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von Helmut Hochstetter |
In der Communauté de Grandchamp fand wie alljährlich im Januar so auch diesmal eine ökumenische Gebetswoche für die Einheit der Christenheit statt. Es ist schwer, sich unter dem Wort „Gebetswoche” das vorzustellen, was man dort in Wirklichkeit erlebt. Am ehesten kann man noch eine Geistliche Woche, wie wir sie von Assenheim her kennen, damit vergleichen. So verschieden auch die Lage beider Orte ist, so sehr ähneln sie sich in der Atmosphäre. Grandchamp liegt am Ufer des Neuenburger Sees, unweit der Stadt Neuchâtel. Die Areuse, ein munterer Bach, fließt durch den Park und ergießt sich unweit des Gehöfts in den See. Es ist ein ganz besonderer Ort, unberührt von den schnellen Veränderungen der technisierten Welt, und hat den alten Stil bewahrt, den es schon vor 200 Jahren hatte. Man spürt die lebendige Tradition der Familie Bovet, die seit einem Jahrhundert in gastfreier Weise, Offenheit der Gesinnung und christlicher Liebe dem ökumenischen Leben der Kirche verbunden ist. Hier nun fügte es sich, daß eine Schwesternschaft ins Leben gerufen wurde, die man vielleicht mit dem Kreis der Verpflichteten in unserem Berneuchener Dienst vergleichen kann; allerdings unterscheiden sie sich dadurch, daß die Communauté ein Kreis residierender Schwestern ist, der sich zu gemeinsamem Leben und Gebet verbunden hat. Der größere Kreis von in der Welt lebenden Schwestern trägt in einer Art, wie sie etwa dem Berneuchener Kreis entspricht, das große Werk der sogenannten Retraites de Grandchamp. Es ist sehr schwer, dieses Wort ins Deutsche zu übersetzen. Am besten wird man vielleicht noch von Einkehrzeiten sprechen können oder, wie wir zu sagen pflegen, von Geistlichen Wochen. Was hier geschaffen wurde, ist in langen Iahren aus der Erfahrung und Hingabe dienender Schwestern erwachsen. Zu den vorhandenen Hofgebäuden kam im vergangenen Jahre ein großes Wohnhaus, das aus den Opfern der Communauté erstellt wurde. Wenn man bedenkt, daß es sich bei dem größeren Kreis um etwas mehr als hundert Mitglieder handelt, kann man er- messen, wie groß das Opfer war. An den Sonntagen findet regelmäßig die Feier des Heiligen Abendmahls statt, zuweilen auch unter der Woche, immer aber an den sogenannten Jahrestagen, den Apostel- und Märtyrertagen. Der Abendmahlsgottesdienst entspricht in großen Zügen dem Gang unserer Messe, stellenweise in wortwörtlicher Übereinstimmung, So war es möglich, daß ich unsere Evangelische Messe gemeinsam mit dem Leitet der Communauté, Pasteur Jean d e S a u s s u r e , auf französisch feiern konnte. Diese Meßfeier gehört zu meinen stärksten Eindrücken im gottesdienstlichen Leben der Kirche. Das Wesentliche schien mir der freudige Ernst zu sein, mit dem das Abendmahl als ein Fest gefeiert wurde. Die oft düster anmutende hugenottische Haltung ist hier verbunden mit einer kindlichen Freude, die etwas vom Urchristlichen an sich hat. Den gleichen Geist atmet das außerkirchliche Leben des Hauses. Es ist heiter und gelöst, zugleich gemessen und pflichtgebunden. Strenge Tageseinteilung, unbedingte Sauberkeit, liebevolle Pflege des Hausrats und der kirchlichen Geräte kennzeichnen den äußeren Rahmen. Die Schwestern haben ihr ganzes Vermögen in die Communauté eingebracht. Man findet kostbare Möbel, gute Bilder, schönes, altes Zinn in den Wohnräumen, während die Einzelzimmer von puritanischer Einfachheit sind. Die Bibliothek hat eine besondere Atmosphäre. Hier spürt man den Geist der Bücher. Man ist in Einzelzimmern untergebracht und hat während des Tageslaufes genügend Zeit zu Ruhe und Sammlung. Die Schweigezeiten werden mit großer Strenge eingehalten. Während der Mahlzeiten wird gelegentlich vorgelesen. Meistens herrscht unbedingte Stille, was die gesprächigen Freizeitbesucher zunächst befremdet, ja entrüstet, aber sehr bald mit einem angenehmen Gefühl der Ruhe erfüllt. Die Communauté hat sich die mannigfachen Erfahrungen der englischen retreats zu eigen gemacht. Die große Gastlichkeit und selbstverständliche Freundlichkeit der Schwestern und ihrer Oberin, die gepflegte Atmosphäre, die friedvolle, schöne Lage tun das ihre, eine Einkehrzeit jedem zur Wohltat zu machen. Man ist auf Schonung des Intellekts und auf liebevolle Pflege des Gemüts bedacht. Lin nervöser Mensch läßt sich in Grandchamp schlechterdings nicht vorstellen. Ich glaube, man muß sich entweder entschließen, nervös zu sein und dann abzureisen, oder einfach dazubleiben und nicht nervös zu sein. Die geregelte Tagesordnung, die stete Heimkehr in die Kapelle und die Beschäftigung mit den heiligen Dingen, die das Herz ernähren, lassen niemanden unberührt. Der Vertreter der Orthodoxen Kirche war Professor V y c h e w l a v z e f f , der selbst noch als Religionsphilosoph an der zaristischen Moskauer Universität gelesen hatte. Seine geistvollen und lebendigen Ausführungen verrieten ein erstaunlich jugendliches Temperament, waren stark von neuplatonischem Gedankengut getragen und führten uns in ergreifender Weise in die wundervollen Liturgien der orthodoxen Kirche ein. Es lag im Wesen der Tagung, daß man es weniger auf theologische und kirchenrechtliche Ergebnisse abgesehen hatte. In der Mitte stand das Gebet. Auch die theoretischen Betrachtungen dienten dazu, uns tiefer in den Geist und die Kraft des Gebetes zu führen, und die Aussprachen (entretiens genannt - zum Glück gab es keine Diskussionen) förderten das gegenseitige Verständnis der einzelnen Gruppen. So erhielten wir einen starken Eindruck von der Bewegung „Eglise et Liturgie” innerhalb der französischen reformierten Kirche und erkannten dankbar, in wie starkem Maße das einseitig humanistische Verständnis der Reformation überwunden ist. Ohne Zweifel gehört eine Elite der Pfarrerschaft und der gebildeten Laien dieser Bewegung an, wie denn überhaupt das theologische Interesse des Gebildeten durchweg höher ist als bei uns. Dennoch ist diese Bewegung keineswegs eine Domäne der geistigen Oberschicht. Dem Kreis von Grandchamp gehören auch ganz einfache Menschen an, ja sie sind gar nicht wegzudenken in ihrer unreflektierten Hingabe an das Wort und an das Gebet. Die Einsicht, daß es Religion ohne Kultus nicht gibt, ist vielfach tiefer erfaßt als bei uns selbst. Die Argumentation geschieht von reformierter Seite immer in Hinblick auf Calvin und setzt ein tiefes Erfassen der Institutio voraus. Die Pflege dieses geistlichen Lebens wäre aber nicht denkbar ohne das neue mouvement communautaire, wie es sich in Grandchamp und Taizé-les- Cluny verwirklicht. Theoretische Einsicht und praktische Übung haben hier ihre Einheit gefunden. Insofern ist die französisch reformierte Kirche reicher, als wir selbst es sind. Den Brüdern und Schwestern in Grandchamp war es schlechthin unerklärlich, wie wir selbst ohne eine solche Communauté mit festem Wohnsitz auskommen könnten. Wir sind mit unsern religiösen Urteilen andern gegenüber viel zu schnell fertig. Was man aber bei einer solchen Tagung wirklich lernt, ist Anerkennung des anderen Weges und die wunderbare Erfahrung, daß er zum gleichen Ziele führt, die erstaunliche Tatsache, daß alle liturgischen Bemühungen unabhängig voneinander, wenn sie praktisch geübt werden, von jedem anderen verstanden und mit vollzogen werden können. Sehr lehrreich waren drei Vorträge, die der Leiter der Communauté, Professor d e S a u s s u r e , früher Lehrert an der Universität Lausanne, vor der versammelten Pfarrerschaft und einem großen Zuhörerkreis aus der Gemeinde Neuchâtel über die Communautés hielt. Die selbstverständliche, zugleich liebenswürdige und mutige Art, vor den reformierten Gemeindegliedern Dinge vorzutragen, die bei uns als extrem lutherisch oder konfessionalistisch gekennzeichnet würden, fand eine durchaus liebevolle und freundliche Aufnahme. (Es zeigt sich, daß man über die heiligen Dinge sine ira et studio, ja wirklich nur ohne Zorn und Eifer sprechen kann. Ein gut Teil der führenden Männer der liturgischen Bewegung sind namhafte Vertreter der reformierten Theologie und besitzen das Vertrauen weiter Kreise. Man nimmt ihnen nicht übel, wenn sie sagen, was sie aus Überzeugung sind. Durch ein großes Entgegenkommen des Johannes Stauda-Verlages war es mir möglich, das gesamte Schrifttum des Berneuchener Kreises und der Michaelsbruderschaft mitzubringen und zur Einsicht vorzulegen. Das Erstaunen über die zahlreichen Erscheinungen war nicht geringer als das über die frappanten Parallelen zu dem liturgischen Schrifttum im französischen Raum. Auch für die Vertreter der Orthodoxen und Alt-Katholischen Kirche hatte Grandchamp etwas durchaus Vertrautes. Es ist ein Boden, auf dem sich die Konfessionen wirklich finden können. Ich kann mir keine bessere Stelle denken, an der man sich zum Gebet für die Einheit der Christenheit vereinigen könnte. Nicht ohne ein gewisses Heimweh nahm man Abschied. Und ich selbst brachte den Wunsch mit, wir könnten bald eine solche Stätte schaffen, an der wir zu gemeinsamem geistlichem Leben zusammenkommen. Angesichts der viel größeren Zahl und wahrscheinlich nicht geringeren Leistungsfähigkeit muß es wundernehmen, daß wir noch nicht so weit gediehen sind. Aber ich glaube, wir müssen es tun, um zu bleiben, was wir sind, und zu werden, was wir sein wollen. Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 109-112 |
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