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Berneuchen 1923
(Nach einem Menschenalter II)
von Karl Bernhard Ritter

LeerAls wir zum ersten Mal in Berneuchen aus den Jagdwagen kletterten, die uns von der weit entfernten Bahnstation abgeholt hatten, stand die alte Exzellenz von Viebahn mit ihren Damen und der Dienerschaft des Hauses zu feierlichem Empfang bereit an dem Portal des langgestreckten alten Gutshauses, das uns dann Jahr für Jahr beherbergt hat. Dieser Empfang war offensichtlich für hochwürdige und ansehnliche Theologen und Pfarrherren gedacht. Die Überraschung, die unsere freundlichen Gastgeber beim Anblick eines Rudels in Wandervogelkluft gekleideter junger Männer befiel, war denn auch unverkennbar und ich pries mich glücklich, daß ich als einziger, meine einführende und vermittelnde Rolle vorausbedenkend, den dieser Szene angemesseneren Lutherrock gewählt hatte. Aber nach einer nur zu verständlichen anfänglichen Zurückhaltung stellte sich sehr bald ein überaus herzliches Einvernehmen her und keiner von uns vermag an die Besuche in diesem Hause ohne die Empfindung größter Dankbarkeit zurückzudenken.

LeerEs muß ein Weniges über den äußeren Rahmen dieser „Berneuchener Konferenzen” berichtet werden. Das Rittergut Berneuchen, in typisch märkischer Landschaft mit weiten Blicken und in der Nähe großer Seen gelegen, war ein alter Familienbesitz der Familie von dem Borne, deren männliche Glieder zu ihrem eigenen Vornamen alle den der Familie eigentümlichen Vornamen Kreuzwendedich tragen, wie wir an den vielen alten Grabmalen in der kleinen Dorfkirche lasen, und war jetzt an den schon damals hochbetagten General von Viebahn gefallen, dessen Frau eine geb. von dem Borne war. Berneuchen war bis dahin nur berühmt gewesen wegen seiner Fischzucht, die in den ausgedehnten, an den Park anschließenden Fischweihern betrieben wurde, und die „Pastorenkonferenz”, wie wir trotz unserer nicht nur theologischen Zusammensetzung und unseres zu diesem Namen oft schlecht passenden Aussehens genannt wurden, war etwas völlig Neues in der bis dahin sehr andersartigen Tradition von Berneuchen.

LeerDer Kreis, der zu dieser ersten Konferenz eingeladen war, war deutlich durch die vorangehende Konferenz in Angern und ihre Ursprünge in der Jugendbewegung bestimmt, eine sehr verschiedenartige Gesellschaft, die um einen Tisch zu versammeln ein Wagnis war. Es fanden sich auch nicht alle mit gleicher Selbstverständlichkeit zusammen, und wir entsinnen uns überaus lebhafter Nachtgespräche, in denen der eine oder andere seinem Herzen Luft machte über einen anderen Teilnehmer, der ihm besonders auf die Nerven ging. Aber das Wagnis gelang, und daß einige wenige sich nach eigenem Entschluß von dem Kreis entfernten, war nur das Siegel darauf, daß sich hier alsbald eine festgefügte Gemeinsamkeit, und vor allem ein eigentümlicher Stil des Gesprächs gebildet hatte.

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LeerEs ist nicht sicher, daß wir schon bei dieser ersten Konferenz, die vom 28. Mai bis 1. Juni 1923 stattfand, ein Protokoll über unsere Gespräche geführt haben. In dem Archiv unserer Bruderschaft finden sich Protokolle jedenfalls erst von der zweiten Konferenz im September 1924 an. Aber die Themen dieses ersten Gesprächs sind durch das Einladungsschreiben vom 27. Februar 1923 festgelegt. Darnach sollte gesprochen werden am ersten Tage über die Wahrheitsfrage (Theologie, Autorität, Lehre, Verhältnis von Christentum und Volkstum), am zweiten Tage über die Frage des Kultus (Gottesdienst, Sitte, Brauchtum, Feste, Formen) und am dritten Tage über die praktischen Ergebnisse und Aufgaben, die sich uns ergeben würden. Die Grundlage für die Aussprache bildeten kurze Referate, die für den ersten Tag Hermann Schafft, für den zweiten Wilhelm Stählin und für den dritten Tag Martin Völkel übernahmen. Die Art der Themenstellung beweist einmal, wie sehr dies erste Gespräch dazu dienen mußte, uns überhaupt erst einmal in einer gemeinsamen Schau der Lage zu finden, und zum anderen, wie sehr der Ausgangspunkt unseres Gesprächs bestimmt war durch die Fragen und Anliegen der Jugendbewegung. Man spürt den Themen ab, daß sie schon in Angern unter dem unmittelbaren Eindruck der uns dort bedrängenden Erfahrung formuliert wurden.

LeerWas wir im einzelnen in diesen Tagen zu Tage gefördert haben, ist meinem Gedächtnis entschwunden. Um so stärker ist mir der unvergeßliche Eindruck von unserer Gesprächsrunde um den großen Tisch im Eckzimmer des Gutshauses geblieben und die uns alle immer stärker hinnehmende und beglückende Erfahrung von der Art und Weise dieses Gesprächs. Wir haben später oft von dem besonderen großen Geschenk gesprochen, das uns „am runden Tisch” von Berneuchen zuteil wurde. Es mag mit der Erinnerung an manchen nächtlichen Gesprächskreis um den Holzstoß der Sonnenwendfeiern zusammenhängen, daß sich uns für dieses Erlebnis das Bild der Flamme einstellte, die in unserer Mitte steil emporstieg, erleuchtend und uns alle in ihren Bann ziehend, während jeder sein Scheit in die Flamme warf, sie zu nähren. Hatten wir anfangs miteinander diskutiert, so wie man es gewöhnt ist, in Theologenkreisen zu diskutieren und Standpunkt gegen Standpunkt zu setzen und hartnäckig zu behaupten, so schmolz diese Starre der gewohnten „Auseinandersetzung” bald dahin und wir entdeckten den Weg, auf dem einer dem anderen vorwärtshilft, den Weg, auf dem wie bei einer gemeinsamen Wanderung einer dem anderen zu klarer, weiterführender Schau verhilft. Bald hatten wir die Haltung, da jeder das Seine bewahrt und verteidigt, so völlig aufgegeben, daß wir wirklich nachträglich nicht mehr hätten sagen können, wer das eine und das andere zu der gemeinsamen Erkenntnis beigetragen hatte.

LeerWilhelm Stählin erzählte mir einmal, wie er auf einer dieser Konferenzen sich plötzlich darüber ertappte, daß er in seinem Stenogramm nicht mehr notierte, wer das Einzelne gesagt hatte, weil ihm (und uns allen) das nicht mehr wichtig schien. Kann man nach 30 Jahren noch nachempfinden, was für eine aufregende und umwälzende Erfahrung das damals war? Diese Erfahrung, daß miteinander reden nicht heißen muß, sich „auseinanderzusetzen”, sondern vielmehr, sich zusammenzufinden, ist uns für alle nachfolgenden Jahre bedeutsam und richtunggebend geworden. Die Erinnerung daran hat uns später oft genug zur Ordnung gerufen. Ihr ist es zu danken, daß wir im Berneuchener Kreis, aus so verschiedenen theologischen Traditionen und aus denkbar gegensätzlichen politischen Anschauungsweisen herkommend, nicht nur zusammenblieben, sondern immer stärker zusammenwuchsen, was außenstehenden Beobachtern und Kritikern je nachdem als unlösbares Rätsel, als Mangel an theologischer Klarheit und Gründlichkeit oder gar als das Ergebnis einer raffinierten diplomatisch-taktischen Leitung des Kreises, in jedem Falle als höchst verdächtig erschien.

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LeerDie Grundfrage, die uns damals bewegt hat und immer wieder bei den nachfolgenden Konferenzen bedrängte und nicht losließ, läßt sich vielleicht auf die Formel bringen: Wie es geschehen könne, daß die Kirche Jesu Christi in allen ihren Lebensäußerungen, in ihrer Verkündigung, ihrer Verfassung und ihren Lebensordnungen, in ihrem Gottesdienst, in ihrem Umgang mit der Hl. Schrift, in ihrer praktischen, handelnden Stellungnahme zu der sozialen und kulturellen Problematik unserer Gegenwart eine überzeugende Gestalt gewinne. Es ging uns um die Frage der Verwirklichung der Kirche, eine ihrem Ursprung und Auftrag gemäße Verwirklichung. Daß es dieser Frage gegenüber nicht möglich war, sich auf die Behauptung einer konfessionellen Sondertradition festzulegen, leuchtet ohne weiteres ein.

LeerDer konfessionelle Ort, an dem wir uns selbst vorfanden, war selbstverständlich der für uns gegebene Ausgangspunkt, aber eben der Ausgangspunkt, der locus a quo, nicht der locus ad quem. So ist von uns von Anfang an die ökumenische Verantwortung auf das stärkste empfunden worden, ohne daß wir das so zu formulieren brauchten. Und daß es uns von Anfang an um die Kirche und ihre Gestalt, um ihr Sein also als eine transparente Erscheinung der ihr eingestifteten und anvertrauten Heilswahrheit ging, verdankten wir der Jugendbewegung, die sich mit ihrem ganzen Pathos gegen alle bloße Lehre, gegen alle spiritualistische Entleerung auflehnte und gegenüber allen Worten äußerstes Mißtrauen hegte, die nicht als unmittelbarer Ausdruck gelebten Lebens zu .überzeugen vermochten. Die leidenschaftliche Sehnsucht dieser im Aufbruch stehenden Jugend nach einer Deckung von Wahrheit und Wirklichkeit mußte uns als die entscheidende Frage nach der Kirche erscheinen und alle unsere Arbeit bestimmen.

LeerVielleicht ist aus diesen Andeutungen zu erkennen, wie wenig die liturgische Frage im Mittelpunkt unseres Gesprächs stand, wenn man sie als die Frage nach der gottesdienstlichen Gestaltung im Einzelnen, die kritische, sichtende Auseinandersetzung mit den überlieferten Formen des Gottesdienstes verstehen will, und es gehört zu den scheinbar unausrottbaren Mißverständnissen, Berneuchen primär als eine liturgische Reformbewegung zu bezeichnen. Auf der anderen Seite mußte uns freilich die liturgische Frage als die Frage nach der zentralen und repräsentativen Erscheinungsform der Kirche auf das stärkste bewegen, waren wir doch alle in der Praxis damit beschäftigt, der uns fragenden und fordernden Jugend zu einer gottesdienstlichen Feier zu verhelfen, die sie innerlich in lebendigem Mittun zu vollziehen vermöchte.

LeerEs ist uns heute, nach drei Jahrzehnten liturgischer Mitarbeit in der evangelischen Kirche und in der Ökumene, kaum noch begreiflich, mit welcher unbekümmerten und im Urteil der liturgischen Fachleute gewiß ahnungslosen Freiheit und Kühnheit wir dabei verfuhren und experimentierten. Aber wir möchten wohl alle diese Zeit der ersten Versuche, der Entdeckungen, der direkten Frage darnach, was denn da eigentlich geschehe, wenn eine christliche Gemeinde den Anbruch des Tages oder seinen Ausklang feiernd begehe, wie es denn geschehen könne, daß Menschen miteinander im Hören, Beten, Singen Gemeinschaft miteinander finden, nicht missen. Heute würden wir, was uns damals bewegte, wohl formulieren als die Fragen nach dem kosmologischen, dem anthropologischen und dem heilsgeschichtlichen Ort des Gottesdienstes. Damals standen diese Fragen nicht vor uns als Fragen einer Theologie des Gottesdienstes, sondern als Ausdruck einer unmittelbar empfundenen Not, der Not nämlich, daß dieser Ort des Gottesdienstes für den im wachen kosmischen Lebensgefühl stehenden, seines leibhaften Daseins bewußten und nach einem wirklichen heilsamen Geschehen verlangenden Menschen unerkennbar geworden war.

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LeerDoch können wir von dem, was damals unter uns vor sich ging, nicht berichten, ohne ganz konkret zu erzählen, wie die liturgische Frage uns auf den Leib rückte. Unsere Gastgeber hatten uns gebeten, ihnen die gewohnte Andacht zu halten, wie sie nach guter alter Sitte in den christlichen Gutshäusern Ostdeutschlands gehalten wurde für die ganze Familie, die Gäste und die gesamte Dienerschaft. Nach dem Morgenmahl versammelte sich das ganze Haus im Speisesaal, es wurde ein Choral gesungen, ein Wort aus der Heiligen Schrift verlesen und ausgelegt und mit einem freien Gebet geschlossen. Die Teilnehmer Eduard Landauer, Donndorf und Cordier waren gebeten worden, diesen Dienst zu übernehmen. Sie haben ihre Sache sicherlich sehr gut gemacht und doch empfanden wir alle, daß uns so nicht geholfen war. Es wollte sich nicht ohne Peinlichkeit schicken, daß nun zu einem den ganzen Tag über währenden Gespräch die Andacht einen weiteren „Diskussionsbeitrag” lieferte, obwohl wir alle redlich bemüht waren, die Rede der Brüder in der Andacht mit anderen Ohren zu hören. Aber es blieb doch unvermeidlicherweise bei einem Gegenüber des Anredenden und der Angeredeten, während uns doch darnach aufs stärkste verlangte, miteinander in der gleichen Haltung, Beugung und Erhebung den neuen Tag zu beginnen.

LeerDarum war es uns eine wohltätige, befreiende Entdeckung, daß uns ja neben dem Gutshaus das alte schöne Kirchlein des Ortes offenstand. Im Halbkreis um seinen Altar versammelt, haben wir dann bei den nachfolgenden Konferenzen die ersten Schritte getan auf dem Wege zu einem Gottesdienst, der gemeinsamer Vollzug der Liturgie ist. Das unter dem Titel „Der deutsche Dom” im Herbst des Jahres für meine Berliner Gemeinde und die Gemeinde des Grafen Lüttichau an der Dreifaltigkeitskirche veröffentlichte kleine Heft mit Ordnungen, die sich an die lutherische Überlieferung und über sie an die abendländische Tradition überhaupt anschlosen, war ein erstes, bald durch das „Gebet der Tageszeiten” überholtes Hilfsmittel zu solchem Tun.

LeerEins stand für die Teilnehmer dieser ersten Berneuchener Konferenz am Ende der drei Arbeitstage fest, daß wir verpflichtet seien, den damit betretenen Weg weiterzugehen. Äußerlich gesehen war es ein überaus gewagtes Unternehmen, diese Konferenz für das nächste Jahr festzulegen, lebten wir doch in der Zeit der Milliarden und Billionen. Aber darnach durften wir nicht fragen. Der Weg war uns vorgezeichnet und wir ahnten, daß sich auf diesem Wege eine Tür öffnen würde für den Dienst, der uns befohlen war.

Quatember 1953, S. 90-93

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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