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von Wilhelm Stählin |
Aller Widerwille gegen eine geräuschvolle und alle Lebensräume durchdringende Propaganda und aller Abscheu gegen den Terror, mit dem eine befohlene Weltanschauung die Gewissen vergewaltigt, darf uns nicht darüber täuschen, daß sehr viele Menschen, namentlich der jüngeren Generation, wirklich an eine neue und bessere „soziale” Ordnung glauben, und daß sie diesem Glauben auch dann mit innerer Leidenschaft ergeben sein werden, wenn er nicht mehr von Propaganda und Zwang gestützt sein wird. Wir hören immer wieder Stimmen, es sei notwendig, der Ideologie des Ostens eine Ideologie des Westens gegenüberzustellen und der Jugend Ideale nahezubringen, die in der Konkurrenz mit den Idealen sozialer und politischer Utopien bestehen können. Dieses scheint mir ein sehr fragwürdiger und kurzsichtiger Plan, ja es scheint mir geradezu ein Musterbeispiel für den verbreiteten Versuch zu sein, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Ideen lassen sich nicht künstlich nach Wunsch und Bedarf produzieren, und alles bloß aus der Polemik gespeiste Denken ist von vornherein in der äußersten Gefahr, dem gehaßten und bekämpften Gegner innerlich hörig zu werden. Es ist das Wesen aller solcher Ideologien, daß sie sich zwischen den lebendigen Menschen und die Wirklichkeit der Welt und des Lebens, ja die Wirklichkeit seiner selbst, schieben und ihn nötigen, alles durch die verzerrende Linse eines fremden und künstlichen Auges zu sehen. Darum gibt es keine andere Waffe gegen jene Ideen- Gläubigkeit als die nüchterne Erkenntnis der Wahrheit. Alles andere, imponierende Schlagworte, schöne und tiefsinnige Symbole, stimmungsvolle Feiern und theatralische Verpflichtungen, oder was es sonst sein kann, können höchstens vorübergehende Eindrücke vermitteln. Aber im Kampf der Ideologien werden, auf längere Sicht gesehen, immer die primitivsten und radikalsten Programme, die mit der größten Lautstärke vorgetragen werden, sich durchsetzen. Es gilt ganz buchstäblich, daß nur die Wahrheit frei macht, und daß man die Freiheit nicht haben kann ohne die Wahrheit. Nur die tiefere Einsicht in die Wahrheit und Wirklichkeit aller Dinge kann die Menschen immun machen gegen die ideologische Ansteckung. Darum wäre es ein selbstmörderischer Irrtum, wenn wir die Verkündigung der christlichen Wahrheit selbst als einen Konkurrenten im Kampf der Weltanschauungen, als christliche „Idee” im Widerstreit mit anderen „Ideen” verstehen und praktizieren wollten. Aber Menschen, die selber im Grunde an nichts glauben, weil sie nicht an eine e r k a n n t e Wahrheit gebunden sind, sollen sich nicht einbilden, sie könnten überlegene Ideen oder Ideale erfinden, um einen falschen Glauben zu erschüttern. Darüber hinaus ist dieses „Evangelische Kirchengesangbuch” das Symptom einer geistigen, ja religiösen Veränderung innerhalb der reformatorischen Kirche; es ist das Bekenntnis zu einer entschlossenen Rückkehr nicht nur zu dem Lied der Väter, sondern zu dem unsentimentalen und nicht durch subjektive Erbaulichkeit verfälschten Glauben der Kirche. Es gibt Lieder, die noch in der Zeit unserer Jugend zu den beliebtesten zählten, und die wir nicht mehr hören und singen mögen; und es gibt andere Lieder, die wir wieder entdecken, in die wir uns, bisweilen nicht ohne Mühe, erst wieder hineinfinden müssen, und die uns durch ihre innere Größe und Gewalt ergreifen und die wir lieb gewinnen wie eine herbe und unromantische Landschaft der Heimat. Es ist kein Gegensatz dazu, wenn ein gutes Dutzend von Liedern des EKG von Dichtern der Gegenwart und ihre Weisen von lebenden Komponisten stammen; denn über zwei oder mehr Jahrhunderte hinweg knüpft die Liederdichtung und Kirchenmusik der Heutigen, inhaltlich noch mehr als formal, unmittelbar an das Erbe der Reformation an, und dieses ist der tiefste Grund für die dankbare Freude, mit der wir dieses neue Gesangbuch in Gebrauch nehmen. Es wäre unehrlich, wollte man beides verschweigen, etwa deswegen, weil heute sehr viele Menschen sich für berechtigt halten, mit herablassendem Lächeln von der Romantik des Wandervogels, von Zupfgeigenhansl-Sing-Sang und von etwas unkultivierten „Horden” zu sprechen. Und es steht manchmal zwischen Mensch und Mensch tiefer und entscheidender als sehr grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten, ob man das Erbe der Jugendbewegung als ein Stück des eigenen Schicksals in sich trägt oder nicht; die größere Unbefangenheit und Natürlichkeit, eine innere Beweglichkeit und Offenheit für andere und anderes, ein Bemühen um leibhafte Ganzheit der Lebensgestaltung ist in vielen Fällen über die Jahrzehnte hinweg das Siegel derer, die „einmal” „Wandervögel” gewesen sind. Aber wir sind doch alle nach irgend einer Richtung weitergewandert und haben eben nicht das Verlangen, uns „hier in diesem Tal” noch viel hundertmal zu treffen, aus dem wir nach verschiedenen Richtungen auf sehr verschiedene Berge (oder vielleicht in andere Täler) gestiegen sind. Es ist nicht leicht möglich, zu überschätzen, welche tiefen Wirkungen die Jugendbewegung als ein Ferment unserer geistigen Entwicklungen (wahrhaftig nicht nur im persönlichen Sinn) hervorgebracht hat; aber sie hat sich in das Ganze des Lebens aufgelöst, und nur ein genialer Geschichtsschreiber könnte den Versuch machen, sie in ihrer geschichtlichen Einmaligkeit aufzusuchen und zu beschreiben. Es ist natürlich, daß, nachdem der Spuk der Karikaturen verflogen ist, viele verblaßte (und bewußt verfälschte) Erinnerungen wieder auftauchen; aber die „Jugendbewegung”, deren Erinnerungsfest in diesen Wochen begangen worden ist, war etwas anderes als die Bewegungen, die in jeder jungen Generation aufwallen; sie war eine aus einer bestimmten und unwiederholbaren Zeitsituation geborene einmalige geschichtliche Erscheinung, die vergangen ist und in ihren Nachwirkungen schon heute verblaßt. Man darf sich nicht durch dankbare Rückschau, die einer gewissen Romantik nicht entbehrt, zu dem Wunschtraum verführen lassen, man könnte eine solche Jugendbewegung von neuem hervorrufen. Es ist vielmehr eine ernste und sorgenvolle Frage, ob in der heute jungen Generation nicht eben jene Kräfte und Lebensanstöße fehlen, die vor fünfzig Jahren die Wandervögel in die Einsamkeit und Stille der Wälder und Seen und in den jugendbewegten Stil des Lebens getrieben haben. Dümmeres Zeug kann man wirklich nicht schwätzen. Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 26-30 |
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