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Die Tagung von Angern
(Nach einem Menschenalter I.)
von Karl Bernhard Ritter

LeerWer den Lebensanstoß und Aufbruch verstehen will, aus dem jene Bewegung hervorgegangen ist, die nachmals unter dem Namen „Berneuchen” bekannt geworden ist, und die bis heute leidenschaftlichen Widerspruch bei den einen, Zustimmung und Anteilnahme bei den andern findet, von den einen als Gefahr und Bedrohung, von den andern als Befreiung und Hilfe empfunden wird, der muß auf die Tagung von Angern zurückgehen.

LeerNach Angern, einem Schloß und Gutshof zwischen Magdeburg und Stendal gelegen, Gräflich-Schulenburgischer Besitz, hatte der „Bund deutscher Jugendvereine” (BDJ) durch seinen Bundesleiter Wilhelm Stählin, damals Pfarrer an St. Lorenz in Nürnberg - in Verbindung mit Leopold Cordier, dem Führer der „Christ-Deutschen”, und einigen anderen Bünden - Führer aus der deutschen Jugendbewegung eingeladen, soweit sie für die religiöse Frage (wie man damals zu sagen pflegte) aufgeschlossen und gleich den Einladenden durch das innere Verhältnis zwischen der evangelischen Kirche und dieser Jugendbewegung (oder vielmehr den Mangel irgend eines lebendigen Verhältnisses) beunruhigt erschienen. Der „BDJ” war wohl einmal (1909) aus dem Zusammenschluß der Gemeindejugend des protestantischen Liberalismus hervorgegangen, hatte aber durch die fruchtbare Begegnung mit der deutschen Jugendbewegung sein Gesicht gänzlich gewandelt und war damals als diejenige Gruppe evangelischer Jugend anzusprechen, die am stärksten von der Jugendbewegung innerlich erfaßt und verwandelt war; man könnte mit dem gleichen Recht sagen: als derjenige Teil der Jugendbewegung, der für die evangelische Kirche und das, was sie zu sagen und zu leben hatte, am aufgeschlossensten war. Das starke und vielstimmige Echo, das jene Einladung gefunden hatte, war ein Zeichen dafür, wie sehr damals noch die Jugendbewegung die zentrale religiöse Frage als ihre eigene Frage empfand.

LeerSo kamen um die Wende Januar-Februar 1923 wohl gegen 100 Führer und Führerinnen aus den verschiedensten Bünden, Gruppen und Kreisen in Schloß Angern zusammen. Die Lebensformen jugendbewegter Gemeinschaft, die allen Teilnehmern gewohnt und selbstverständlich waren, schufen jene Atmosphäre des offenen Gesprächs, des leidenschaftlichen Ernstes und der unbedingten Wahrhaftigkeit, die allen denen, die den Aufbruch der deutschen Jugendbewegung in jenen Jahren miterlebt haben, bis heute in beglückender unverlierbarer Erinnerung geblieben ist.

LeerDiese Atmosphäre hatte indessen nicht die Kraft, die sehr verschiedenartigen und einander widersprechenden Geister auch nur in einer gemeinsamen Sprache miteinander zu verbinden, geschweige denn so etwas wie eine gemeinsame Verantwortung zu wecken. Die durch mehrere Tage mit der größten Hingabe, ja oft mit leidenschaftlicher Anteilnahme geführten Gespräche konnten doch nur offenbaren, daß die Stunde für eine gemeinsame Erkenntnis, für den Aufbruch zu einem gemeinsamen Weg nicht gegeben war. Jedem, der heute auf die mit so großen Hoffnungen geplante Tagung in Angern zurückblickt, hat es sich als ein erschütterndes Erlebnis eingeprägt, wie sehr damals die Menschen aneinander vorbeiredeten („als ob wir auf verschiedenen Planeten beheimatet wären”), und wie das mit der Glut des Herzens vorgetragene Bekenntnis des einen von dem anderen als inhaltlose Phrase und als religiöses Geschwätz abgetan wurde. Verzweifelt gingen in den Abendstunden die einzelnen innerlich zusammengehörigen Gruppen ihre besonderen Wege in dem weiten Park und beklagten sich darüber, wie wenig sie von den anderen verstanden worden waren.

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LeerDer Versuch, eine weite Front bewegter Jugend in innerer Mitverantwortung für den Weg der evangelischen Kirche - und umgekehrt - zu sammeln, war kläglich gescheitert. Was war der Hintergrund dieser schmerzlichen Enttäuschung? Hatten nicht alle diese jungen Menschen einmal evangelischen Religionsunterricht empfangen? Waren sie nicht alle getauft, mit wenigen Ausnahmen auch konfirmiert, und in irgend einem, wenn auch sehr abgeblaßten, Sinn Glieder einer evangelischen „Gemeinde”? Es wurde erschütternd deutlich, wie völlig alle pädagogischen Bemühungen der Kirche am Leben jener Generation vorbeigegangen waren, wie die Stimme dieser Kirche das Dasein dieser jungen Generation überhaupt nicht erreicht hatte. Nur Gestaltetes gestaltet. Soweit die evangelische Kirche überhaupt eine Gestalt hatte, so hatte sich diese Gestalt der Kirche doch offenbar dieser aufgewühlten, leidenschaftlich nach Erkenntnis und echten Lebensformen ringenden Generation gegenüber als ohnmächtig erwiesen.

LeerAls Wilhelm Stählin einen stundenlangen Versuch, für seine Schau der Dinge Gehör und Verständnis zu wecken, als ergebnislos und aussichtslos abbrechen mußte, gab er der Erfahrung, die uns gemeinsam bewegte, mit den Worten Ausdruck: „Es ist kein Zweifel, daß die Antwort, auf die alle diese jungen Menschen warten, in Luthers Kleinem Katechismus enthalten ist; aber es ist völlig aussichtslos, ihnen diese Antwort mit den Worten und Begriffen Luthers verständlich machen zu wollen.” In diesem hoffnungslosen Chaos von Meinungen, Erfahrungen, Strebungen wurde uns eines zur eindeutigen Gewißheit, daß hier keine Theorie, keine irgendwie geartete Theologie, keine „Lehre”, helfen konnte, sondern allein die überzeugende Gestalt einer in Gott gegründeten Gemeinschaft, die sichtbare Erscheinung des in der Wahrheit gegründeten Seins der Kirche. Damals brannte uns zum ersten Mal und hernach in immer stärkerem Maße die Frage auf der Seele:

LeerWie muß eine Kirche aussehen, wie muß sie in allen ihren Lebensäußerungen, in ihren Gottesdiensten, in ihrer Verkündigung, auch in ihrer Verfassung beschaffen sein, um von dieser Jugend als echt und glaubwürdig erfahren zu werden, um von ihr nicht als Ideologie neben anderen Ideologien mißverstanden, sondern als Gestalt der Wahrheit erkannt zu werden?

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LeerAm letzten Tag der Konferenz von Angern trat im Turmzimmer des Schlosses ein kleiner Kreis unter den Anwesenden zu einer neuen Beratung zusammen. Wir konnten auch angesichts des offenbaren Mißerfolges unseres ersten Versuches nicht resignieren. Die anscheinend hoffnungslose Verwirrung jener Tage hatte uns nicht daran irre machen können, ja hatte uns vielmehr in unserer Überzeugung bestärkt, daß die Jugendbewegung ihren tiefsten Antrieben nach eine religiöse Erneuerungsbewegung war, und ebenso, daß wir als Glieder und Diener der evangelischen Kirche diesen jungen Menschen etwas Entscheidendes schuldig waren. (Wir haben darum auch später das Abgleiten der Jugendbewegung auf eine politisch-kulturelle Ebene nur als eine Mißdeutung und Verfälschung, als einen Abfall und als ein schmerzliches Versagen betrachten können.) In dem Turmzimmer von Angern wurde der Entschluß geboren, in erneuter Besinnung eines kleineren Kreises um eine echte Begegnung der Kräfte der Jugendbewegung mit der evangelischen Kirche zu ringen. Der greise General a. D. von Viebahn, ein Edelmann, der die besten Überlieferungen des preußischen Junkertums in seiner Person verkörperte, öffnete sein Rittergut Berneuchen (in der Neumark gelegen) für diesen Versuch, von dem niemand im voraus wissen konnte, ob er nicht mit dem gleichen Mißton und Mißerfolg enden müßte wie die Konferenz in Angern.

LeerDorthin lud ich auf Grund des Auftrags, den ich in Angern erhalten hatte, noch im Februar des gleichen Jahres (1923) zu einem ersten Treffen ein; die Einladung war mitunterschrieben von Pfarrer Lic. Dr. Cordier-Elberfeld (dem Führer der Christdeutschen), Pfarrer Donndorf-Hamburg (dem Mit-Leiter des Bundes deutscher Jugendvereine), Pfarrer Lic. Hermann Schafft-Kassel (dem Leiter des Neuwerk-Kreises), Pfarrer Wilhelm Stählin-Nürnberg (mit Donndorf zusammen Leiter des BDJ), und Pfarrer Dr. Martin Voelkel-Berlin-Karlshorst (dem „Herzog” der Neupfadfinder). Wir ahnten nicht, welche Wege wir dann in Wirklichkeit geführt werden sollten. Die Liste der damals Einzuladenden mag zeigen, daß sich der persönliche Kreis erst langsam (und nicht ohne einige Enttäuschungen und schmerzliche Trennungen) zusammenfand, der dann zu einer gemeinsamen Schau und Aurgabe durchstoßen konnte; jene erste Einladung nach Berneuchen ging an Wilhelm Eggebrecht-Magdeburg, Ludwig Heitmann-Hamburg, Eduard Le Seur-Berlin-Lichterfelde, Heinrich Moldänke-Berlin-Steglitz, Julius Sammetreuther-Schweinfurt, Wilhelm Stapel-Hamburg, Carl Schweitzer-Potsdam, Wilhelm Thomas-Augsburg, Curt Vangerow-Liegnitz, Wilhelm Wibbeling-Xanten.

LeerVon jenen unvergeßlichen Berneuchener Konferenzen, denen die Familie von Viebahn durch Jahre hindurch eine großzügige Gastfreundschaft gewahrte (so fremdartig, ja revolutionär dem alten Offizier diese Gesellschaft oft vorkommen mußte), mag ein anderes Mal erzählt werden. Aber dieser ganze Aufbruch ist ohne die Konferenz von Angern nicht zu verstehen, und in der Rückschau nach fast genau 30 Jahren erscheint es uns als die einzige Bedeutung jener unerquicklichen Tage, daß aus ihrem enttäuschenden Verlauf jene Mischung von illusionsloser Nüchternheit und zäher Entschlossenheit geboren wurde, mit der wir im Mai 1923 nach Berneuchen gegangen sind.

Quatember 1953, S. 28-30

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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