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3. Asketische Vorbereitung zum Starzentum von Iwan Tschetwerikow |
1. Westliche Seelsorge und das Starzentum 2. Geschichte des Starzentums 4. Typen der Starzen Weder in der russischen noch in der westlichen Literatur gibt es Arbeiten über die Vorbereitung zum Starzentum. Wir wissen aber aus den Lebensbildern der großen Starzen, wie Serafim von Sarow, Nil Sorskij, Sergij von Radonesch, Paisij Welitschkowskij und derer von Optina Pustyn, daß sie alle eine langen asketischen Weg zurückgelegt hatten, der sie in die Einsiedelei, in das Schweigen, in das Gebet und in das aufmerksame Lesen heiliger Schriften geführt hatte. Einige der Starzen hatten mittlere oder auch höhere theologische Bildung, wie z. B. der Einsiedler Theophanes (russ. Feofan Zatwornik), andere hatten keine spezielle theologische Bildung wie Serafim von Sarow, Leonid aus Optina und der letzte Starez in Optina, Nektarij (gest. 1928) u. a.; sie waren aus dem Volk hervorgegangen und ihr Weg zum Starzentum, wie auch der vieler uns unbekannter, zerstreut in den tiefen nördlichen Wäldern oder in der Gegend von Roslawl lebender Starzen, bestand in ihrem asketischen Leben und in dem Lesen religiöser Schriften unter Anleitung gebildeter Mönche. Solches Lesen war ebenso wichtig wie die Askese. Manche Skiten und Klöster hatten ihre eigenen Bibliotheken, meist mit handgeschriebenen Seiten, so die Klöster „Troize-Sergiewa-Lawra”, „Dragomiena”, „Optina”, in Rostow u. a. Die asketischen Übungen bestanden in Klausur und Schweigen einerseits und Gebet und Lesen andererseits. Dabei hatte das Schweigen - ein Schweigen, das nicht aus einer Leere der Seele kam, sondern aus der Vertiefung in sich selbst - eine große Bedeutung. Das Leben eines jeden Menschen beginnt im Schweigen und endet im Schweigen. Die alte Lehre von John Locke über die Seele des Kindes als „tabula rasa” ist schon lange überholt. Die Beobachtungen am Säugling sprechen dafür, daß er ein inneres Leben hat: er weint, er erschrickt, er lächelt, er fürchtet Dunkel und Einsamkeit, er wendet sich ab von fremden Menschen. Den ersten Schrei des Neugeborenen darf man nicht zurückführen auf die Veränderung der Temperatur oder der Umgebung, er ist die Reaktion auf die neuen äußeren Eindrücke, die auf sein Bewußtsein einfallen durch seine mit der Geburt geöffneten äußeren Sinne. Kälte und Wärme, Licht und Dunkelheit, Stille und Lärm, Müdigkeit und Erwachen, Hunger und Gesättigtsein. Alles das dringt unerwartet und gewaltsam auf ihn ein, und das Bewußtsein, das im Schoße der Mutter ungestört ruhte, wird durch die Geburt erregt von der Fülle der es bedrängenden wechselnden Eindrücke. Die Seele des Kindes wird bewegt, gleich den chaotisch sich überstürzenden Meereswellen im Sturm. Das Chaos flößt dem Kinde Schrecken ein; es muß sich einen Standpunkt der Sicherheit erringen. Diese Sicherheit findet es zunächst bei seiner Mutter, deren Liebe in es eindringt als Liebe in die Dunkelheit, als Stütze in dem Chaos. Ein anderer Sicherheitsfaktor, ein physischer, ist der Schlaf. Schlaf und Liebe bewahren das Kind vor dem Versinken im Chaos. Diese Liebe ist kein Gefühl, sie ist Kraft Gottes, die sich verkörpert in der Liebe der Mutter und die eingeht in die Seele des Kindes. Die Liebe ist das Sein, nach dem der Mensch - und unbewußt schon das Kind - strebt; denn die Seele ist kein Sein, das Grund in sich selbst findet, sondern sie ist das Streben nach dem Sein. Die Mutter spricht Worte der Liebe mit dem kleinen Kind und lehrt ihm damit allmählich das Sprechen. Und jedes Wort des Kindes bringt eine Ordnung in seine chaotischen Erlebnisse. Liebe und Wort sind zwei Faktoren, die dem Menschen helfen, das Chaos in seiner Seele zu ordnen, Liebe in die Dunkelheit zu bringen. Liebe und Wort sind der Weg, auf dem die Stütze zu finden ist, die vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt. Liebe und Wort kommen von Gott, zuerst über die Mutter und später über die Kirche. Durch Liebe und Wort hat Gott die Welt aus dem Nichts, aus dem Chaos geschaffen. Liebe und Wort lehrte er dem Menschen im Paradiese, der Wiege der Menschheit. Liebe und Wort, von Gott im Fleisch in die Welt gesandt, demütigte sich bis zum Tode zur Rettung des Menschen und machte ihn zu seinem „Mitarbeiter” (1. Kor. 3, 9), um „die Gemeinschaft des Geheimnisses, das von der Welt her in Gott verborgen gewesen ist”, zu gründen (Eph. 3, 9). Die nächsten Mitarbeiter Gottes sind die Eltern in bezug auf die Kinder, die Priester in bezug auf die Glieder der Kirche, die Starzen und Missionare in bezug auf die Menschen, die in die Kirche eingehen wollen. Vor dem Menschen stehen von seiner Kindheit an zwei Aufgaben: sich zu bewahren vor dem Sturz in den Abgrund und eine Ordnung in das Chaos zu bringen. Diese Aufgaben bleiben ihm gestellt in seinem ganzen Leben, bis zu seinem Tode. Dabei geht er oft „krumme Wege”. Er will das Chaos nicht sehen und versucht es zu verdecken mit der „goldbestickten Decke” der Kunst und Kultur überhaupt, er vermeidet in die Tiefe seiner Seele zu dringen und „zerstreut” sich an der Oberfläche des Lebens, er versucht sich in sein Ich zu retten, indem er es zum Zentrum der Welt macht. Aber das alles bedeutet keine Rettung. Nach den Worten Jesus Sirach begleitet die Weisheit Gottes den Menschen auch auf seinen krummen Wegen, aber sie „prüfet ihn mit ihrer Rute und versucht ihn mit ihrer Züchtigung, bis sie befindet, daß er ohne Falsch sei, dann wird sie wieder zu ihm kommen, um ihn zu erfreuen” (Sirach 3,19 und 20). Der Mensch soll sich weder verstecken noch fliehen vor dem Chaos, denn er ist „Mitarbeiter Gottes” in der Geburt des Kosmos aus dem Chaos. Er soll in die Tiefe seiner Seele tauchen, um das Chaos zu sehen. Hier wird er die Stimme des göttlichen Lebens vernehmen, hier wird er seine „krummen Wege” erkennen und zu dem rechten Weg zurückfinden, der zu Gott führt. Solche Vertiefung im Schweigen hat große Bedeutung für die erzieherische Tätigkeit des Starzen. Im Schweigen und in der eigenen Tiefe kann er die Abweichungen vom rechten Wege, die Entstehung der Sünde und die Mittel, sie zu bekämpfen, erkennen. Dieses Schweigen ist eine jahrhundertelang erprobte Vorbereitung für das Starzentum. Darum konnte auch das in der Heiligen Schrift erwähnte Hören der Stimme Gottes niemals nur ein Aufnehmen mit dem .Ohr sein; es waren alle Sinne dabei beteiligt. Unsere Erkenntnis Gottes nannte der Apostel Paulus „ein guter Geruch Christi” (2. Kor. 2,14 und 15). Nicht nur der Verstand und nicht nur das Ohr, sondern der ganze Mensch mit all seinen äußeren und inneren Sinnen wird angesprochen von Gott. David und auch der Apostel Petrus sprechen vom „Schmecken” der Freundlichkeit des Herrn (Ps. 34, 9; 1.Petr. 2, 3). Der altgriechischen Sprache und Literatur war das Wort in der biblischen Auffassung noch verwandter als unser heutiges Verständnis des Wortes. Schon das gewöhnliche Gespräch wurde bei den alten Griechen singend und mit mimischen Bewegungen geführt. Und die Lyriker schrieben in ihren Oden nicht nur die Worte, sondern schufen auch die Musik und den Reigen dazu. Die Ode wurde dem Publikum singend und tanzend vorgetragen; nicht nur die Stimme, sondern der ganze Mensch war dabei aktiv. Der ganze Mensch wurde Wort. So wird das Gebaren der Mutter für den Säugling, der noch kein Wort versteht, „Wort”, indem er die ihm zugewandte Liebe in der Stimme, in der Mimik fühlt; er empfindet die Musik der ihm unverständlichen Worte und er antwortet mit Lächeln, mit dem nach der Mutter ausgestreckten Händchen, mit seinem ganzen Wesen. Hier kommt noch etwas zum Ausdruck von dem Ursprung des Wortes. Matth. 18, 3 kann auch von hier aus verstanden werden. Wie Gott das Wort gebar und sich durch dasselbe der Welt offenbarte, so soll auch der Mensch, nach Gottes Bild geschaffen, das Wort gebären, d. h. seine Seele Gott und den Menschen offenbaren. Die orthodoxen Asketen forderten als Ziel die gänzliche Beseitigung oder den „Ausschnitt” der Laute und Vorstellungen aus dem Gebet. Die Vorstellungen werden wie eine Wand, die von der Tiefe des Sinnes trennt, sie lenken die Aufmerksamkeit unserer Gedanken von dem Sinn des Wortes ab. Die Asketen empfehlen deshalb, daß man sich während des Gebetes keine Vorstellung von Gott oder den Heiligen macht. Nur in Fürbittegebeten für die Mitmenschen soll man sich diese vorstellen. Das geistige Gebet unterscheidet sich von den gewöhnlichen menschlichen Gebeten dadurch, daß die Gedanken des Betenden ausschließlich auf den Sinn des Gebetes gerichtet sind. Dann ist es einem künstlerischen Werk verwandt; die Worte sind wie in der Dichtung emotional gesättigt, in ihnen liegt ein Sinn, der nicht unserer Ratio zugänglich ist, sondern nur in der Tiefe der Seele wahrgenommen werden kann. In ihm sind die Erlebnisse des Schöpfers des Gebetes als eines Gliedes der Kirche enthalten, in ihm liegt der Sinn, der gebildet und erlebt wurde von der ganzen Kirche, der geistige Sinn, der in die Nähe Gottes führt. Darum wird das Gebet das „Gespräch” zwischen Gott und dem Menschen genannt, ein Gespräch, in dem die Kirche in jedem Wort atmet. Das bedeuten die Worte des Gregorius Sinait: „Halte deinen Verstand in deinem Herzen.” Unter Herz ist jener tiefe Sinn zu verstehen, den christliche Dichter und Schöpfer von Gebeten darin ausgedrückt haben, und der sich jedem Menschen teils emotional, teils empfindend offenbart. In einem anderen Werke „Erbauung für Hesychasten” (Schweigende) gibt er die Belehrung, wie man ein solches Gebet verwirklichen kann. Diese Lehre über das Gebet in bezug auf die Konzentrierung der Aufmerksamkeit, Vertiefung der Gedanken in das Herz, Ablehnung der Vorstellungen und der Lauthülle des Wortes, findet sich auch bei anderen russischen Asketen. „Die Seele des Gebetes ist die Aufmerksamkeit” schreibt Bischof Ignatij Brjantschaninow, und „wie der Leib ohne Seele tot ist, so ist das Gebet tot ohne Aufmerksamkeit”. Und weiter: „Während des Gebetes soll man den Verstand bildlos bewahren, das bedeutet, alle Vorstellungen und Bilder, selbst wenn sie mit den Gebetsworten verbunden sind, fern halten. Der Betende steht vor dem unsichtbaren Gott. Jeder Versuch, sich Ihn vorzustellen, errichtet eine undurchsichtige Scheidewand zwischen Gott und dem Beter.” Der hl. Meletius Confessior sagte: 'wer in seinen Gebeten nichts sieht, sieht Gott' (Anm. 4). Die Ikonen sind dem Beter nötig, aber nicht zur Erweckung seiner Phantasie, sondern als richtungweisend für sein Gefühl. Es ist ein großer Unterschied in dem Stehen vor Gott und in dem sich Ihn Ein-bilden. Die Aufmerksamkeit kann man nicht von Anfang an auf das Gebet konzentrieren. sie wird immer durch die gewöhnlichen Erlebnisse abgelenkt werden. 'Die Wellen der Gedanken', so schreibt Johannes Klimax, 'fließen nach verschiedenen Richtungen; sie können nicht mit einem Male unserm Willen gehorchen und von der Oberfläche sich abwendend in die Tiefe sinken' (Anm. 5). Für das Gebet ist eine Vorbereitung nötig. Dazu gehört Einsamkeit, Schweigen und unaufhörliche Wiederholung des Gebetes. Alle diese asketischen Übungen verändern im Laufe der Zeit die äußeren Sinne des Menschen und zugleich seine Beziehungen zur Welt und zu seinen Mitmenschen. Seit Plato verbreitete sich in der europäischen Philosophie die Lehre von der Spezialisierung der Sinneswahrnehmungen gemäß der besonderen Struktur jeden Sinnes und die Begrenzung ihrer Reaktion auf die äußeren und materiellen Eigenschaften der Objekte. Von diesem Standpunkt kann der Mensch das psychische Leben nur in sich selbst durch Selbstbeobachtung erkennen. Aber das psychische Leben der anderen würde unbekannt bleiben, weil unzugänglich für Selbstbeobachtung und für die äußeren Sinne. Es könnte nur ganz negiert (Behaviorismus in Amerika) oder nur als Wahrscheinlichkeit erkannt werden (Die Kritik der Theorie des Analogieschlusses bei Th. Lipps) oder man müßte ganz verzichten auf wissenschaftliche Erklärung des fremden psychischen Lebens als eines Welträtsels. Aber keine dieser Theorien kann die moralischen Forderungen des Menschen befriedigen. Die noch heute verbreitete Theorie der Wahrnehmung ist unfähig, nicht nur das Leben der anderen Menschen zu erklären, sondern auch Kunst zu schaffen oder zu verstehen. Als die Freunde Rodins ihn nach der Bedeutung seiner eigenartigen Skulptur Johannes des Täufers fragten, antwortete et ihnen: „Wenn ich alles, wovon meine Seele dabei erfüllt war, in Wortbegriffen hätte ausdrücken können, ich hätte einen Artikel geschrieben, aber ich konnte all meine inneren Erlebnisse nur in der Skulptur ausdrücken; in ihr suchen Sie die Antwort auf Ihre Frage.” Der ganze Weg, den die bekannten Stargen gegangen waren, ist nichts anderes als „ihr Weg zur Rettung” (Anm. 7). Starez Feofan der Klausner nannte die Beschreibung dieses Weges „Putj ko spasseniju”; es ist eine Anleitung für Suchende. Jetzt kann man verstehen, warum es in der orthodoxen Literatur keine Arbeit über die Vorbereitung zum Starzentum gibt. Um andere retten zu können, muß man selbst gerettet sein; um anderen den Weg zeigen zu können, muß man selbst diesen Weg gegangen sein; um andere in die Kirche, den Leib Christi, einführen zu können, muß man selbst in den Leib Christi eingegangen sein. Darum haben wir von den Starzen nur entweder die Beschreibung ihres eigenen Weges zur Rettung oder ihre Briefe an die Schüler, in denen sie ihnen praktische Ratschläge geben in bezug auf deren individuelle Eigenschaften, Nöte und Schwierigkeiten. Aufgabe dieser Arbeit ist nicht, die Laufbahn zum Starzentum zu beschreiben oder pädagogische Ratschläge zu geben, sondern zu zeigen, daß vom Standpunkt der Orthodoxie die Vorbereitung zum Starzentum nicht wissenschaftlich fundiert werden kann, daß sie vielmehr auf den eigenen Erfahrungen der Starzen beruht, die entsprechend ihrer unmittelbaren Kenntnis der individuellen Eigenschaften ihrer Schüler variiert werden. Solche geistige Führung ist eine Tat des religiösen Lebens. Anmerkungen:
Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 157-164 |
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