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von Hans-Joachim Thilo |
Das Oekumenische Institut in Bossey bei Genf hatte in diesem Jahre etwa 35 Psychiater, Psychotherapeuten und Pfarrer zusammengebeten, um über die Beziehungen zwischen Psychotherapie und Seelsorge zu arbeiten. Die Teilnehmer kamen aus England, Frankreich, Amerika, Dänemark. Schweden, Holland, der Schweiz und Deutschland. Alle Teilnehmer hatten sich in irgendeiner Weise in der täglichen Praxis ihres Berufes mit der obengenannten Problemstellung zu befassen. Die anwesenden Pfarrer waren fast sämtlich ausgebildete Psychotherapeuten oder hatten neben ihrem Theologiestudium gediegene medizinische Kenntnisse. Diese Tatsache zu erwähnen ist darum wichtig, weil dadurch von vornherein jede Schwärmerei nach beiden Seiten hin ausgeschlossen wurde. Die Tagung erhielt ihr besonderes Gepräge durch die Anwesenheit der drei bekannten Schweizer Neurologen und Psychotherapeuten Dr. Bovet, Dr. v. Orelli und Dr. Tournier. Dem Pfarrer begegnet es in der Praxis seiner Seelsorge zu wiederholten Malen, daß gewisse neurotische Störungen seines Besuchers diesen unfähig machen, wirklich das zu hören und aufzunehmen, was der Seelsorger von der Botschaft der Schrift her zu sagen hat. Auf der anderen Seite empfindet die Psychotherapie in zunehmendem Maße das Problem, das ihr mit der Frage gestellt ist, ob etwa die Bewußtmachung unbewußten Geschehens und die Befreiung von Krankheitssymptomen in jedem Falle schon als Heilung angesprochen werden kann. Es ergibt sich also die Frage, ob durch bewußte Zusammenarbeit insonderheit zwischen Psychotherapeuten und Seelsorgern der Dienst am Menschenbruder gefördert werden könnte. Neurosen als Ergebnis religiöser Hemmungen und als ein Hindernis zu echtem Glauben wurden in allen Ländern konstatiert, aus denen Vertreter anwesend waren. Im gleichen Augenblick wurde aber an die Seelsorge die ernste Frage gestellt, ob sie nicht unter gewissen Bedingungen geradezu der Grund für Hemmungen sein könne, die von einem holländischen Psychiater als „ecclesiogene Neurosen” bezeichnet wurden. Diese Gefahr ist immer dann besonders groß, wenn in der Seelsorge die Begriffe Sünde und Schuld ihres theologischen Charakters entkleidet werden und zu moralischen Begriffen herabsinken. An Hand eindeutiger Fälle mußten sich die anwesenden Pfarrer von französischen Psychiatern darüber belehren lassen, welche schweren Schädigungen eintreten können, falls moralisierende Seelsorge bei seelisch labilen Menschen zur Anwendung kommt. Hier wird auf der Seite der Pastoral-Theologie noch manches gelernt werden müssen. Schließlich wurde beinahe zwei Tage lang beraten, in welcher Weise die psychotherapeutischen und psychologischen Erkenntnisse dem Pfarrer und dem Theologiestudenten zugänglich gemacht werden sollten. Dabei ergab sich eine restlose Übereinstimmung in der Auffassung, daß die Aufgabenbereiche des Seelsorgers und des Psychotherapeuten getrennt bleiben müssen. Wenn auch Kenntnis psychotherapeutischer Vorgänge für den Pfarrer allgemein als dringend notwendig angesehen wurde, so soll er diese doch lediglich zum diagnostischen Gebrauch verwerten. Im allgemeinen dürfte der Pfarrer, der sich bei seinem Beichtkind zuerst nach dessen Traumleben erkundigt, um dieses zu analysieren, eine ebenso unerfreuliche Erscheinung sein, wie der Arzt, der seinen Patienten mit Bibelwort und Gebet „überfällt”. Allerdings konnte nicht geleugnet werden, daß es immer charismatische Veranlagungen geben wird, bei denen die Dinge so ineinander überfließen, daß Trennungen nicht möglich sind. Die Ärzte allerdings meinten ebenso übereinstimmend, daß in dem Augenblick, wo der Patient vom Arzt ein Wort zu dessen eigener Glaubensüberzeugung fordert, dieses mit aller therapeutisch gebotenen Vorsicht gegeben werden sollte. Eine Klassifizierung aber, die den „christlichen” Arzt als den allein guten Arzt oder den psychotherapeutisch ausgebildeten Seelsorger als allein guten Seelsorger ansieht, wurde allgemein abgelehnt. Im übrigen muß noch erwähnt werden, daß von ärztlicher Seite wiederholt mit Nachdruck darauf hingewiesen wurde, daß Neurosen keineswegs nur negativen Charakters sein müssen, sondern ebenso positive Möglichkeiten in sich tragen könnten. Auch bei der Frage nach überragenden christlichen Persönlichkeiten (Luther, Calvin), die eindeutig neurotische Züge tragen, kam die Konferenz zu der Feststellung, daß an diesem Punkt besonders sichtbar werden müßte, daß das ärztliche Urteil stets nur ein feststellendes sein darf, niemals aber wertenden Charakter tragen könne. Bei keiner ökumenischen Konferenz ist mir der Wert und die entscheidende Bedeutung geistlicher Ordnung so wichtig gewesen, wie in diesen Tagen. Die Psalmen im Morgen-, Mittag- und Abendgebet, ein verkündetes Schriftwort oder ein Satz aus einem Gebet schwangen bei vielen Gesprächen unhörbar mit. Die weise Leitung durch Professor Kraemer, den Direktor des Institutes, schenkte unter Wort und Gebet uns Tage fruchtbarer fachlicher Arbeit und brüderlicher Begegnung. Evangelische Jahresbriefe 1952, S. 222-224 |
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