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von Ottomar Jänichen |
Dort wo die Côte d'Or nach Süden zu an Höhe verliert, liegt inmitten steinigen und spröden Landes das Städtchen Cluny. Diese dortige Mutterabtei des Benediktiner-Ordens hat in ihren stolzesten Zeiten Raum für 3000 bis 4000 Mönche gegeben. Die Pracht der Abtei mit ihren drei 30 m hohen Gewölben, ihrem riesigen Schiff, ihren ausgedehnten Wirtschaftsgebäuden und Hospitälern, mit dem Königshaus, der Bourbonen-Kapelle und der starken Ringmauer war allein schon als Bauwerk für die damalige Zeit eine Kostbarkeit - ganz abgesehen von den gewaltigen geistlichen und geistigen Strömungen, die von dieser Stätte ausgegangen sind. Unter den Schlössern sind beste Namen uralter, meist wohl inzwischen ausgestorbener französischer Adelsgeschlechter, wie z. B. das berühmte Schloß und Geschlecht der Brancion. Eins dieser Dörfer nun zwischen Cormatin und Cluny ist Taizé-lès-Cluny. Es liegt steil über einer schmalen Landstraße in einem Kranz von Mauern und gekrönt durch eine uralte Kirche romanischen Stils und zwei Schlösser, das château und das manoir. Und damit, daß wir nun in diesem Dörfchen angelangt sind, dessen bergigen Zugangsweg wir mit vieler Mühe erklommen haben, sind wir aus der oben geschilderten Nacht des Verfalls in eine Morgenröte gelangt, die hoffentlich für die Christenheit den Ausgangspunkt für eine neue Entwicklung bedeuten kann. Hier in Taizé-lès-Cluny hat die sogenannte Communauté ihren Sitz. Was ist die Communauté? Sie ist ein christlicher Orden evangelischer Prägung. Nach ihrem Bekenntnis gefragt bezeichnen sich die Brüder als réformé. Dieser Ausdruck bedeutet jedoch nicht genau dasselbe, was wir unter reformiert verstehen. Die Brüder wissen das und weisen sofort darauf hin. Sie sind vorurteilsfrei in bezug auf die Bindung des Bekenntnisses und etwa dadurch festgelegte Handlungen. Sie scheuen sich nicht, in steter engster Verbindung mit den calvinistischen Kirchen in Genf und Holland zu arbeiten, andererseits aber in gewissen Fragen mit den Autoritäten der römischen Kirche in Verbindung zu treten. Vor allem bestehen lebhafte Beziehungen zur Oekumene. Zwischen all diesen Kräften bewahrt sich die Communauté ihre Sicherheit und kann sie bewahren, da sie festgefügt in ihrer Regel und in ihrem Glauben steht. Die gesamte Bevölkerung des Gebietes gehört der römisch-katholischen Kirche an, soweit sie sich noch der christlichen Kirche verbunden fühlt. Immerhin ist das bei den alten Landbewohnern durchaus der Fall. Die Industriearbeiter der Städte sind vielfach getaufte Nihilisten. Ein evangelisches Kirchengebäude gibt es in Taizé natürlich nicht, doch benutzt die Communauté die unmittelbar ans Schloß gebaute Dorfkirche wie die römisch-katholischen Dorfbewohner. Das bedeutet jedoch, daß die Communauté die Kirche im Verhältnis zum anderen Bekenntnis zu 95 % benutzt. Immerhin ist zu sehen, daß das Wirken der Communauté auch auf die katholische Bevölkerung des Ortes und der benachbarten Dörfer ausstrahlt, Die Brüder haben sich durch ihr Beispiel durchgesetzt. Dieses Beispiel ist nicht nur auf geistliche Dinge beschränkt. Alle Brüder stehen in irgend einer Arbeit. Beide Schlösser und das gesamte, ziemlich große Gut gehören der Communauté. Gott hat es ihr in die Hände gelegt, und nicht in unwürdige Hände - das ist zu sehen. Die Brüder leben in völliger Eigentumslosigkeit. Alle ihre Einnahmen aus ihrer Arbeit fließen der Communauté zu. Von dort aus erhalten sie auch ihren Lebensunterhalt. Sie leben im Zölibat. Keiner von ihnen hat bisher den Wunsch gehabt, sich zu verehelichen. Sollte er ihn haben, müßte er allerdings die Communauté verlassen. In der Freizeit, die ihnen neben Arbeit, Gebet und Gottesdienst bleibt, bemühen sie sich, die verfallenden und verfallenen Häuser des kleinen Dorfes wieder aufzurichten. Es ist erstaunlich, wie schmuck diese Häuschen wieder geworden sind; z. T. dienen sie nun als Arbeitsstätten für die Brüder. Das kleinere Schlößchen, das sogenannte manoir, ist ein Waisenhaus für 20 Kinder, das die Brüder nach dem Kriege eingerichtet haben. Es steht unter der Leitung einer jungen Dame und einer Helferin, für die ein besonderes Haus im Ort errichtet und eingerichtet worden ist. Die Kinder leben so frei wie möglich. Der Eindruck, den man von ihnen allen hat, ist der einer unbeschwerten Fröhlichkeit. Die Brüder werden bei Erscheinen von ihnen mit stürmischer Herzlichkeit begrüßt. Im manoir befindet sich auch ein Konzertflügel in der Halle. Künstlerische Darbietungen sind dort nicht selten. Während meines Besuches war ein junger amerikanischer Pianist da. Zu bemerken ist, daß die kindlichen Bewohner des manoir völlig frei in ihrer Berufswahl sind. Auch auf die Heranwachsenden wird keinerlei Einfluß in Richtung auf einen Eintritt in die Communauté ausgeübt. Das Innere der beiden Schlösser ist, von den sehr guten sanitären Einrichtungen abgesehen, spartanisch einfach und gegen früher unverändert. Altes zinnernes und tönernes Eßgeschirr, uralte schöne Tische und Stühle kennzeichnen den Stil. Die Zimmer, deren riesig dicke Mauern Wärme wie Feuchtigkeit halten, werden durch offene Kamine geheizt. Die Mahlzeiten sind einfach und werden in absolutem Schweigen genommen. Der Kernpunkt des Lebens ist der Gottesdienst. Das Stundengebet wird nicht wie nach unserer Ordnung viermal täglich gehalten, es ist vielmehr jeden Morgen um 7 Uhr in der Kirche die Evangelische Messe, die fast genau der unserigen entspricht, und um 19 Uhr das Abendgebet. Der starke Eindruck, der von dieser geschlossenen Bruderschaft ausgeht, ist für jeden unverkennbar, der einmal mit ihr in Berührung gekommen ist. Die Verbindung der uralten Liturgie in der festungsartigen Kirche, der kargen, klaren Lebensführung im Schloß mit andererseits der Aufgeschlossenheit und Wachheit für die Fragen der Zeit ist außerordentlich. Sie erlaubte es, daß, während wir noch beim Frühstück saßen, die beiden modernen Personenwagen der Communauté bereits angeworfen wurden. Unmittelbar nach dem Frühstück fand ein kurzer Konvent statt, und dann entführte das Auto einen Teil der Brüder nach Genf, wo sie eine wichtige Mission zu erfüllen hatten, während die anderen Brüder in eine benachbarte Stadt gebracht wurden. Wer irgend kann, ist um 7 Uhr abends zum Gebet wieder zurück. Die Arbeitsanliegen des kommenden Tages werden stets in die Gebete eingeschlossen. Wie stark die Strahlungen bereits sind, die von der Communauté ausgehen, beweist der starke Besuch von Gästen. Ich war zufällig mit dem Amerikaner allein dort. Wenige Tage vorher sind 20 Gäste dagewesen. Die Communauté steht in engster Fühlung mit der Führung der französischen Jugend. Daß die Ausstrahlungen gerade auf diesem Wege in das praktische Leben hinausgehen, wird für den verständlich, der weiß, welche außerordentliche wirtschaftliche Bedeutung der Protestantismus in Frankreich hat. Man spricht davon, daß sein Einfluß über 40 % der wirtschaftlichen Kapazität Frankreichs hinausgeht. Es stehen über 20 Gastzimmer, zum größten Teil Einzelzimmer, einfach möbliert, zur Verfügung. Selbstzucht und Selbstlosigkeit, persönliches Beispiel, das mehr noch als werbendes Sprechen neben der Wortverkündigung steht, haben hier etwas Einzigartiges geschaffen. Auch der Besucher, der wie ich nur 12 oder 15 Stunden im Wirkungskreis der Communauté weilt, spürt, daß hier Außerordentliches am Werk ist. Zweierlei fällt dem Besucher der Communauté auch nach wenigen Stunden schon auf: erstens der Grundsatz, weniger durch Reden als durch Handeln zu wirken; zweitens der stets verwirklichte Grundsatz der simplicité. Das erste darf keineswegs als Verzicht auf Verkündigung ausgelegt werden. Es liegt vielmehr die Erkenntnis zugrunde, daß Christi Handeln mindestens so sehr wie Sein Reden Verkündigung war und daß Ihm gerade auf diesem Wege nachgefolgt werden müsse. Damit entrückt der frère sein Handeln der Ebene der Zwecke und erhebt es in die der Sinngebung und Mission. Nicht das Werkstück, das der in eine Fabrik entsandte frère herstellt, ist das Ziel seiner Tätigkeit, sondern die Tatsache, daß, und die Art, wie er es herstellt und wie er sich den Ergebnissen dieses Handelns gegenüber verhält. Sein Handeln wird also tätige Predigt - eine Mahnung an unsere allzu redefreudige Kirche. Die Communauté ist auf helvetisch-calvinischem Boden erwachsen und steht auch innerhalb der Oekumene im Kreuzfeuer der Kritik - die nicht immer wohlwollend gewesen zu sein scheint. Die frères vermeiden es daher, Dinge, die im Grunde unwesentlich sind und besonders zu Mißdeutungen führen könnten, besonders zu pflegen. Wir würden dem Geiste und Willen der Communauté also nicht gerecht, wenn wir von ihr als einer klösterlichen Gemeinschaft sprechen würden. Wir müßten dann zum mindesten stets gleichzeitig darauf hinweisen, welcher grundlegende Unterschied in vielen Dingen gegenüber den Klöstern rer römischen Kirche besteht. Und da es wohl wichtig zu sein scheint, daß eine Männergemeinde solcher Art, solchen Sinnes und solcher Zielsetzung wie die Communauté auch auf evangelischem Boden mit gewaltiger Segensausstrahlung leben und wirken kann, sollten wir es auch auf Verwechslungen nicht ankommen lassen. Einen Schritt weitergehend sei aber die Frage gestellt, ob es derartige Sonder-Gemeinden in unserer Kirche nicht in größerer Zahl geben müßte, um unserem Verständnis vom christlichen Wandel Maß, Richtung und Mitte zu geben. Man kann der Ansicht sein, daß in den Kirchen der Reformation gerade die Seiten christlichen Lebens und Wirkens vernachlässigt worden seien, die die Communauté geflissentlich pflegt. Wir haben seit der Reformation mehr und besser gepredigt, als vielleicht in der ganzen christlichen Kirche ein Jahrtausend lang zuvor. Wir haben die christliche Tat im Pietismus bis hart an die Grenze der Werkgerechtigkeit gepflegt und uns durch Leistung hoher Beiträge zu allen möglichen mildtätigen Einrichtungen vom eigenen Samariterhandeln recht wacker losgekauft. Wir haben eine Bibelkenntnis gepflegt, um die uns die übrige Christenheit beneiden könnte und beneidet. Wir haben missioniert nach außen und innen, wir haben Gemeindebesuche nach festen Regeln gemacht und können vor lauter Betrieb nicht mehr zur rechten Ruhe kommen - aber fehlt uns nicht gerade das: Tieferes Verständnis des Gottesdienstes von innen, von unten her, Pflege des gesungenen Lobpreises und des gemeinsamen Gebetes, der Liturgie als Sinnbild und Vorfreude? Freilich: „machen” kann man so etwas nicht. Aber einer, dem die Gnade geschenkt wird, kann im blinden Vertrauen darauf, daß Gott ihm helfen werde, eine Communauté beginnen - und alles was nottut, wird ihm zufliegen. Diese Communauté als Mitte in Gebet, Diakonie und Verkündigung, als Brunnenstube geistlichen Lebens - vielleicht abseits der Landeskirche -, man denke sich einmal hinein und versuche dann, sich ein Urteil zu bilden, Sollten wir den Herrn der Kirche nicht bitten, daß Er uns solche Mitte schenken möge? Quatember 1953, S.40-44 |
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