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Ich gebe diesen Brief, den ich vor einiger Zeit erhielt, mit Erlaubnis der Absenderin wieder, weil ich meine, daß er den Dienst tun kann, von dem am Schluß die Rede ist. Nur eine Frage sei dem Leser zu sorgfältigem Durchdenken empfohlen: Gibt es eine Flucht z u Gott, die gleichzeitig ein Auflehnen gegen das Leid ist, das er uns z. B, durch Menschen widerfahren läßt? Ist also Selbstmord nicht immer eine Flucht v o r Gott, auch wenn sie anders gemeint ist? Der Herausgeber Seit unserem Gespräch habe ich oft eine Frage in meinem Herzen bewegt, die gleichsam schwebend zwischen uns offen geblieben ist: -Ob jemand, der sich selber das Leben genommen hat, selig werden kann. Das tiefste, letzte Wissen darum steht allein bei Gott; die Kirche urteilt hier, soviel ich weiß, sehr streng. Darf ich Ihnen dazu etwas sagen, das vielleicht sehr untheologisch ist? Man muß doch wohl unterscheiden, ob der Selbstmord eine Flucht v o r Gott oder z u Gott ist. Wenn sich ein gottferner Mensch der Strafe für sein Verschulden durch den Tod zu entziehen sucht in der Hoffnung, dadurch das leichtere Los zu wählen, weil mit dem Sterben alles aus sei, so kann er dadurch natürlich nicht Gott näher kommen. Sehr viele Selbstmorde aber, und gerade d i e sind es, die uns b e w e g e n , sind sicher als eine F l u c h t der Menschen v o r d e n M e n s c h e n z u G o t t h i n aufzufassen. Und hier denke ich nun, daß ein Teil der Schuld auf die Verfolger fällt, die den Menschen in den Tod getrieben haben, oder auch auf eine Krankheit, die das Weltbild verzerrt. Ein Teil der Schuld wird immer bleiben, aber ich glaube, er ist nicht so groß, daß er nicht vergeben werden könnte. Dies im Hinblick auf die Entschlafenen. - Im Blick auf die Angefochtenen, die noch unter uns weilen, möchte ich sagen, daß nach meiner ganz persönlichen Erfahrung die Hilfe darin besteht, daß man den Menschen zeigt, nein, nicht nur zeigt, daß man sie erleben läßt, daß es nicht nötig ist, die Tür des Todes aufzustoßen, um bei Gott geborgen zu sein, daß er auch hier Mauern um uns bauen und unsere Seele frei hindurchgehen lassen kann. Ich habe durch Jahre hindurch den Gedanken an das Aufstoßen dieser Tür als letzte Rettung vor scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten in mir getragen, wie ich das auch von meiner Mutter weiß, die aber dennoch ausharrte, bis der Herr sie rief. Es ist hier nicht der -Ort, die Gründe zu schildern, die mich in einen solchen Zustand drohender Verzweiflung führten. Aber ich träumte nachts, auf allen Schwellen unseres Hauses lauerten Krokodile und giftige Schlangen - und ich floh, erst noch mit Mann und Kind, später ganz allein. Oft mußte ich mich im Traum von einem geschlossenen Raum in den andern retten, der Eingang verschwand hinter mir, es gab kein Zurück, nur ein Vorwärts in immer engere, drohendere Räume. Einmal befand ich mich in einem Gewächshaus (wir spielten als Kinder oft in den Treibhäusern einer Gärtnerei und krochen beim Versteckspiel durch die engen Fensterluken) und mußte mich von Luke zu Luke retten, hinter mir immer die undurchdringlich zusammengewachsene Glaswand, vor mir jeweils nur eine einzige, immer kleiner werdende -Öffnung. Wie ich endlich herauskam, stand ich in schwindelnder Höhe über den Dächern einer Stadt, vor mir nur der Himmel - und der Abgrund. Diese Träume scheinen mir einen Wahrheitsgehalt zu spiegeln: Das zwangsläufige Sich-retten-müssen in immer schlimmere Situationen, der verbaute Rückweg, Einsamkeit, völlige Abgeschlossenheit und dabei doch zugleich völliges Preisgegebensein (Glashaus), nirgends eine helfende Hand, zuerst sichtbare Verfolger, später nur noch die Gewißheit des Verfolgtwerdens, aber mit unvermindertem Druck tödlicher Angst, zuletzt Vernichtung - ober Rettung. Es gibt für den Leidenden kein Zurück in den früheren Zustand. Wie richtig sagt doch Erich Schick in seinem Buch „Der Christ im Leiden”: „Darum ist es zumeist keine Hilfe, sondern eine Vermehrung der inneren Not, wenn man solche schwermütigen Seelen in die -Oberfläche des Lebens, in die Harmlosigkeit, in den Schein zurückzuführen versucht. Das Wort Gottes kennt diese Art der Hilfe nicht. Da, wo ein Mensch gebannt ist vom Blick in die Tiefe, da hilft es ihm zuweilen so, daß es ihm noch tiefere Tiefen erschließt, Tiefen der Schuld und Tiefen des Erbarmens, daß es den Blick öffnet für die läuternde Macht der Ewigkeit.” Als ich an die Woche kam, war ich sehr müde, abgekämpft von den Spannungen und der Hetze des Alltagslebens, umgetrieben von ungelösten Fragen und Nöten. In den Hinweisen auf die sinnvolle Gestaltung des gottesdienstlichen Geschehens und damit verbunden, weil ja gegenseitig auseinander bezogen, auf die Gliederung des kirchlichen Raumes, wurde uns gezeigt, daß es sich bei der Begegnung mit dem Herrn im Abendmahl nicht nur um ein sinnbildliches Darstellen, sondern um eine erfaßbare Wirklichkeit, um ein jetzt und hier sich Vollziehendes handelt, daß Christus nicht nur der Vergangenheit, sondern ebensosehr der Gegenwart und der. Zukunft der neuen Welt angehört. Nicht daß ich diese Gedanken hier zum ersten Mal vernommen hätte, ich wuchs ja in christlich-kirchlicher Familie auf. Mit dem Verstand wußte ich das alles schon längst, aber jetzt durfte ich es erstmals glaubend erfahren und erfahrend glauben. Dazu trugen wohl am meisten die Meditationen über den Kirchenraum bei, die in dem alt-ehrwürdigen, festgefügten Gotteshaus gehalten wurden, dessen gewaltige, bergende Mauern in hohen Wölbungen bewahrende Kühle, wohltuende Stille umschlossen. Dieser so erlebte Kirchenraum mit seiner völligen Geborgenheit wurde mir zum Urerlebnis der Kirche in ihrem ganzen Sinngehalt. Und zwar so stark, daß ich mich bei einer inhaltlich ähnlichen spätem Meditation an einem andern Ort wiederum gerade in diesen Raum hinein versetzt fühlte. Jedesmal, wenn ich die Worte des damals meditierten 84. Psalmes höre: „Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Denn der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, da sie Junge hecken: Deine Altäre, Herr Zebaoth, mein König und mein Gott. Wohl denen, die in Deinem Hause wohnen; die loben Dich immerdar”, empfinde ich dankbaren und freudigen Herzens wieder dies Gefühl der Geborgenheit. Einen ganz wesentlichen Bestandteil der Hilfe bildeten für mich auch die Lieder. Wenn ich später in Gefahr kam, wieder in die Schwermut zurückzusinken, brauchte ich bloß diese Lieder wieder zu singen, oft einige Male hintereinander dasselbe Lied, und es wurde mir wieder leichter. Es war, wie wenn die Glaubenskraft der Lieder im Singen auf mich selber überginge, sich mir zu eigen machte. Jene geistliche Woche liegt nun mehr als vier Jahre zurück und ich habe seither viel Schweres erlebt, aber die Heilung hat standgehalten. Ich meine also nach meinen Erfahrungen, man könne Menschen, die den Gedanken an Selbstmord in sich tragen, nicht durch den Hinweis auf Strafen im Jenseits davon abhalten, diesen Schritt zu tun. Denn sie glauben im tiefsten Grunde ihrer Seele, daß Gott barmherziger ist als ihre Mitmenschen und sie dennoch aufnehmen wird. Viel besser ist es, ihnen zu zeigen, wie Gott uns gerade dann am nächsten ist, wenn unsere Not am größten ist, und daß er seine heiligen Engel sendet, uns zu stärken, wenn wir mit unserer eigenen Kraft zu Ende sind, daß wir h i e r s c h o n s e i n sind und er uns trägt und wir nicht erst zu ihm gehen müssen. Es hat oft den Anschein, als sei der Entschluß zum Selbstmord ganz plötzlich gekommen. Ich glaube, das ist nur sehr selten der Fall. Ein Mensch, der noch nie an diesen Ausweg gedacht hat, wird auch in schwierigen Lagen eine andere Lösung suchen. Dagegen tritt häufig klar zu Tage, daß der Selbstmord genau und gründlich vorausbestimmt und vorbereitet war. Das erste ist immer die Idee, und zwischen dem Gedanken und der Ausführung liegt die Spanne des inneren Kampfes - und der Rettungsmöglichkeit. Wie stark eine solche Idee sein kann, zeigt sich doch auch in der Beobachtung, daß der Selbstmörder selten die ihm im Augenblick nächstliegende Todesart und Todesmöglichkeit wählt, sondern nach vorgefaßten Gedankengängen und Vorstellungen handelt. Wenn ein Mensch ins Wasser gehen will, wird er nicht Schlaftabletten nehmen oder aus dem Fenster springen, sondern er wird eben das Wasser aufsuchen, das ihn schon so lange unheimlich anlockt. Mit der Vorstellung der in Aussicht genommenen Todesart verbinden sich wahrscheinlich auch Gefühle einer gewissen Lust und Genugtuung, für Außenstehende oft ganz unverständlich. Manchmal mag die Wahl der Todesart mit dem Grund der Verzweiflung zusammenhängen; so ist es naheliegend, daß ein Mensch mit Liebeskummer sich ins Herz schießt. In Ernst Wiecherts Roman „Das einfache Leben” kommt eine Förstersfrau vor, deren einziger Sohn im Krieg im Feuer umgekommen ist und die seither, mit Gott und der Welt zerfallen, in geistiger Umnachtung lebt. Sie begeht Selbstmord, indem sie die Scheune anzündet und in den Flammen untergeht, glücklich singend, in froher Erwartung der Wiedervereinigung mit dem Sohn. Ich weiß nicht, ob der Dichter hier ein Erlebnis gestaltete, das er tatsächlich in dieser seltenen Eindringlichkeit erlebt hat. Ich möchte es annehmen; jedenfalls liegt eine große innere Richtigkeit und Wahrheit darin. Diese Frau konnte sich keinen andern Tod denken. Ich wäre ins Wasser gegangen, weder in ein reißendes noch in ein stehendes Gewässer, sondern in einen stetig und ruhig dahinziehenden Strom; es hätte ein Versinken sein müssen, ein barmherziges Aufnehmen und Mitfortnehmen. Viele Leute können es nicht verstehen, daß sich Menschen ausgerechnet an hohen kirchliehen Feiertagen das Leben nehmen. Aber gerade dann ist wohl die Sehnsucht nach Geborgenheit bei Gott am größten. Auch empfindet man an solchen Tagen die Spannung zwischen dem, was auf Erden sein sollte, und dem, was tatsächlich ist, besonders schmerzlich. Ich erinnere mich an einen ruhigen, pflichtgetreuen Beamten, der an Ostern seine ganze Familie samt Kindern und Großeltern und zuletzt sich selber erschoß. Er hatte ein schönes Familienleben und befand sich in guten finanziellen Verhältnissen. Vielleicht hatte er sich etwas übernommen mit dem Bau eines neuen Einfamilienhäuschens, wahrscheinlich erlebte er dabei auch allerhand Ärger und Enttäuschungen, die ihn plötzlich die ganze Umwelt in düsterstem Schatten erblicken ließen; sachlich betrachtet war die Lage aber keineswegs aussichtslos, nicht einmal bedrohlich. Wenn ein solcher Mensch doch seelsorgerlichen Rat gesucht hätte, welch großes Unglück hätte vermieden werden können! Wenn wir aber die Menschen aufmuntern wollen, Hilfe zu suchen, müssen wir erst wissen, wo und wie solche Hilfe geboten werden kann. Denn der leidende Mensch weiß ja selber kaum recht, wo es eigentlich fehlt, er sieht nur die ihn erdrückenden Verhältnisse. Wichtig scheint mir vor allem, daß die Kirche nicht nur das moralische „Du sollst” predigt, das Gesetz, das wir ja doch nie ganz erfüllen können. Würde doch jeder Pfarrer auch an die „Mühseligen und Beladenen” unter seinen Zuhörern denken, die von ihm noch etwas mehr hören möchten als nur, was sie anders und besser machen sollten und wie gottfern die ganze heutige Welt sei. Das wissen sie nämlich schon längst nur zu gut, aber damit ist ihnen nicht geholfen. Jene geistliche Woche, an der mir damals die entscheidende Hilfe zuteil wurde, war nicht etwa eine „Spezialwoche für Selbstmörder”, und ich denke mir, daß jede volle und unverfälschte Weitergabe des Evangeliums von Jesus Christus heilende Wirkung hat, stoße sie nun auf Verirrungen dieser oder jener Art. Wichtig ist wohl aber doch, daß dabei der ganze Mensch erfaßt wird, nicht nur die verstandesmäßigen Schichten, sondern auch die unbewußten, aus denen ja unsere Ängste kommen. Sicher gibt es noch viele Menschen, denen der Glaube in ähnlichen Anfechtungen geholfen und Kraft zur Überwindung geschenkt hat, es kann ja gar nicht anders sein. Jedenfalls ist das Problem des Selbstmordes nicht damit gelöst, daß sich die Gerechten entsetzen und die Unglücklichen verdammen, sondern es erhebt sich auch hier für uns alle die Frage, wieweit wir unseres Bruders Hüter sein können und sollen - und wollen. Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 197-201 |
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