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Wüste
Rudolf Stählin

LeerDie Wüste, in der das Volk Israel zum Volk geworden ist und in der es die grundlegenden Erfahrungen seiner Geschichte gemacht hat, ist für das Gottesvolk der alttestamentlichen und der neutestamentlichen Zeit ein bedeutsames heilsgeschichtliches Symbol geworden. Besonders das Alte Testament nimmt immer wieder Bezug auf die Wüstenzeit des Volkes und betrachtet sie als die klassische Zeit seiner Geschichte, der man allezeit „gedenken” soll. Aber auch der Apostel Paulus redet davon, daß die Wüsten-Geschichte als Vorbild und als Warnung für das neutestamentliche Gottesvolk „typische” Bedeutung habe (1. Kor. 10, 6.11). Der Weg Israels durch die Wüste ist für die Christenheit ein Urbild ihres Weges zum Lande der Verheißung im Himmel.

LeerGeographisch ist die Wüste, durch die das Volk Israel vierzig Jahre lang gezogen ist, der Raum zwischen Ägypten und Palästina auf der Halbinsel Sinai. Die wichtigste Wüstenstation ist Kadesch (5. Mose 1, 46). Dort spielen die entscheidenden Wüsten-Geschichten (2. Mose 17; 4. Mose 13. 14. 20. 27, 14). Nach ihrer Beschaffenheit ist die Wüste im Unterschied zu Ägypten mit seine Fleischtöpfen und im Unterschied zum verheißenen Land, da Milch und Honig fließt, als „groß und grausam” charakterisiert (5. Mose 1, 19), als ein wildes, ungebahntes Land, ein dürres und finsteres Land, ein Land, da niemand wandelt noch ein Mensch wohnt (Jer. 2, 6). Was das Volk dort erfahren hat und was der Sinn dieser Erfahrungen war, was also das Gottesvolk bedenken soll, ist nach 5. Mose 8, 2-4. 15-18 folgendes:

Leer1. Es ist Gott, der das Volk in die Wüste geführt hat. Dort will er sein Gesetz offenbaren. Dort will er sein Volk durch Nöte und Entbehrungen erproben.

Leer2. In der Wüste wird offenbar, was in den Herzen ist. Hier entscheidet es sich, ob das Volk Gottes Geboten gehorcht.

Leer3. In der ausweglosen Not der Wüste (Hunger und Durst) erfährt das Volk die wunderbare Hilfe Gottes und erkennt, daß es nicht allein von seinen eigenen Möglichkeiten, sondern von Gottes freier Güte lebt. Trotz allen Entbehrungen haben die Kinder Israels stets, was sie brauchen; denn Gott ist bei ihnen und nimmt sich ihr Reisen durch die große Wüste zu Herzen (5. Mose 2, 7).

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LeerDiese dreifache Wüstenerfahrung ist noch genauer darzulegen:

LeerZu 1: Daß das Volk in die Wüste geführt wird, ist nicht sein eigenes Mißgeschick oder Ungeschick, sondern Gottes heiliger Wille (2. Mose 3, 17 f.; 13, 17; 18,21). Um ins Land der Verheißung zu kommen,  m u ß  es durch die Wüste ziehen - und zwar auf Umwegen. Hier kommt das Volk zu sich selbst und konstituiert sich als geordnete Gemeinschaft (4. Mose 1, 1 ff.).

LeerZu 2: In der Wüste wird in erschreckender Weise der Ungehorsam des Volkes offenbar. Es vermag nicht, Gott zu vertrauen und ihm die Führung zu überlassen, sondern es murrt, zankt und hadert: Warum hast du uns in die Wüste gebracht, daß wir hier sterben? (2. Mose 14,11; 16, 2 f.; 17, 2 f.; 4. Mose 14, 2 ff.; 16, 3 f.; 20, 4 f.; 21, 5). Es sehnt sich zurück nach dem Zustand vor seiner Berufung, wo es unter der Herrschaft der „Welt” stand und zu essen hatte, während Gott es jetzt Hunger und Durst leiden läßt. So verliert das Volk über dem Entbehren von Brot und Wasser das Vertrauen auf Gott und wird aufsässig. Das geschieht bei der Auszugs-Generation (2. Mose 16, 17) und wiederholt sich bei der nächsten Generation (4. Mose 20). wo sogar Mose selbst an Gott zu zweifeln beginnt (vergl. die Erklärung der Verse 20, 10 ff. in der Stuttgarter Jubiläumsbibel!). Zur Strafe dafür, daß sie Gott immer wieder versucht und seiner Stimme nicht gehorcht haben, darf keiner von denen, die aus Ägypten ausgezogen sind, in das Land der Verheißung kommen. Sie müssen alle - bis auf Josua und Kaleb - in der Wüste sterben. Eine Strafzeit von vierzig Jahren - ein Menschenalter - wird über das Volk verhängt; so lange muß es seine Missetat tragen. Erst die nächste Generation darf das Land der Verheißung sehen (4. Mose 14, 22-37; 20, 12).

LeerZu 3: Gott beantwortet das Murren des hungrigen und durstigen Volkes immer wieder mit einer wunderbaren Speisung. So ist die Wüstengeschichte auch eine Geschichte der göttlichen Hilfe und Erhaltung. Gott tränkt das Volk mit Wasser aus dem Felsen (2. Mose 17, 4; 4. Mose 20) und läßt während des ganzen Wüstenzuges Manna vom Himmel regnen, das alle speist (2. Mose 16. Das Ende des Manna-Wunders ist Jos. 5, 12 berichtet). So bezeugt Gott auch und gerade in der Not der Wüste seine Gegenwart und erhält sein Volk, obwohl es das eigentlich nicht verdient. Gerade in dieser unergründlichen Barmherzigkeit „verherrlicht” er sich an seinem Volk (4. Mose 20, 13; vergl. die Zürcher Übersetzung).

LeerDie Erinnerung an diese klassische Zeit der Volksgeschichte bleibt auch im Lande der Verheißung lebendig und wird in der Gottesgemeinde gepflegt. Das besonders im Deuteronomium so gepflegte „gedenke” sorgt dafür. Es läuft aber durch die ganze biblische Geschichte hindurch: 5. Mose 32, 7 ff; Hos. 13, 5 f.; Hes. 20, 10 ff: Neh. 9, 19-21; Ps. 78; 95; 105, 39-41; 106, 13 ff.; Apg. 7, 30.36; 1. Kor. 10, 3 ff.; Hebr. 3, 7 ff. Diese beständige Erinnerung an die Wüstenzeit hat dazu geführt, daß sie im Bewußtsein des Volkes verklärt wurde und geradezu Züge der Heilszeit angenommen hat. Man weiß, daß man Gott nirgends und nie so unmittelbar ausgesetzt ist wie in der Armut und Entbehrung der Wüste. So verkündigen einzelne Propheten für die Heilszeit einen erneuten Auszug i n die Wüste (Hos. 2, 16; Hes. 20, 35 f.). So erwartet man im Spätjudentum, daß in der Endzeit das Manna-Wunder wieder auflebt - diese Erwartung steht hinter der Brotrede in Joh. 6 - und daß der Messias einmal aus der Wüste kommt - das steht hinter Matth. 24, 26; Apg. 21, 38 und Apc. 12, 6.14. So erklärt sich auch eine Erscheinung wie die der Rehabiter, die noch in Kanaan streng an der nomadischen Lebensweise der Wüsten-Zeit festhalten und alle Errungenschaften kanaanäischer Kultur als einen Abfall von dem Gott, der sich in der Wüste offenbarte, ablehnen (vergl. Jer. 35, 1 ff.). Und schließlich hält das Laubhüttenfest im Volk die Erinnerung an das Wohnen in Zelten während des Wüstenzuges als die „eigentliche” Lebensform des Gottesvolkes lebendig (3. Mose 23, 42 f.).

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LeerÜber diese heilsgeschichtliche Bedeutung der Wüste hinaus begegnet uns die Wüste in der Schrift noch unter verschiedenen Aspekten:

Leera) Ein blühendes Kulturland und eine lebensvolle Stadt können zur Wüste werden, wenn dort Gottes Ordnung nicht heilig gehalten wird. Diese Gerichtsdrohung ergeht im Alten Testament häufig über große Weltmächte (z.B. Hes. 35, 4; Jes. 27, 10; Jer. 25, 12; 51,26), aber auch über Israel und Jerusalem (z.B. Jer. 25, 9-11; Klagel. 1, 13; Hes. 5, 14).

Leerb) Umgekehrt ist auch verheißen, daß Wüsten zu fruchtbarem Land werden sollen: Jes. 32, 15; 35, 1.6; Hes. 36, 10. Besonders die Heilsverkündigung des zweiten Jesaja malt dieses Bild mit leuchtenden Farben: Jes. 41, 17-29; 43, 19; 51, 3.

Leerc) Die Wüste ist der unheimliche Wohnsitz der Dämonen. Am großen Versöhnungstage wird der Bock für Asasel, beladen mit den Sünden des Volkes, in die Wüste geschickt (3. Mose 16, 10. 21 f.). Vergl. auch Tob. 8, 3. In der Wüste wird der Herr vom Satan versucht (Matth. 4, 1 ff.). Der Besessene, von dem Luk. 8, 29 erzählt, wird von den Dämonen in die Wüste getrieben. Und in der Wüste erblickt der Seher die große Hure Babylon (Offenb. 17, 3).

Leerd) „Wüste” bedeutet schließlich in einem weiteren Sinne die Einsamkeit, i n der Gott an einzelnen Erwählten, die er dorthin führt, sein Werk tut. Denn in der Wüste erhebt der Herr seine Stimme. Durch die Wüste fährt er einher (Ps. 68, 5.8). In der Wüste soll ihm ein Weg gebahnt werden (Jes. 40, 3). In der Wüste wird Mose berufen und Elia wunderbar gestärkt und zum Gottesberg geführt (1. Kön. 19). Johannes der Täufer tritt in der Wüste auf und proklamiert da die Herrschaft Gottes und das Kommen Christi und sein Bußruf führt die Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung heraus und in die Einsamkeit (Matth. 3, 1 ff.), wo sie unmittelbar vor Gott stehen. Der Herr selbst wird, bevor er seine öffentliche Wirksamkeit antritt, in die Wüste geführt und dort vom Satan versucht. Auch Paulus war nach seiner Berufung drei Jahre in der Wüste (Gal. 1, 17). Und diese Einsamkeit der Wüste ist auch die geeignete Stätte des Gebets (Mark. 1, 35; Luk. 4, 42; 5, 16). In solcher Einsamkeit geschehen auch die Speisungswunder der Fünftausend (Matth. 14, 13) und der Viertausend (Matth. 15, 33).

LeerIn der Bildersprache der Heiligen Schrift ist die Wüste der Ort der Gott-Ferne, der ausweglosen Verlassenheit, der äußersten Entbehrung und Gefährdung des Menschen an Leib und Seele. Die Schrift bezeugt, daß der Mensch auf dem Wege zum Heil durch solche „Wüsten” hindurchgeführt wird. Sie rechnet auch mit der Möglichkeit, daß der Ungehorsame und Undankbare in der Wüste untergeht (vergl. Jer. 17, 5 f. und die Linie von 2. Mose 17 über Psalm 95 zu Hebr. 3, 8.17!). Die Schrift bezeugt aber vor allem, daß Gott sich dessen erbarmt, der sich in der „Wüste” auf ihn verläßt (Ps. 107, 4-9; Jer. 31, 2 f.), und verkündet Rettung und Heil durch Jesus Christus, in dem die Wüsten-Wunder des Alten Bundes erfüllt und übertroffen sind (Joh. 3, 14; 6, 31. 39). So hatte die Christenheit in den guten Zeiten ihrer Geschichte das Bewußtsein, in der „Wüste” der Welt zu leben und gerade da der Nähe Gottes und seines Heils gewiß zu sein. Von hier aus wird man auch das alte Mönchtum verstehen müssen, das die ägyptische oder eine andere Wüste aufgesucht hat, um der drohenden oder eingetretenen Verweltlichung der Kirche das Bild des Gottesvolkes in der Wüste als das Urbild der Kirche gegenüberzustellen.

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 56-59

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-29
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