Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1953
Jahrgänge
Autoren
Suchen

Einsamkeit im Kosmos
von Pascual Jordan

LeerDem mittelalterlichen Denken war die Erde gleichbedeutend mit dem „Irdischen”; über dem Sternengewölbe lag das Himmelreich, das ebenso wie die unterirdischen Bezirke der Hölle seinen Platz im dreidimensionalen Raume hatte. Das durch eine sich verselbständigende, sich säkularisierende Naturforschung gewonnene neuartige Naturbild, das seit Kopernikus den ganzen dreidimensionalen Raum als Wirkungsfeld von Naturgeschehnissen in Anspruch nahm, ohne darin für Himmel und Hölle einen Platz zu lassen, hat durch die Beseitigung einer Ausnahmestellung der Erde auch eine Ausnahmestellung des Menschengeschlechtes in Frage gestellt: Bereits Giordano Bruno hat bekanntlich den Gedanken vertreten, auch andere Weltkörper seien bewohnt.

LeerDieser Gedanke mußte sich neu beleben, als die naturwissenschaftlichen Ergebnisse des vorigen Jahrhunderts dazu führten, den Menschen als Glied des allgemeinen organischen Lebens der Erde aufzufassen, hervorgegangen aus tierischen Vorfahren. Die historische Entwicklung der Tierwelt der Erde, in Zeitspannen von vielen Jahrmillionen, konnte in großen Zügen aufgeklärt werden - die winzigen Einzeller erwiesen sich als Ausgangsformen aller späteren Entwicklung. Wenn auch nach dem um die Jahrhundertwende erreichten Erkenntnisstand zwischen einfachsten einzelligen Lebewesen und den unbelebten anorganischen Stoffen immer noch eine Kluft bestehen blieb, die nur durch höchst ungewisse Hypothesen einer „Urzeugung” von niedrigstem Leben aus leblosem Stoff überbrückt werden könnte, so verstärkte sich doch die Überzeugung, daß auch auf anderen Weltkörpern ähnliche Entwicklungen eingetreten seien.

LeerUnsere Erde ist ja nur einer unter mehreren Planeten der Sonne; unsere Sonne ist nur ein einzelnes Beispiel unter zahllosen Fixsternen. So wurde es zu einem Lieblingsgedanken einer von der Entwicklungslehre stark beeindruckten Zeit, daß wir, in stiller Nacht aufblickend zu den Sternen, dort in der unüberbrückbaren Ferne uns ähnliche, fühlende Wesen vermuten dürften.

LeerBekanntlich haben die seinerzeit von manchen Astronomen sehr ernsthaft kartographierten „Marskanäle”, aus denen man auf das Vorhandensein dortiger zu hoher Technisierung fortgeschrittener Bewohner geschlossen hat, ähnliches Aufsehen erregt, wie heute die „fliegenden Untertassen”. Jedoch hat man hernach die Marskanäle als optische Täuschungen beurteilt; und von den fliegenden Untertassen wird man das Gleiche vermuten dürfen, solange nicht wesentlich bessere Beweise als bisher geliefert werden.

Linie

LeerObwohl diese der Tagessensation angehörenden Dinge von rein säkularem Charakter sind, so ist doch die Frage, ob es wirklich auf anderen Weltkörpern Leben gibt, eine Frage von hoher theologischer Bedeutung. Daß die durch Kopernikus eingeleitete Entwicklung Himmel und Hölle aus dem dreidimensionalen Raum ausgeschlossen und damit gewissermaßen ihrer greifbaren Anschaulichkeit beraubt hat, erzwang eine Wandlung auch der theologischen Vorstellungen in einem Ausmaß, das uns heute nur noch schwer nachfühlbar ist: Man muß versuchen, sich in die Denkweise des Mittelalters hinein zu versetzen, um nachempfinden zu können, mit wieviel größerer Naivität, aber auch mit wieviel größerer Inbrunst der Bericht von Christi Himmelfahrt innerlich aufgenommen werden konnte von Menschen, nach deren Vorstellung eine räumliche Aufwärtsbewegung in ganz greifbarer Weise eine Annäherung an die Zone des Himmelreiches bedeutete.

LeerDie Wendung zu einer abstrakteren Auffassung, welche durch die Astronomie erforderlich geworden ist, könnte freilich ihre Fortsetzung darin finden, daß wir auch die Gottesebenbildlichkeit des Menschen abstrakter fassen, so daß sie nicht die Möglichkeit einer gleichzeitigen Gottesebenbildlichkeit etwa insektenartiger oder krebsartiger Bewohner anderer Weltkörper auszuschließen braucht, die trotz ganz anderer Körpergestalt uns seelisch ähnlich sein könnten. Jedenfalls aber tauchen hier Fragen auf, von denen man im Zeitalter beginnender Raumschiffahrt nicht gut sagen kann, daß sie uns Menschen nichts angehen; aber ein Urteil darüber, was das Christusereignis bedeuten könnte in einer Welt mit zahllosen bewohnten Himmelskörpern, würde nur sehr schwer zu gewinnen oder zu begründen sein.

LeerSoweit ich sehe, ist nur von katholischer Seite bislang versucht worden, diese Fragen theologisch zu durchdenken. Die gegebenen Antworten beanspruchen wohl nur eine vorläufige Bedeutung, als persönliche Auffassungen einzelner theologischer Autoren über Fragen, zu denen es noch keine verbindliche Lehrmeinung gibt; sie verdienen aber sicherlich besondere Aufmerksamkeit. Es ist der Gedanke ausgesprochen worden, daß Christus nur den Menschen der Erde etwas zu sagen hatte, und daß vielleicht etwaige Bewohner anderer Weltkörper der Erlösung durch Christus gar nicht bedürfen, indem sie der Sünde nicht verfallen sind. (Wobei die Sünde als spezifisch Menschliches gefaßt wird, das in der Tierwelt trotz ihres mörderischen wechselseitigen Kampfes noch gar nicht vorhanden ist.) Die Möglichkeit eines aus tierischen (oder Tier-analogen) Vorfahren entstandenen Wesens, das naturhaft an die Notwendigkeit des Tötens anderen Lebens gebunden bleibt, aber einerseits unter Verlassen der tierhaften Entwicklungsstufe menschenartige geistige Fähigkeiten erreicht (oder übertrifft), und andererseits keiner Sünde menschlicher Art verfällt, ist freilich eine Vorstellung, die große Schwierigkeiten zu enthalten scheint. Jedoch soll hier lediglich das Vorhandensein theologisch gewichtiger Fragen hervorgehoben werden, ohne Versuch einer Beantwortung.

Linie

LeerInzwischen haben sich aber gegenüber dem Jahrhundertanfang bedeutsame Vertiefungen und Wandlungen unserer naturwissenschaftlichen Vorstellungswelt ergeben. Die Erweiterung unseres astronomischen Blickfeldes hat einerseits noch stärker unterstrichen, daß unsere Sonne keinerlei Sonderstellung im Kosmos hat: Etwa hundert Milliarden von Sonnen sind in unserer Milchstraße versammelt, wobei übrigens die unsrige keineswegs im Mittelpunktsgebiet dieser riesigen Wolke von Sternen steht, sondern davon recht weit entfernt. Aber auch unsere Milchstraße ist kein Ausnahmegebilde des Kosmos - der durch heutige Fernrohre abgetastete Raum enthält rund eine Milliarde ähnlicher Sternsysteme.

LeerAndererseits ist die von Giordano Bruno so leidenschaftlich verkündete Vorstellung eines in Raum und Zeit unendlichen Kosmos recht unwahrscheinlich geworden. Die meisten Sachkundigen bezweifeln heute die Gültigkeit der euklidischen Geometrie in den Verhältnissen des Weltraums im Großen, und halten es für wahrscheinlich, daß unser Kosmos einen nichteuklidischen Raum darstellt, der - in einer Weise, die dem anschaulichen Vorstellen unvollziehbar, aber der abstrakten Mathematik einwandfrei präzisierbar ist - die Eigenschaft, unbegrenzt zu sein, vereinbart mit einem trotzdem endlichen Gesamtvolum, dessen Größe bereits roh bestimmt werden kann. (In Kubikzentimetern auszudrücken durch eine 1mit 84 Nullen dahinter.) Zwar sind diese Vorstellungen noch in gewissem Ausmaß hypothetisch, aber es besteht begründete Aussicht, daß wir in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten zu weitgehender Klärung kommen werden.

LeerNoch unwahrscheinlicher als eine räumliche Unendlichkeit ist heute eine zeitliche Unendlichkeit des Kosmos - starke Gründe sprechen für die Überzeugung, daß er erst seit endlicher Zeit (drei bis vier Milliarden Jahre) in einem dem heutigen ähnlichen Zustand ist. Radikale theoretische Deutungsversuche erwägen die Möglichkeit eines jetzt drei bis vier Milliarden Jahre zurück liegenden echten Anfangs der Zeit als solcher (womit die moderne Kosmologie in überraschende Übereinstimmung gelangt mit alten Gedanken, die von Augustin und Thomas von Aquin ausgeführt worden sind); jedenfalls aber ergeben fast alle heute fachwissenschaftlich erörterten Möglichkeiten der Kosmologie, daß nirgends im Kosmos eine Entwicklung organischen Lebens noch früher als vor etwa drei Milliarden Jahren begonnen haben kann.

LeerEs scheint also, daß sowohl der räumliche Schauplatz als auch die geschichtliche Vergangenheit alles etwaigen organischen Lebens als endlich zu denken ist; und wenn sich dies im weiteren Fortgang der wissenschaftlichen Forschung bestätigen sollte, so würde es eine eigentümliche Veränderung unseres Urteils über ein Leben auf anderen Weltkörpern ergeben. Denn es wird dann zu einer quantitativen Frage, ob eine merkliche Wahrscheinlichkeit für das Vorhandensein solchen Lebens besteht. Wenn auch unsere Erde im astronomischen Sinne kein ungewöhnliches Gebilde ist, so ist doch sicher, daß sie nur durch ein seltenes, überaus unwahrscheinliches Zusammentreffen vieler begünstigender Umstände als Ort der Lebensentwicklung geeignet wurde.

Linie

LeerDie Venus ist von einer dicken Wolkenhülle umzogen, die wohl kaum etwas Sonnenlicht bis zu ihrer unteren Grenze hinunter dringen läßt - das Vorhandensein organischen Lebens ist wenig wahrscheinlich. Auf dem Mars hingegen zeigen sich Erscheinungen, die heute von berufensten Spezialisten tatsächlich als organisches Leben angesehen werden - freilich in Formen, die unseren Untertassen-Gläubigen keine Bestätigung geben. Es gibt eine ausgedehnte Zone, deren grünliche, überdies jahreszeitlich veränderliche Färbung kaum einem anorganischen Gestein zugeschrieben werden kann; auch muß sie ein gewisses Vermögen ständiger Erneuerung besitzen, da sie andernfalls längst überdeckt wäre durch den gelblich-roten Staub, der in den ausgedehnten Wüstengebieten des Planeten ständig aufgewirbelt und durch Winde weit fortgetragen wird. Das fast völlige Fehlen von Wasser, das inzwischen zuverlässig erkannt wurde, und das arktische Klima des Mars wären kein Hindernis für organisches Leben, wenn wir uns dieses als ähnlich den Flechten denken würden, von denen wir auf unserer Erde mehr als 17 000 Arten kennen, die z. T. unter ähnlichen Bedingungen gedeihen. Jedoch kann dieser als einigermaßen wahrscheinlich anzunehmende Pflanzenteppich in den „Tropen” des Mars angesichts des Wassermangels keine größere Dicke als etwa ein Zehntelmillimeter haben.

LeerWie viele von den sonstigen Sonnen des Kosmos haben aber Planeten, und mit welcher Häufigkeit sind darunter solche zu finden, die der Erde in ihren Verhältnissen so ähnlich sind, daß sie organisches Leben auch in anspruchsvolleren Formen zeigen könnten? Wenn wir im alten Stil an das Vorhandensein unendlich vieler Sonnen (und an eine unendlich weit zurückreichende geschichtliche Vergangenheit des Kosmos) glauben würden, so wäre diese Frage müßig. Mag auch das Vorhandensein von Planeten eine noch so seltene Erscheinung sein; und mag auch eine erwähnenswerte organische Lebensentwicklung noch so enge, fast vollkommene Übereinstimmung mit den besonderen physikalischen Verhältnissen unserer Erde erfordern - bei unendlicher Vielzahl der Sterne wird man auch unendlich viele bewohnbare Planeten erwarten müssen. Aber sobald wir nur mit endlich vielen existierenden Sonnen rechnen (nämlich ungefähr 100 Trillionen), gibt es auch nur endlich viele bewohnbare Weltkörper. Die Frage wird also dringlich, ob nicht vielleicht ihre Anzahl sehr viel kleiner ist, als man früher vermutete.

LeerLeider werden wir noch einige Zeit warten müssen, bevor diese Frage genauer zu beurteilen ist. Jedenfalls aber ist nach heutigem Wissen die Meinung, daß es bewohnbare Weltkörper in riesiger Menge geben müsse, nicht besser begründet als das Gegenteil.

LeerHinzu kommt nun, daß wir heute auch in folgender Frage ein sehr schwieriges Problem sehen müssen: Angenommen, es sei vor einigen Milliarden Jahren irgendwo im Weltall ein Planet entstanden, der seitdem ununterbrochen ebenso günstige Vorbedingungen für organisches Leben geboten hätte, wie unsere Erde. Dürfen wir damit rechnen, daß auf jenem Planeten dann auch tatsächlich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit organisches Leben entstanden ist? Diese Frage ist bei allen älteren naturwissenschaftlichen Erörterungen unseres Problems ganz außer Acht gelassen worden: Man hat es dabei gewöhnlich als selbstverständlich angesehen, daß organisches Leben dort, wo es gedeihen kann, tatsächlich auch zur Entwicklung kommen werde, sofern ausreichende Jahrmillionen dafür zur Verfügung stehen.

Linie

LeerUm so bedeutungsvoller scheint deshalb die Tatsache, daß unser heutiges Wissen - wenn es freilich auch in diesem Punkte wiederum noch wenig Greifbares oder Sicheres zu besagen vermag - ein so kräftiges Fragezeichen an diese Stelle setzt, daß man geradezu sagen kann: Auch dann, wenn es im Kosmos eine sehr große Zahl bewohnbarer Planeten geben sollte, könnte trotzdem die Zahl bewohnter Planeten sehr klein sein. Zur Erläuterung und Rechtfertigung dieser seltsamen These ist freilich eine etwas weiter ausholende Betrachtung nötig.

LeerBekanntlich wurden seinerzeit durch Haeckels an Darwin anknüpfende Forschungen die Stammbäume tierischer und pflanzlicher Arten so weit geklärt, daß man die Einzeller als frühe historische Urformen und Ausgangsformen alles höheren organischen Lebens erkannte - und diese Erkenntnis ist, in ihrem rein naturwissenschaftlichen Gehalt, natürlich eine endgültige Erkenntnis, an der nichts mehr zu ändern ist, wie sehr auch die weltanschaulichen Folgerungen, welche die Haeckel-Zeit daraus zu ziehen liebte, heute als abwegig gelten müssen. Mit diesem Ergebnis glaubte man damals aber die Geschichte und den Ursprung des organischen Lebens im Wesentlichen aufgeklärt zu haben: Einfachste Einzeller, wie etwa die Amöben, sehen ja im Mikroskop aus wie Tröpfchen von Schleim, ohne bleibende bestimmte Gestalt, und ohne erwähnenswerte Besonderheiten des inneren Baues. So schien es erlaubt, sich vorzustellen, daß solche Amöben gar nicht weit entfernt seien von anorganischer, lebloser Materie - daß, wenngleich ihre Erzeugung durch Fortpflanzung eine Tatsache ist, vielleicht gelegentlich auch spontan, elternlos, aus anorganisch zusammengemischten schleimigen Stoffen Amöben oder ähnliche Einzeller entstehen könnten: „Urzeugung”, wie man es gern nannte.

LeerDas heutige, auf viel eindringlichere Forschung gestützte Bild der Amöbe ist aber ein ganz anderes: Wir wissen jetzt, daß auch die einfachsten Einzeller, die wir beobachten können, so erstaunliche Wunderwerke sind, so verwickelt und so streng gesetzmäßig durchgestaltet in den Feinheiten ihres Innenbaus (vor allem im molekularen Aufbau der vielen verschiedenen in ihnen enthaltenen Eiweißstoffe), daß es völlig unmöglich ist, sie auf einem verhältnismäßig kurzen Wege mit einer Urzeugung aus Anorganischem in Verbindung zu bringen. Der Entwicklungsweg, den die organische Lebewelt zurückzulegen hatte, bevor einfachste Formen von Einzellern zustande kamen, kann kaum wesentlich kürzer gewesen sein, als jener Weg, der von Einzellern bis etwa zu frühen Wirbeltieren führte - Jahrmillionen müssen darüber vergangen sein.

LeerEin Versuch, zu erkennen, auf welchen Wegen die organische Lebewelt zu ihrer Entfaltung gekommen ist, darf also nicht haltmachen bei der Rückwärtsverfolgung unserer Ahnen bis zu den Einzellern hinunter: Sondern dahinter liegt - in nebelhafter Ferne der Vergangenheit - ein nicht weniger spannungsreiches und ereignisreiches Zeitalter, als dessen Endergebnis erst die Einzeller auf dem Schauplatz der Erdgeschichte aufgetreten sind.

LeerWie aber die Vorstufen oder Frühformen organischen Lebens in den Jahrmillionen vor den ältesten Einzellern vorzustellen sind, dafür hat uns die moderne Virusforschung wesentliche Hinweise gegeben. Wir kennen ja heute eine große Mannigfaltigkeit von Krankheitserregern, die noch wesentlich kleiner als die Bakterien, die kleinsten Einzeller, sind. Elektronenmikroskope und andere moderne Forschungsmittel haben uns hier Einblicke in ein ganz neues Reich der Lebewesen gegeben.

Linie

LeerMan hat übrigens vielfach bestritten, daß diese kleinen Erreger noch als „Lebewesen” anzusprechen seien; doch ist das ein ganz inhaltleerer Streit um Worte. Jedenfalls sind diese winzigen Erreger in der Hinsicht den größeren organischen Individuen (Einzellern oder Mehrzellern) verwandt, daß auch sie - soweit unsere Erfahrung reicht - niemals spontan, elternlos entstehen, sondern nur durch Vermehrung, also durch Vorgänge, welche das Vorhandensein mindestens eines solchen Individuums schon voraussetzen, und dann durch eine Verdoppelung jeweils ein neues Individuum gleicher Art entstehen lassen.

LeerDa alle heute bekannten Viren parasitisch existieren, also nur innerhalb höher organisierter Wirtskörper (mindestens Bakterien) zur Vermehrung kommen können, so dürfen diese Virusarten sicherlich nicht als ursprüngliche, historisch alte Formen angesehen werden, die schon vor dem erstmaligen historischen Auftreten von Einzellern entwickelt wären. Trotzdem ist der Analogieschluß unabweisbar, daß in jenem Zeitalter, als es noch gar keine Einzeller gab, ihre damaligen Vorstufen oder Ahnen virusähnliche Gebilde gewesen sein müssen - daß die ältesten dieser Formen vermehrungsfähige (und zwar nicht-parasitär vermehrungsfähige) Eiweißmoleküle gewesen sind. Denn auch bei manchen der heute vorhandenen parasitären Virusarten sind die Individuen so klein, daß sie im exakten Sinne einzelne Moleküle sind. Während also die große Geschichte des organischen Lebens unserer Erde in ihren späteren Abschnitten eine Geschichte von Säugetieren, von Sauriern, von Trilobiten oder mindestens von Einzellern ist, stellt sie sich in ihren einleitenden Jahrmillionen als eine Geschichte individueller Moleküle dar.

LeerDamit geraten wir also, wenn wir rückwärts blickend die Frühgeschichte des organischen Lebens bis in ihre Anfänge verfolgen, in die Zone der Molekülphysik und Atomphysik; und die seltsamen Ergebnisse der modernen Atomforschung zum Kausalitätsproblem verlangen Beachtung in unserer Erwägung. Die in aller „Makrophysik” zu bestätigende kausale Determinierung des Geschehens - welche den Naturvorgängen den Charakter uhrwerksmäßigen Ablaufs gibt - ist in der „Mikrophysik” nicht nur nicht mehr zu erkennen, sondern es konnte im Gegenteil ihr objektives Nichtvorhandensein festgestellt werden. Damit ist eine Wandlung unserer Naturvorstellung eingeleitet, deren Tragweite kaum überschätzt werden kann.

LeerIst doch in den Traditionen abendländischen Denkens - auch im philosophischen und auch im theologischen Bereich - die Neigung weit verbreitet gewesen, die Vorstellung lückenloser Determinierung alles Geschehens zu den apriorischen Notwendigkeiten rationalen Denkens zu rechnen. Statt dessen wissen wir heute, daß jede Einzelreaktion (jeder „Quantensprung”) eines einzelnen Atoms oder Moleküls ein Ereignis bedeutet, das nicht vorausbestimmt war, sondern gleichsam eine Entscheidung vollzieht. Nur bestimmte Wahrscheinlichkeiten dafür, daß die Entscheidung so oder so ausfallen werde, sind naturgesetzlich festgelegt; und der Begriff der „Wahrscheinlichkeit” besagt ja, daß nur im Kollektiv, nur in der Vermassung zwangsläufige Determinierung des statistischen Durchschnittsgeschehens zustande kommt, während dem Einzelvorgang ein unaufhebbarer Spielraum von Entscheidungsfreiheit bleibt.

Linie

LeerDie vermehrungsfähigen Eiweißmoleküle, die wir uns nach Obigem als Vorstufen noch der einfachsten Einzeller zu denken haben - wenn wir ihren Vermehrungsvorgang als „Autokatalyse” bezeichnen, so haben wir eine Vorwegnahme eigentlich biologischer Begriffe ganz vermieden -, weisen nun freilich, da auch sie (wie später das voll entfaltete organische Leben) in Generationsketten in Erscheinung treten, auf einen bestimmten historischen Ursprung hin: Irgendwie bleibt der Begriff der „Urzeugung” in der Tat unentbehrlich. Es hat zwar seinerzeit eine Hypothese Anhänger gefunden, die den mit der Vorstellung einer Urzeugung verknüpften Schwierigkeiten dadurch zu entgehen suchte, daß sie einen kosmischen Ursprung des Lebens unserer Erde annahm: Winzige einzellige Lebenskeime könnten zweifellos gleich Staubkörnchen den Weltraum durchwandern, vom Strahlungsdruck angetrieben, und so von einem Stern oder Planetensystem zu einem ändern gelangen.

LeerAber der Versuch, auf diese Weise das organische Leben als eine anfangslos von jeher bestehende Naturerscheinung zu deuten, wird hinfällig, nachdem wir wissen, daß der Kosmos (mindestens in einer der heutigen ähnlichen, den Fortbestand von Leben oder Lebenskeimen ermöglichenden Form) nur eine endliche, begrenzte Vergangenheit hat. Die fragliche Hypothese könnte also lediglich dazu dienen, die Urzeugung auf einen anderen Ort, als die Erde zu verlegen; und zwar auf einen nicht allzu weit entfernten Ort, da die verflossene Zeit noch gar nicht ausgereicht hätte für Wanderungen über größere astronomische Entfernungen. Außerdem müßte aber ein Lebenskeim, der für lange Zeit im Weltraum ausgesetzt wäre, durch die kosmische Strahlung abgetötet werden - von der man noch nichts ahnte, als die Hypothese der „Panspermie” vertreten wurde.

LeerDer Begriff „Urzeugung” wäre passend anzuwenden auf die erstmalige Entstehung autokatalytisch vermehrungsfähiger Moleküle - auf den Anfang der Generationskette dieser die Frühform oder Vorstufe alles organischen Lebens bildenden Eiweißmoleküle. Irgendwann und irgendwie muß ja die ursprünglichste zur Autokatalyse befähigte Substanz einmal ohne die katalytische Mitwirkung eben dieser Substanz entstanden sein - hernach konnte sie sich dann durch Autokatalyse vermehren. Für die Frage aber, die wir hier erwägen - die Frage nämlich, ob bewohnbare Planeten auch als bewohnte zu vermuten sind -, ist es entscheidend, ob wir die so definierte Urzeugung als einen Vorgang anzusehen haben, der auf der Erde mit naturgesetzlicher Notwendigkeit eintreten mußte - oder nicht.

LeerDies aber erweist sich im Lichte der atomphysikalischen Erkenntnisse als schlechthin gleichbedeutend mit der Frage, ob jene „Urzeugung” ein makrophysikalischer oder ein mikrophysikalischer Vorgang war. Hat sich einmal vor zwei bis drei Milliarden Jahren im damals noch lebhafteren Chemismus der vulkanisch erregten Erde ursprüngliches Eiweiß in makroskopischer Menge gebildet - etwa ein ganzes Milligramm -, so gehörte dies zu den der Zwangläufigkeit makrophysikalischer Determinierung unterliegenden Vorgängen.

Linie

LeerAber es könnte so gewesen sein, daß nur ein einziges Molekül von primitivstem zur Autokatalyse befähigtem Eiweiß sich spontan, elternlos gebildet hat, und daß von diesem „Adam” aus in lawinenartiger Vermehrung alles je auf der Erde gebildete Eiweiß erzeugt wurde. Träfe diese Denkmöglichkeit das Richtige, so hätten wir zu schließen, daß sich in jener einmaligen spontanen Bildung eines Eiweißmoleküls ein überaus unwahrscheinlicher Vorgang vollzogen hat, dessen Wahrscheinlichkeit vielleicht so gering ist, daß man zweifeln kann, ob unter den endlich vielen bewohnbaren Planeten des Kosmos mehr als einer zum Schauplatz eines solchen Ereignisses geworden ist.

LeerÜberlegungen, die sich auf grundlegende Erfahrungstatsachen aus der Chemie des Organischen stützen, liefern nun in der Tat starke Gründe zugunsten der Überzeugung, daß der Ausgangspunkt der organischen Lebensentwicklung der Erde wirklich ein einmalig vollzogener mikrophysikalischer Vorgang gewesen ist, und daß auf Grund ungeheuer kleiner Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis fraglich bleibt, ob es sich noch irgendwo anders im Kosmos wiederholt hat.

LeerAber ist nicht der Mars, wenn die Ansicht der Spezialisten sich bestätigen wird, eine unmittelbare Widerlegung dieses Schlusses? Vielleicht doch nicht. Denn in diesem Fall könnte sehr wohl die im Übrigen heute aufgegebene Theorie der Wanderung von Lebenskeimen durch den Weltraum zutreffen.

LeerDie in diesem Aufsatz betrachteten Fragen sind heute noch durchaus offene Fragen - wie ja schon häufig genug im Obigen betont worden ist. Immerhin kann gesagt werden, daß unser heutiges Wissen es uns als sehr wohl denkbar und vermutbar erscheinen läßt, daß die Rolle des Menschen im Kosmos ganz anders wäre, als Giordano Bruno und die vielen Anhänger seines Gedankens geglaubt haben oder heute noch glauben. Es könnte so sein, daß bis heute nur ein einziges Mal in der Geschichte des Kosmos organisches Leben ursprünglich entstanden ist - es könnte so sein, daß wir als Menschen ganz einsam sind in der Weite des Weltraumes.

Quatember 1953, S. 20-27

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-02-05
Haftungsausschluss
TOP