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Was ist „Schwarmgeisterei”?
von Wilhelm Stählin

LeerDie Richtigkeit des Satzes, daß die Wahrheit allemal eine Gratwanderung zwischen zwei Abgründen ist, bewährt sich an dem Zweifrontenkrieg, in dem die Reformation ihr eigentliches Anliegen zu verteidigen hatte. Mit der gleichen Leidenschaft wie gegen Rom, vielfach mit noch größerer Schärfe, hat Luther gegen jene Leute gekämpft, die er die „Schwärmer” nannte. Aber während die antirömische Frontstellung das Gesicht und die innere Haltung des Protestantismus einseitig geprägt hat - so sehr, daß bei ungezählten „Protestanten” die Glaubenshaltung sich darauf beschränkt, nicht „katholisch” zu sein -, ist die Front gegen die Schwärmer, obschon sie Luther für nicht minder notwendig gehalten hat, weithin eingeebnet wie ein vergessener Schützengraben, der kaum mehr Spuren eines erbitterten Ringens zurückgelassen hat. Um die Jahrhundertwende erfreuten sich im Gegenteil die von Luther so heftig befehdeten Männer einer besonderen Gunst; sie galten als die eigentlichen Vorläufer der modernen Welt; und viele rühmten ihnen nach, daß sie in der Erneuerung des Christentums radikaler gewesen seien als Luther, der in so vielen Dingen noch die Eierschalen mittelalterlichen Denkens an sich getragen habe.

LeerAn die Stelle dieser teils stimmungsmäßigen, teils bewußten Parteinahme für die von Luther grimmig beschimpften „Schwarmgeister” tritt jetzt, langsam genug, ein neu erwachendes Verständnis dafür, warum eben diese Männer von Luther ebenso wie der Papst in Rom als Verderber des Evangeliums bekämpft wurden. Die Rückbesinnung auf das reformatorische Erbe und die Erneuerung einer reformatorischen Theologie wären in der Tat nicht nur unvollständig, sondern verkehrt und unecht, wenn sie glaubten, darauf verzichten zu können, sich auch in jene Frontstellung Luthers einzureihen.

LeerSeit ich in Hans Franks Roman „Sebastian” jene - von dem Verfasser mit historischer Treue wiedergegebene - wütende und unflätige Schimpfrede gelesen habe, mit der Luther auf die Nachricht vom Tode Sebastian Franks feinem Zorn Luft gemacht hat, hat mich die Frage nicht mehr losgelassen, was es denn eigentlich gewesen ist, was Luther mit einem so maßlosen Zorn verfolgt hat. Zur gleichen Zeit kam von ganz anderer Seite die Frage aus mich zu, ob nicht manche sehr angesehenen und hochgepriesenen Erscheinungen der gegenwärtigen Kirchengeschichte in Deutschland und in anderen Ländern eine geradezu erschütternde Ähnlichkeit mit jenen „Schwärmern” des 16. Jahrhunderts haben. Vielleicht waren es gerade diese sehr aktuellen kirchlichen Sorgen, die den „Theologischen Konvent Augsburgischen Bekenntnisses” (1) veranlaßten, auf seiner diesjährigen Frühjahrstagung in Fulda sich mit der Frage nach der Schwarmgeisterei zu beschäftigen; aber sowohl die Vorträge als die Aussprache vermieden dann gewissenhaft jedes Abgleiten in vordergründige Polemik und blieben ganz der sachlichen, historischen und dogmatischen Frage nach dem Wesen des „Schwärmertums” zugewendet. Es ist nicht möglich, den überreichen Inhalt der drei Vorträge (von Professor Maurer-Erlangen über Luthers Kampf gegen die Schwärmer in seinem historischen Zusammenhang, von Professor H. D. Wendland-Kiel über die neutestamentlichen Grundlagen dieses Kampfes, und von Professor Fr. K. Schumann-Hemer über Schwärmerei als dauernde Versuchung der Kirche) in einem kurzen Bericht zusammenzufassen; aber ich glaube, den Lesern dieser Jahresbriefe einen Dienst zu erweisen, wenn ich sie mit den Erkenntnissen und Fragestellungen bekanntmache, die uns in jenen Tagen beschäftigt haben.

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LeerEs gehört zum Wesen der Schwarmgeisterei, daß sie in ihrem eigentlichen Wesen schwer faßbar ist, daß scheinbar ganz entgegengesetzte Geisteshaltungen plötzlich als einander nahe benachbart angesprochen werden müssen, und daß man die Schwarmgeisterei also nur an Beispielen beschreiben, aber nicht eigentlich definieren kann. Mindestens vier Linien fügen sich hier zu einem Gesamtbild zusammen.

Leer1. Der „Schwärmer” trennt Leib und Geist; er verachtet alles, was dem „Äußeren”, dem Leib, der Form zugehört, und preist den „reinen Geist”. Den beiden Männern, in denen ihm die schwarmgeistige Haltung besonders verkörpert schien, Karlstadt und Thomas Münzer, wirft Luther vor, daß sie „geistlich machen, was Gott leiblich gewollt und gemacht hat”. Als Spiritualisten, die den Geist auf Kosten des Leibes preisen, sind sie die Anhänger aller jener Gruppen und Richtungen, die den Protestantismus als die „innerlichste” Form des Christentums, im Gegensatz zu der Überschätzung äußerer Formen und Zeremonien, rühmen. Damit aber, sagt Luther, verleugnen sie (auch wenn sie sie theoretisch nicht leugnen) das Geheimnis der Menschwerdung, das Wunder der Inkarnation; sie reißen die Erlösung los von der Schöpfung und wollen den geistlichen Nutzen des Sakramentes genießen, ohne die ins Leibliche hineinreichende Substanz des Sakraments ernst zu nehmen.

Leer2. Die Schwärmer verachten die Geschichte. Darum verachten sie ebenso das verbum externum, das geschriebene und gesprochene äußere Wort wie die echte Überlieferung der Kirche. Sie rühmen sich, ganz im „Nu” des Augenblicks zu leben, das wenig oder nichts zu tun hat mit dem, was einmal und ein für allemal geschehen ist. Die Heilsgeschichte wird ausgelöst in ein immer neues Heilsgeschehen, das Continuum der geschichtlichen Überlieferung in ein immer neues Ereignis. Sie meinen, dem „Geist” Raum zu schaffen, wenn sie überkommene Formen zerschlagen und die „Bilder” (im weitesten Sinn), die von den 'Vätern auf uns gekommen sind, verbrennen (2)

LeerWenn darum Max Picard die Diskontinuität (d. h. die Unfähigkeit zur Dauer) als ein wesentliches Krankheitssymptom des heutigen Menschen entlarvt hat, so beweist er damit, wie sehr der schwarmgeistige Typus in diesem „modernen” Menschen zur Herrschaft gekommen ist; aber nicht minder erweisen sich dabei alle jene Theologen und Laien, die von der Kirche als dem bloßen „Ereignis” reden und alle Erscheinungsformen eines von den Aposteln bis zu diesem Tag reichenden Zusammenhangs verachten, als echte Schüler Karlstadts und Thomas Münzers, auch wenn sie sich selbst naiv für Lutheraner halten und als solche ausgeben.

Leer3. In doppeltem Sinn möchte der Schwärmer über den Geist verfügen. Es mangelt ihm die Ehrfurcht vor dem Mysterium, weil er mit seinem Verstand begreifen möchte, wo uns heilige Scheu und Anbetung geziemt. Dieses ist der Grund, warum Luther die römische Transsubstantiationslehre mit den spiritualistischen „Sakramentierern” trotz aller scheinbaren Tiefe des Gegensatzes zusammenschaut, weil sowohl die scholastische Definition des sakramentalen Geschehens wie die rationalistische Entleerung des Sakraments Versuche sind, das Mysterium rational aufzulösen (3). Darum rechnet Luther auch den feinsinnigen Humanisten und Rationalisten Erasmus zu den Schwärmern.

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LeerZugleich aber macht der Schwärmer den Versuch, mit Hilfe des ihm innewohnenden Geistes die neue Welt herbeizuführen. Das „Jenseitige” soll im „Diesseitigen”, das Zukünftige im Gegenwärtigen verwirklicht werden. Wo der reine Geist am Werke ist, da ist das Endgültige schon geschehen, so wie die „schwarmgeistigen” Gegner des Apostels Paulus in Korinth verkündigten, die Auferstehung der Toten (als ein rein geistiges Ereignis) sei schon geschehen. In der Art, wie Tolstoi die Bergpredigt als ein politisches Programm ausgelegt hat, und wie im Gefolge der französischen Revolution bestimmte ursprünglich religiöse, jetzt säkularisierte Ideen (wie die Gleichheit der Menschen vor Gott oder ihre Brüderlichkeit) zu Prinzipien einer angeblich besseren Weltordnung gemacht werden, offenbart sich der Siegeszug des Schwarmgeistertums in der ganzen „modernen” Menschheit.

Leer4. Eben dieser enthusiastische Wille, eine dem kommenden Äon entsprechende -Ordnung aller Dinge durch den Geist herbeizuführen, schlägt aber nur allzu leicht um in Gesetz und Gewalttat. Es ist darum ein besonderes Charakteristikum der schwarmgeistigen Haltung, daß aus dem Evangelium ein neues Gesetz, aus der Verheißung ein Zwang wird, und daß im Namen der Freiheit der Terror geübt wird. Diese Gefahr war für Martin Luther in Thomas Münzer verkörpert, und er hat seiner tiefen Abneigung gegen die schwarmgeistige Gewalttat bewußt seine Popularität geopfert. Luthers harte Worte gegen die räuberischen und mordbrennenden Bauern werden ihm überall da - bis auf diesen Tag - als der unverzeihliche Verrat an dem revolutionären Elan vorgeworfen, wo die Menschen selbst bereit und entschlossen sind, eine neue und angeblich bessere Ordnung der Welt mit Terror und Gewalt durchzusetzen. Die drei eisernen Käfige, in denen die Leichen der grausam Hingerichteten wiedertäuferischen Führer zur Schau gestellt waren, hängen noch heute - oder vielmehr heute wieder - am Turm der Lambertikirche in Münster, nicht nur als das Zeichen einer unversöhnlichen Rache, sondern als die Mahnung vor dem zerstörerischen Wahnsinn, der die Kirche ständig bedroht und der alsbald furchtbar ausbricht, wenn die himmlische Ordnung mit Gewalt auf Erden durchgesetzt werden soll. Wie tief Luther den Zusammenhang zwischen der antiliturgischen Bilderstürmerei und der politischen Gewalttat und ihre gemeinsame Wurzel in der schwarmgeistigen Gesetzlichkeit gesehen hat, enthüllt blitzartig sein Wort: „Von den Bildern geht es leicht zu den Leuten.”

LeerHier ergreift der „Geist” das Schwert, das dem weltlichen Regiment und nur ihm anvertraut ist, und eben hier wurzelt die Versuchung der römischen Kirche, die meint, über den Geist verfügen zu können, zu der Grausamkeit der Inquisition und zu der Dämonie der politischen Machtübung.

LeerVon hier aus muß man verstehen, mit welchem Recht Luther, bei allen von ihm klar erkannten Gegensätzen im einzelnen, die schwarmgeistige Bewegung mit dem Papsttum in eins gesehen hat. („Der Papst und Karlstadt sind rechte Vettern.”) Beide machen das Evangelium zu einem Gesetz, wenn auch dieses Gesetz im einen Fall mehr aus Geboten, im anderen Fall mehr aus Verboten besteht; hier ist die erstaunliche Verwandtschaft der „reformierten” und der römisch-katholischen Haltung hinsichtlich allerliturgischen Fragen begründet; denn die Freiheit, die dem Evangelium innewohnt, ist in gleichem Maß bedroht, wenn dieses oder jenes an Zeremonien gesetzlich verordnet, wie wenn es in gleicher Gesetzlichkeit verdammt und verboten wird.

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LeerDer Gesetzlichkeit aber nahe benachbart ist die Heuchelei. Es liegt schon auf der Linie der schwarmgeistigen Gewalttat, wenn man meint, einen Zustand dadurch herbeiführen zu können, daß man so tut, als ob er verwirklicht wäre. Es ist eine überaus schädliche schwarmgeistige Vorwegnahme, wenn man von „Gemeinden” redet, wo man Gemeinde bauen will, wo aber eben keine Gemeinde ist; oder wenn man von Bruderschaft redet und Bruderschaft markiert, wo eben nicht einer des anderen Bruder ist.

LeerIch breche hier ab mit meinem Bericht, der nur einen ersten Eindruck von der Fülle jener Gesichtspunkte und Erkenntnisse vermitteln möchte, die in der Beschäftigung mit dem reformatorischen Kampf gegen die Schwärmer uns bedrängen. Die Kirche ist darum so wehrlos gegen das säkularisierte Schwarmgeistertum in der Gestalt eines brutal innerweltlichen Atheismus und Materialismus, weil sie in ihrem eigensten Bereich dem Feind alle Tore geöffnet hat. Die Erkenntnis, daß die Schwarmgeistigkeit die Kirche als dauernde Gefahr begleitet, daß sie niemals endgültig überwunden ist, aber in jedem Zeitalter neu durchschaut und bekämpft werden muß, und die Wiederherstellung dieser reformatorischen Front sind für die innere Gesundheit jedes reformatorischen Christentums wahrlich wichtiger als tausend Dinge, mit denen wir uns heute beschäftigen, wichtiger selbst als Fragen des öffentlichen Lebens, in denen wir besonders anfällig sind für die schwarmgeistige Verführung. Es wäre eine große Sache, wenn die Hannoversche Tagung des Lutherischen Weltbundes in diesem Sommer sich auf diese Seite lutherischer Nüchternheit und lutherischer Verantwortung besinnen wollte.


Anmerkungen:

1: Der Theologische Konvent, von dessen Arbeit schon früher einmal in diesen Jahresbriefen berichtet worden ist, ist eine theologische Konferenz, die zu gleichen Teilen von Vertretern der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche und von Vertretern der „Arbeitsgemeinschaft lutherischer Kirchen und Gemeinden” (dem sogenannten „Detmolder Kreis”) beschickt ist. Er hält in jedem Jahr zwei mehrtägige Arbeitstagungen und zeichnet sich durch die Gründlichkeit und Offenheit des theologischen Gesprächs und durch die gänzliche Abwesenheit kirchenpolitischer Zielsetzungen aus. Die Vorträge des Konvents erscheinen im „Lutherischen Verlagshaus” Berlin-Spandau. Auf die drei bisher erschienenen Hefte (1. Fr. K. Schumann, „Wort und Wirklichkeit”; 2. Peter Brunner, „Schrift und Tradition”; 3. Wilhelm Stählin, „Das Heil der Welt” und Fr. K. Schumann, „Rechtfertigung und Erlösung”) sei nachdrücklich hingewiesen; jedes Heft enthält außer den Vorträgen einen zusammenfassenden Bericht über die Aussprache. Weitere Hefte, davon ein Heft mit den drei Vorträgen der letzten Tagung, erscheinen noch in diesem Sommer. Hier ist der verheißungsvolle Anfang einer rein auf die Sachfragen bezogenen Selbstbesinnung des „Luthertums” und einer ernsten Besinnung auf die ökumenische Verantwortung jener Kirchenkörper, die sich an das lutherische „Bekenntnis” gebunden wissen.
2: Man darf nicht vergessen, daß es der „Schwärmer” Karlstadt gewesen ist, der in jenen Wittenberger Unruhen, die dann Luther zu seinem kühnen Ritt von der Wartburg nach Wittenberg veranlaßt haben, die bunten Meßgewänder abgeschafft hatte.
3: Ich hoffe, in der neuen Auflage meines Buches ‚Vom göttlichen Geheimnis’, die ich zur Zeit vorbereite, gerade diese Zusammenhänge noch deutlicher als in der 1. Auslage herausstellen zu können.

Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 166-170

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-09-30
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