werden, wir dürfen „schmecken, wie freundlich der Herr ist” - ganz leibhaftig, im Wohlgeschmack der Früchte im Duft des Kornes und des frischgebackenen Brotes und der Blumen.

LeerAber es ist für uns Kulturmenschen doch eigentlich nicht so selbstverständlich, wie hier im Psalmwort diese beiden Sinne nacheinander genannt werden. Als kleine Schulkinder lernten wir, daß der Mensch fünf Sinne hat: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Getast. Es ist sicher kein Zufall daß das Gesicht an erster Stelle genannt wird. Das hängt zusammen mit dem Herrscherbewußtsein des Menschen. Wer herrschen, oder sagen wir in der Sprache unserer Zeit: wer dominieren will, muß vor allem sehen können, möglichst viel überblickender muß „Weitblick” haben. Der Blinde ist mehr als alle anderen hilflos, auf menschliche Hilfe angewiesen.

LeerFreilich wenn wir gefragt würden, welches der Hauptsinn des Menschen ist, würden wir da nicht den zweiten Sinn nennen? Was den Menschen am grundlegendsten von allen anderen Wesen unterscheidet, ist die Sprache, die geistige Brücke von Mensch zu Mensch. Ein Blindgeborener trägt ein unendlich schweres Schicksal, denn nur zum Teil läßt sich unsere Vorstellungsweit durch Gehör und Tastsinn wahrnehmen. Und doch ist das Schicksal des Taubgeborenen unvergleichlich schwerer. Ihm fehlt die wichtigste Brücke des geistigen Verkehrs; unter unbeschreiblicher Mühe kann eine Notbrücke gebaut werden, die aber nur den dürftigsten Verkehr gestattet. Der gehörlose Mensch ist der einsamste Mensch. Je mehr der Mensch in der geistigen Welt lebt, desto wichtiger ist für ihn, hören und sprechen können. Der Sprachgebrauch ist auch hier aufschlußreich: Es liegt eine gewisse Geringschätzung in dem Wort „Hier gibt es etwas zu sehen.” Menschen, die immer etwas sehen müssen, das sind nicht die geistig Interessierten, sondern die billige Bedürfnisse befriedigen wollen.

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LeerDie drei anderen Sinne - sie liegen für unser Empfinden näher beieinander, wir würden sie die primitiveren nennen - stehen beim Menschen nicht so im Mittelpunkt der Beachtung. Und doch ist der Tastsinn eigentlich der erste Sinn, mit dem auch der Mensch sein Dasein beginnt. Das neugeborene Kind, dessen Äuglein selten offen sind und noch lange den geheimnisvollen Schleier tragen, es spürt die Nähe der Mutter. Der kleine Mund und die winzigen Händchen erobern die umgebende Welt. Erst langsam tun sich die Augen auf, und es ist tief verborgen, wann zum erstenmal über die Brücke des Gehörs etwas in die kleine Seele gelangt. Aber noch lange bilden die Sinne eine Einheit- daß ein Kind nach allem greift und es zum Mund führt, ist weder „Unart” noch Hunger - noch sind der erste und der letzte Sinn eine Einheit; schauend, hörend und tastend zugleich erforscht es die Welt. Und nun tritt vor uns in der Kirche dies Psalmwort, das die beiden, für unser Empfinden so weit auseinanderliegenden Sinne in einem Atem nennt: Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist. Es spannt einen Bogen vom letzten bis zum ersten Sinn. Und unter diesem Bogen steht der Altar mit dem heiligen Sakrament. A l l e Sinne sind Brücken, auf denen G o t t  i n  u n s e r e  W e l t  k o m m t.

LeerDie Bibel beginnt mit einer Reihe gewaltiger Bilder; jedes Bild trägt als Unterschrift: Und Gott sah, daß es gut war. Das erste Kapitel der Bibel schließt mit dem Wort- Siehe da, es war sehr gut.

LeerDas letzte Buch der Bibel reiht wiederum Bild an Bild, und unter jedem Bild steht: Ich sah. Als letztes Bild tritt Er vor uns, der zu uns spricht: S i e h e, Ich komme bald.

LeerEs gibt verschiedenes Sehen. Der Herrscherblick will erobern, der Forscherblick will erkennen; der neugierige Blick will ohne Ehrfurcht sich in alles eindrängen. Es gibt ein oberflächliches Sehen, das über möglichst vieles hinweghuscht und meint, alles gesehen zu haben, während es nichts gesehen hat. Es gibt ein genießerisches Sehen, ein erbarmungsloses Sehen. Was die Bibel meint, wenn sie uns zuruft: Siehe! ist ein anderes Sehen. Nur wer weder dominieren, noch erkennen, noch genießen, noch sich eindrängen und etwas aneignen will, der kann das, was die Bibel meint: die Tür auftun und warten, was über die Brücke zu uns kommt.

LeerWeil es so wenig echtes Schauen gibt, meinen viele, das Gehör wäre die Brücke, auf der Gott vor allem zu uns kommt. Und es ist wahrlich etwas unendlich Ernstes und Wichtiges, daß uns von Gott gesagt ist: Niemand hat Ihn je gesehen - aber: Heute, so ihr Seine Stimme höret!

LeerHörenkönnen ist eine ebenso seltene Kunst wie Sehenkönnen - schon unter Menschen. Es ist etwas wahrhaft Großes, wenn ein Mensch die Augen schließen kann und nur lauschen. Wir schalten manchmal einen Sinn aus, damit der andere um so tiefer aufnehmen kann. Wie wir in manchen Stunden, etwa beim Anblick einer Landschaft, nur schauen möchten und auch das erklärende Wort störend empfinden, so möchten wir in anderen Stunden nur hören, wir schließen die Augen. Immer tritt mir das Bild vor die Seele, wie in der Nürnberger Frauenkirche die beichtehörenden Priester ihr Gesicht mit dem weiten Ärmel der Albe verhüllten, während ihr Ohr am Gitter lehnte und lauschte- das Bild des Menschen, der „ganz Ohr” ist. Erleben wir es nicht auch im täglichen Verkehr immer wieder, daß wir, wenn das Gespräch am tiefsten geht, einander nicht in die Augen schauen? Nur das eine Tor soll offen sein, damit der Weg über die Brücke gefunden werden kann. So verhüllen auch die Engel im Bild der Bibel vor Gott ihr Angesicht (d. h. ihre Augen), nur ihr Ohr lauscht Seinem Wort.

LeerIn der Liturgie ist beides verbunden; sie läßt uns hören und schauen zugleich. Das Sakrament hat man daher das „sichtbare Wort” genannt. Aber wenn wir die Liturgie miterleben, dürfen wir noch mehr: Schmecken.

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LeerBeim Kind sind alle Sinne eine Einheit. Ein Kind, das rein abstrakt nur hört, gibt es nicht. Wenn die Mutter Märchen erzählt, sieht es Bilder. Und beim Singen singt nicht nur Mund und Kehle, der ganze kleine Mensch muß mittun, die kleinen Hände sind das sich drehende und klappernde Mühlrad, oder sie wiegen das Püppchen und lassen den nur in der Phantasie vorhandenen Besen die Stube fegen. Je „geistiger”, d.h. „verständiger”, wir werden, um so unkindlicher werden wir auch. Aber im Gottesdienst sollen wir werden wie die Kinder: wir dürfen hören und schauen zugleich, wir dürfen mit allen leiblichen Sinnen und Gliedern teilhaben am heiligen Dienst, wir dürfen die Hände erheben, mitsingen, uns neigen, zum Altar schreiten, niederknieen und den Mund auftun, um zu schmecken, wie freundlich der Herr ist. Der Geruch des Weihrauchs bedeutet für manchen das gleiche wie für einen anderen der Orgelklang: Er fühlt ganz leibhaftig, in der Kirche zu sein. Das Eintauchen der Hand ins Weihwasser und das Benetzen von Stirn und Brust läßt auch dem, der seine Taufe nicht bewußt erlebt hat, die Taufe immer eine lebendige Wirklichkeit bleiben. Wenn wir kindlicher wären, wäre es eine Selbstverständlichkeit, uns mit dem Kreuzzeichen zu segnen, d. h. zu bezeichnen, wie es noch Luther selbstverständlich war. Und wenn wir im Neuen Testament lesen „er schlug an seine Brust”, so sollten wir daran denken, daß die Kirche dies immer ganz leibhaftig getan hat beim Sündenbekenntnis, und daß unsere Geringschätzung der leiblichen Gebärde vielleicht der erste Schritt ist aus dem Garten Gottes, in dem wir alle Kinder sein dürfen.

LeerAuf allen Brücken kommt Gott zu uns. Wer blind ist, darf Ihn hören; der Taube kann am Gottesdienst schauend teilnehmen, er sieht an der Farbe der Altarbekleidung, welches Fest wir feiern, er sieht, wenn der Liturg zum Gebet die Hände erhebt, zum Evangelium an die Seite des Altars tritt, zum Sanktus sich verneigt, zum Sündenbekenntnis niederkniet, bei den Einsetzungsworten das Kreuzeszeichen macht über Brot und Kelch, zum Gruß und zum Segen sich zur Gemeinde wendet. Und der, dessen Gesicht und Gehör schon versagen, er darf mit zum Altar treten, die heilige Speise empfangen, die segnende Hand spüren. Und das Kind, das von all dem „nichts versteht”, es nimmt in Klang, Bild und Gebärde in sich auf, was ihm erst viel später „klar wird”, es wird mit hineingenommen, es darf schauen und hören und „mittun” beim heiligen Dienst.

LeerDer Tastsinn ist die erste Brücke zwischen dem Kind und seiner Umwelt - er ist auch oft die letzte, die den Menschen zum Menschen kommen läßt, wenn schon die anderen Brücken abgebrochen sind. Wer erlebt hat, wie die Angehörigen eines Sterbenden ihm um jeden Preis noch ein Abschiedswort zurufen oder ihn wecken wollen und dadurch die scheidende Seele von der Schwelle ins Jenseits zurückholen in die Qual und Unruhe dieses Daseins, der wird mit besonderer Dankbarkeit daran denken, wie Carl Happich aus seiner reichen ärztlichen Erfahrung heraus ermahnte, den Sterbenden still betend die Hand auf die Stirn zu legen als Hilfe im letzten Kampf. Das Kreuzeszeichen, mit dem die Kirche das neugeborene Kind aufnimmt, ist zugleich der letzte Abschiedsgruß an der Schwelle zum Jenseits.

LeerSchmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist - die Zerspaltenheit unseres Lebens in niedrige und höhere Funktionen wird einmal aufgehoben sein; und schon jetzt gibt es einen Ort, wo wir, wie Kinder, mit allen unseren Sinnen bereit sein dürfen für Sein Kommen.

Evangelische Jahresbriefe 1951, S. 215-217

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 15-12-01
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