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von Max Picard |
In einer Schrift, die sich für die moderne Kunst einsetzt, wird gesagt: die Gestalt der Dinge zerfalle heute, dies sei überhaupt die Tendenz unserer Zeit, und der Künstler müsse an dem Zerfall mithelfen, ja ihn beschleunigen, indem er die Dinge noch zerfallener und zerstückter in seinen Werken darstelle, als sie es in der Wirklichkeit sind - das sei ein Zeichen davon, daß der Künstler in der Zeit gelebt habe. Diese Argumentation kommt mir so vor, wie wenn einer sagen würde, er habe nur darum am Hitlerregime teilgenommen, um sich und anderen zu beweisen, daß er die Zeit des Hitlerregimes miterlebt habe - aber man kann eine Zeit auch miterleben, indem man sich gegen sie stellt. In jener Schrift steht auch, der Mensch von heute habe ein „facettiertes Bewußtsein”, d. h. ein Ding sei nicht mehr in seiner festen Form im Bewußtsein, sondern gleichzeitig in verschiedenen Formaspekten, gemäß dem Wirbel der Wirklichkeit, der auch ein Ding gleichzeitig unter verschiedenen Aspekten einem hinwerfe. Die auseinandergerissene Form der Kunst entspreche also der zerrissenen Wirklichkeit und der zerrissenen Art des Bewußtseins. Aber: wenn einer auf diese Entsprechung hinweist, so sagt er damit keine Wahrheit, er gibt bloß eine Feststellung. Denn das macht ja nicht den Menschen aus, daß er jede Verwirrung der Wirklichkeit registriert, sondern daß er sie ordnet. Erst dann wird die Beziehung des Bewußtseins zur Wirklichkeit wahr, wenn das Bewußtsein die Wirklichkeit als einen Teil der Schöpfungsordnung erkennt oder als einen Abfall von ihr. Erst dann hört das Bewußtsein auf, ein bloßer Registrierapparat zu sein, und wird eine Funktion der Wahrheit. Es ist selbstverständlich, daß der Künstler an seiner Zeit teilzunehmen hat, und zwar darum, weil die Dinge, die in ihr geschehen, auch für ihn geschehen, er muß auf sie antworten mit seiner Kunst und, auf die Dinge antwortend, sie so verantworten. Das geschieht dadurch, daß er den Dingen, deren Wesen undeutlich geworden und verkümmert ist im „Betrieb”, wieder die Unversehrtheit gibt oder an ihnen die Trauer aufdeckt, daß die Unversehrtheit verloren ging - der Künstler der atomisierenden Darstellung von heute zeigt aber die zerfallenden Dinge nicht mit Trauer, sondern triumphierend, so als ob sich die Dinge wohl fühlten in der Zerstörung, der Künstler triumphiert, daß er sie gepackt hat in diesem wohligen Zustand der Zerstörung. Er hat vergessen, daß dies seine Aufgabe wäre: das Objekt, das im „Betrieb” aufgebraucht ist, sich wieder erholen zu lassen unter seinem Blick, ihm sein ganzes Wesen wiederzugeben (und zu diesem ganzen Wesen kann auch die Angst des Objektes gehören, daß es vernichtet werde); das Objekt muß wieder zu sich selber kommen durch den Künstler, im „Betrieb” hat es sich an andere und an anderes verloren. Es geht etwas Ganzmachendes, Heilendes von einem Bilde aus, in welchem die Dinge durch den Künstler die Unversehrtheit zurückerhielten oder wo sie durch ihn die Trauer um ihre Zerstörung geschenkt bekamen. Die Welt geht auf, sie entfaltet sich auf diese Weise, sie nimmt zu - auf die andere schrumpft sie ein. Denn es geht etwas Aufbrauchendes von dem Phänomen der Zerstückung aus, aufbrauchend weit hinaus über das zerstückte Objekt. (Das Ende dieser Zerstückung ist die Atombombe, die überhaupt nichts Unzerstücktes mehr neben sich duldet.) Auf einem modernen Bilde ist nichts als der Teil da, und dieser Teil bezieht sich auf nichts als auf sich selber (daher seine Trostlosigkeit), man wirft daher ohne Scheu .andere Teile, anderes Zerfallendes, neben ihn, auf ihn, der Teil ist unbehütet durch ein Ganzes. Auf nichts beziehe sich solch ein Teil, habe ich gesagt, nicht einmal auf die eigene Zerbrochenheit, nicht einmal auf den Akt, durch den die Zerbrochenheit entstand. Das wäre doch menschlich: Trauer zu empfinden über die Zerbrochenheit - nein, hier ist das pure Zerbrochene, wie ein Grab ohne Grabstein ist es, wie Tod ohne vorangegangenes Leben. Ein solch Zerstücktes sagt überhaupt nichts von dem Wesen des Dinges aus, zu dem es einst gehört hat, die Zerstückung wird hier autonom und sagt nur von sich selber aus: von den Modalitäten der Zerstückung, vom Programm der Zerstückung, und so sieht auch diese Malerei aus: wie ein Programm der Zerstückung. Sie sagt etwas aus von dem Menschen, der so etwas unternommen hat, aber auch eigentlich nicht mehr von dem Menschen, sondern bloß noch von der Möglichkeit eines Menschen, von ihm, der mehr bloße Möglichkeit als Mensch ist. Damit soll nicht gesagt sein, die altmodische, epigonale Malerei von heute sei das Erstrebenswerte. Nein, - nur scheinbar sehen die Gegenstände dieser Bilder ganz aus: sie sind nur wie durch Zufall ganz, durch den Zufall einer Variation in dem großen Wirbel der allgemeinen Zerstückung hat sich das Zerstückte einen Augenblick lang zu einem scheinbar Ganzen getroffen, es sieht aus wie ein nur durch Drähte, Mechanismen, Prothesen künstlich zusammengehaltenes Ganzes. Das Potential dieses Wirbels der Zerstückung ist so groß, daß überhaupt alles heute nur wie ein Produkt dieses Wirbels erscheint. Die Gefahr besteht, daß auch das Ganz-Echte, das nichts mit diesem Wirbel zu tun hat, einem auch nur als das Produkt dieses Wirbels vorkommt. Das ist der Hauptgrund für die Verwirrung der Menschen heute. Man darf auch nicht sagen, die atomisierte Kunst von heute sei bloß ein Anfang, das entwickle sich erst zum Vollkommenen, man darf das nicht sagen, denn das, was atomisiert ist, steht so deutlich vor uns, daß es gilt und nicht das, was vielleicht kommen könnte. Wir dürfen nicht von dem, was vor uns hingestellt ist, in die Möglichkeiten einer Zukunft entfliehen. Und die Deutlichkeit dieses Gegenwärtigen ist so heftig, daß sie nicht bloß vom Objekt selber herzukommen scheint: es ist eine Deutlichkeit, die hinausgeht über jene, mit der sich ein Objekt nur von sich aus, von der Erde aus, deutlich machen kann. Es ist eine Deutlichkeit, die das Feuer des Jenseitigen, des Himmels oder der Hölle, an sich hat. Was einen erschreckt, ist das Konsequente oder vielmehr das Gerade, Einlinige der Bewegung vom Jugendstil zur atomisierten Kunst: es erschreckt einen, daß die atomisierte Kunst berechenbar war. So entsteht nur das Dürftige, Dünne, das, was ohne Fülle ist, es fehlt das Charakteristikum der wirklichen Kunst: das Überraschende. Es ist ein Unterschied, ob die Physiognomie einer Zeit dadurch einheitlich wird, daß eine Idee alle Erscheinungen der Zeit durchdringt, oder ob alles dadurch ähnlich wird, daß alles in der gleichen Weise auseinanderbricht. Das eine ist die Ähnlichkeit durch die zeugende Fülle einer Idee, das andere ist die mechanische Nivellierung durch die Gleichheit der Zerstörung. Vielleicht, wenn die Zerstückung nur auf die Methode der Wissenschaft und auf die Art des täglichen Lebens beschränkt bliebe, vielleicht würde sie dann, andauernd nur auf sich selber stoßend, Angst vor sich selber bekommen und, sich besinnend, wieder zum Ganzen zurückkehren. Aber: da ist ja die Kunst, die auch zerstückt ist, und die Zerstückung im „Höheren” scheint die Zerstückung in der Wissenschaft und im Leben zu rechtfertigen, sie bildet einen falschen Himmel über der anderen Zerstückung, sie deckt sie, sie legitimiert sie. Es gibt amerikanische Büromaschinen: man drückt auf einen Knopf und heraus fällt aus einem Schlitz ein Photo mit angehefteter Beschreibung: eine Stenotypistin, die Englisch, Spanisch, Holländisch spricht und schreibt und französisch und englisch stenographiert, wie man es gewünscht hat, als man auf den Knopf drückte. Jede beliebige Person, die für einen bestimmten Zweck gewünscht wird, wird durch diese Maschine geliefert - es ist, als ob von einer solchen Maschine auch die Kunst geliefert würde, die dazu paßt: man drückt nur auf einen Knopf. Die Zerstückung kann nicht mit dem Gleichen, also auch mit der Zerstückung bewältigt werden, sondern nur mit dem ganz und gar Anderen. Orpheus hat die Unterwelt nicht dadurch besiegt, daß er sich auch dunkel oder noch dunkler machte als die Unterwelt und in die Höhle der Dunkelheit Eurydike hineinzog. Sondern er bezwang die Dunkelheit durch das ganz und gar Andere: durch den Gesang, durch den ganz und gar hellen Gesang. Der Verteidiger der modernen Kunst wird sagen, daß er das Zerstückte gar nicht bezwingen wolle, daß es ihm vielmehr als das wahre Wesen der Dinge gelte - man solle nur daran denken, wie weit die Physik mit der Zerstückung, der Atomisierung gekommen sei - und daß darum die Kunst an dieser Methode teilhaben müsse. Mir scheint, man könne nicht sagen, die Wissenschaft sei so beim rechten Teil, beim „Kern” eines Dinges angelangt, wenn man mit diesem „Kern” schließlich bei der Zerstörung der Erde anlangt. Ist es nicht auch möglich, daß die Dinge selber heute die Menschen narren, daß die Dinge ihr wahres Wesen verstecken und daß sie den Menschen solch einen Teil, solch ein Zerstücktes, das für sie gar nichts bedeutet, hinwerfen, zum Experimentieren, damit sie, die Menschen, dort ankommen, wo sie angekommen sind: bei der Atombombe: die Atombombe, eine Erfindung nicht des Menschen, sondern die Rache der sich zurückziehenden, mißhandelten Dinge? Quatember 1953, S. 8-13 |
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