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Nachbarschaftliche und bruderschaftliche Gemeinde
von Georg Weiss

LeerDas in der bayrischen Landeskirche geltende Recht kennt die Gemeinde nur in der Gestalt der Parochie. Die Kirchenverfassung besagt, daß sich die Landeskirche in Kirchengemeinden gliedere. Das Pfarrergesetz baut das Territorialprinzip und das Parochialrecht weiter aus, wenn es bestimmt, daß der kirchliche Dienst an den in der Gemeinde wohnenden Glaubensgenossen ausschließlich dem zum Dienst an der Gemeinde berufenen Pfarrer zustehe. Die Gemeindeglieder stehen sonach grundsätzlich unter Parochialzwang. Die im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen bestätigen diesen Grundsatz nur.

LeerGibt es aber Gemeinde wirklich nur in der Gestalt der Parochie? Nein. Das mag in vergangenen Zeiten so gewesen sein. Daß es heute nicht mehr so ist, beweisen schon die vielen im Raum der Kirche stattfindenden überparochialen Zusammenkünfte wie Freizeiten, Tagungen, Rüstzeiten, Konvente usw. Es ist dabei nicht an Konferenzen und Tagungen gedacht, die vorwiegend organisatorische oder wissenschaftliche oder geschäftlich-technische Zwecke verfolgen, sondern an jene meist mehrtägigen Versammlungen in Heimen abseits der großen Verkehrszentren, die vorwiegend das geistliche Ziel haben, Menschen durch Bibelwort und Abendmahl zu einer betenden Bruderschaft zusammenzuschließen. Daß dieses Ziel auf Freizeiten eher erreicht wird als in der Parochial-Gemeinde, ist eine bekannte Tatsache. Hat sich damit Gemeinde gebildet? Man kann diese Frage verneinen, weil auf der Freizeit die kirchlichen Handlungen unterbleiben, die man gemeinhin unter dem Stichwort „Kasualien” zusammenfaßt und die die Kirchengesetzgebung vor allem im Auge hat, wenn sie von „kirchlicher Bedienung” redet. Kein „Parochus” braucht zu fürchten, daß auf einer Freizeit ein anderer Geistlicher bei seinen dort weilenden Gemeindegliedern Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen vornimmt. Dagegen gehört in der Regel zu einer rechten Freizeit die Feier des Heiligen Abendmahles. Was eine Versammlung von Menschen zur christlichen Gemeinde macht, ist auf der Freizeit da, nämlich Wort und Sakrament - jedenfalls das eine der beiden Sakramente.

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LeerDaß es auf Freizeiten viel mehr zur Einzelbeichte kommt als „am Ort”, ist ebenfalls bekannt. Auch die Bruderliebe wirkt sichtbarer und greifbarer. Ebenso wird das Gebet hier mehr geübt als in der Ortsgemeinde. Gewiß kann man einwenden, daß wiederholte Teilnahme an Freizeiten eine Flucht aus der harten Wirklichkeit der Ortsgemeinde sein kann, eine Flucht vor den Aufgaben, die der Herr der Kirche gerade am Wohnort dem Einzelnen vor die Füße lege; bezeichne man die Teilnehmerschar einer Freizeit mit „Gemeinde”, so werde diesem Ungehorsam nur noch Vorschub geleistet. Dieser Einwand ist nicht von der Hand zu weisen. Das Fehlen der Kasualien zeigt ja schon, daß der Freizeitgenossenschaft die das ganze Leben von der Wiege bis zum Grabe umgreifende „kirchliche Bedienung” abgeht, und ist ein Hinweis darauf, daß die Wirklichkeit „Kirche” auf keinen Fall nur bei Freizeiten erfahren werden kann. Das wollen wir auch gar nicht behaupten. Es geht nicht darum, an die Stelle der Parochien die überparochiale Gemeinde zu setzen. Wir wollen nur nachweisen, daß es neben der Ortsgemeinde noch andere congregationes gibt, die mit „Gemeinde” bezeichnet werden müssen. Daß ihnen gewisse Kennzeichen der Gemeinde fehlen, sei ausdrücklich zugestanden. Aber fehlen die nicht auch den Ortsgemeinden? Ohne Zweifel, wenn es auch andere sind als die, die der Freizeitgemeinde fehlen. Es scheint gegenwärtig die Gemeinde in ihrer ganzen Fülle weder ausschließlich auf der Freizeit noch ausschließlich in der Parochie zu finden zu sein, sondern nur in beiden zugleich. Nur wer in beiden lebt, kann heutzutage offenbar erfahren, was ecclesia ist.

LeerHier ist nun weiter zu bedenken, daß Freizeitteilnehmer in der Regel mehr oder minder untereinander verbunden bleiben. Die auf Freizeiten entstandene Gemeinschaft hat die Tendenz, sich zur Bruderschaft zu verfestigen. Die Meinung, daß Gemeinde nichts als „Ereignis” sei, also nur punktuell, nicht linear existiere, soll durch die These, freizeitliche Zusammenkunft sei als Gemeinde anzusprechen, nicht gestützt werden. Wir sind vielmehr der Überzeugung, daß die Kirche nicht punktuelles Ereignis ist, sondern ein Organismus. Entsteht auf Freizeiten wirklich Gemeinde, dann muß sie zum Erweis ihrer Echtheit zu überparochialem Zusammenschluß bündischen, bruderschaftlichen, ja ordensartigen Charakters drängen. Damit haben wir aber auf die Frage, ob es überparochiale Gemeinde gäbe, eine zweite Antwort gefunden: Daß die Parochie nicht das Monopol der Gemeinde in Anspruch nehmen darf, zeigt sich außer an der Freizeit an den überparochialen bruderschaftlichen Gebilden, die in der Gegenwart überall entstehen und zur Realisierung ihres gemeinsamen Lebens in irgendeiner Form zur Freizeit greifen müssen, wenn sie nicht überhaupt durch Freizeiten entstanden sind. Schon länger bestehende Gebilde dieser Art sind die Diakonissen-Mutterhäuser mit ihren Schwesternschaften und die Diakonenanstalten mit ihren Bruderschaften.

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LeerDarf einem kirchlichen Jugendbund, wenn er zu einem Konvent oder zu einer Freizeit - darf einer Lagerbruderschaft, wenn sie zu einer Tagung zusammenkommt und dabei Bibelarbeit treibt, zusammen betet und das Sakrament nimmt, die Bezeichnung „Gemeinde” verweigert werden, vor allem, wenn die Glieder eines solchen Bundes sich zu gegenseitiger Fürbitte, zur Diakonie aneinander und zur Rechenschaftsablage voreinander über ihren Wandel und ihren Dienst an der Kirche verpflichten und sich dadurch unter eine gemeinsame geistige Lebens-Ordnung stellen, die die einzelnen verbunden hält, auch wenn sie räumlich getrennt sind? Mit welchem Recht dürften die Ortsgemeinden das tun, wo sie im Durchschnitt nicht entfernt so viel geistliches Leben aufzuweisen haben wie die Bruderschaften, und, wenn in ihnen geistliches Leben erwächst, dies vielfach auf den örtlichen Einsatz von Mitgliedern überparochialer Gebilde zurückzuführen ist? Was hat allein, um ein weiterführendes Beispiel zu nennen, der außerparochiale „Christliche Verein junger Männer” den Parochien an einsatzbereiten Männern geschenkt.

LeerDieser Verein ist ein standesmäßiger Zusammenschluß, und das führt uns auf etwas Drittes, das hier erwähnt werden muß. Die Kirche hat es in der Gegenwart als notwendig erkannt, die einzelnen Stände in der Gemeinde, die Männer und die Frauen, die männliche Jugend und die weibliche Jugend, aber auch einzelne Berufsstände besonders zusammenzufassen und anzusprechen. Daraus erwachsen die „Werke”, das Jugendwerk, das Frauenwerk, das Männerwerk, das Arbeiterwerk usw. Man kann hören, daß alle diese Werke überflüssig wären, wenn die Ortsgemeinden intakt wären. Man hält sie also für Krankheitserscheinungen am Leibe der parochial gegliederten Landeskirche. Das kann man gelten lassen, sobald die Verfechter dieser These bereit sind, die gesamte gesellschaftliche Struktur der Gegenwart für krank zu halten. Die moderne Gesellschaft ist durch eine noch nie dagewesene Differenzierung und Spezialisierung charakterisiert. Ist es aber geistlich ungesund gedacht und gehandelt, wenn die Kirche Christi die Last, oder sagen wir ruhig: die Krankheit dieses Zustandes willig mit auf ihre Schultern nimmt, wenn sie sich hier mit ihrer Zeit solidarisch erklärt und demgemäß handelt?

LeerHier tut sich die schwere Frage auf- In welcher Richtung sollen die „Werke” weitergeführt werden? Müssen sie planmäßig zu überparochialen Standesgemeinden ausgebaut werden? Keinesfalls dürfte dies zu einer Zersetzung der Parochien führen. Keinesfalls dürfte dies in der überheblichen Meinung getan werden, daß die Werke die eigentliche Gemeinde verkörpern und die Parochien bestenfalls Gemeinden zweiten Ranges seien. Oder soll dem so verschrieenen Expansionsdrang der Werke endlich ein Riegel vorgeschoben werden? Ist es nicht an der Zeit, der Ausgliederung und Spezialisierung Einhalt zu gebieten und um der Ortsgemeinde willen gerade dies mit aller Energie zu verhindern: die Entwicklung der kirchlichen Standeszusammenschlüsse zu Standesgemeinden? Wir müßten dann aber vieles abbauen, was wir kaum missen wollen. Denn es gibt bereits Standesgemeinden mit eigenen Geistlichen. Sollen die sich wieder auflösen? Das beste Beispiel sind die Studentengemeinden mit ihren Studentenpfarrern. Es ist bemerkenswert, daß man sich hier daran gewöhnt hat, nicht von einem Studentenwerk der Kirche zu reden, sondern von Studentengemeinden.

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LeerHeißen sie bloß so oder sind sie's? Müssen wir in den Industriestädten nicht in klarer Weise die Entstehung von Werkgemeinden in den großen Betrieben anstreben? Wir glauben nicht, daß die natürlichen Stände der Jugend, der Männer und Frauen eigene Standesgemeinden bilden müssen. Aber wir fragen mit großem Ernst, ob nicht bestimmte Berufsstände eigene Geistliche brauchen, die den Auftrag haben, überparochiale Standesgemeinden ins Leben zu rufen. Auch für sie würde gelten, was für die Bruderschaften und für die Freizeitgemeinden gilt: Sie könnten nur gesund bleiben, wenn ihre Glieder sich mit der Zeit dienend der Parochie einordnen, in der sie wohnen. Nochmal: Es scheint uns vom Herrn der Kirche so gefügt zu sein, daß heute das, was Kirche in ihrer Fülle ist, nur begriffen werden kann, wenn der Christ zwei Gemeinden angehört, einer parochialen und einer überparochialen. Es gibt heute schon genug Christen, die es nur noch deshalb in der parochial gegliederten Landeskirche aushalten und mit Lust in ihr dienen können, weil sie gleichzeitig einer außerparochialen Gemeinde angehören. Dort empfangen sie Kraft und Freudigkeit zum Dienst in ihrer Ortsgemeinde.

LeerKann die Misere der Parochie anders überwunden werden? Diese Misere ist ja nicht nur Schuld der Christenheit. Die allgemeine Entwurzelung, das Fluktuieren der Bevölkerung, die geringe Seßhaftigkeit der Stadtmenschen, die Entwicklung des Verkehrswesens, die es ermöglicht, bald da, bald dort zu sein, läßt die Nomaden der Technik, zu denen wir alle geworden sind, lange nicht mehr in dem Maße in einer Parochie heimisch werden wie ehedem. Die fortschreitende Verkehrstechnik erschüttert auf der einen Seite das Gefüge der Parochialgemeinde, sie fördert auf der anderen Seite in ungeahntem Maße aber die Bildung überparochialer Gemeinden. Sie allein ermöglicht die Flut von Tagungen, Freizeiten und Konferenzen. Dieselbe technische Entwicklung hat die Menschen aber nicht nur entwurzelt und nomadisiert, sondern auch spezialisiert, so sehr, daß die Angehörigen der verschiedenen species sich kaum mehr gegenseitig verstehen. Die Bewältigung des eigenen Faches erfordert eine derartige Unsumme von Kenntnissen und Fertigkeiten, daß weder Zeit noch Raum bleiben, den Menschen im anderen Fach, der seinerseits ebenso überbeansprucht ist, als ein Wesen zu sehen, mit dem man das Wesentliche gemeinsam hat. Der Mensch als solcher ist in Gefahr. Um menschenwürdig leben zu können, sieht sich der Mensch gezwungen, sich einer menschenunwürdigen Spezialisierung hinzugeben, und darüber verliert er seine Menschlichkeit und wird zum Roboter. Jede Sonderbildung innerhalb der menschlichen Gemeinschaft ist genötigt, um ihrer Sonderaufgabe gerecht zu werden, sich einer Apparatur zu bedienen, deren Handhabung alle Kräfte absorbiert.

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LeerDadurch wird jede Gruppe, weil ihr die Kraftzufuhr aus dem Ganzen fehlt, ein vorzeitig welkendes Blatt am Baume. Ausgestaltung und Verfeinerung ist nötig, wenn das Ganze lebendig bleiben will, führt aber zum Tode, wenn der Teil nicht mehr aus dem Ganzen lebt. Die Differenzierungskräfte, an sich gesunde Lebenskräfte, dürfen sich nur so weit ausformen, wie es der Zusammenhang mit dem Ganzen zuläßt. Sobald die Spannung zwischen Teil und Ganzem zerreißt, beginnt der Zerfall, die zusammenhanglose amorphe Masse entsteht: ein Haufen dürren Laubes, der nur noch mit dem Rechen totalitärer Massenführung zusammengehalten werden kann. Die große, oben schon angedeutete Frage an die Kirche und in ihr vor allem an die Werke, ist nun die: Wieweit muß die Kirche, um den Massenmenschen des technischen Zeitalters zu erreichen, sich mitspezialisieren, und wo ist die unerbittliche Grenze solchen Mitgehens gezogen? Die Grenze kann nur gefunden werden, wenn die Kirche sich vorhält, daß sie dem Menschen die frohe Botschaft zu sagen hat, daß er nicht nur Spezialwesen und Fachkraft ist, sondern immer noch Mensch. Wo anders aber kann er wieder Mensch werden als in der Gemeinde Jesu? Um ihm das glaubhaft sagen zu können, reicht jedoch die Gestalt der parochial aufgebauten Landeskirche nicht hin. Dazu brauchen wir Kirchenkörper, die im Gehorsam gegen die Wirklichkeit unserer Zeit den Mut aufbringen, neben den Ortsgemeinden überparochiale Gemeinden verschiedenster Art entschlossen zu bejahen. Wird die in der Verfassung der Landeskirche vorgesehene Kirchengemeindeordnung das ausschließliche Denken in Parochien überwinden und den inzwischen (1920-1953) entstandenen überparochialen Gemeindebildungen auch rechtlich den Weg freigeben?

LeerDas griechische Wort paroikio bedeutet ursprünglich nicht die Nachbarschaft derer, die in der Nähe derselben Kirche wohnen, sondern das Wohnen in der Fremde, die zeitweilige Wohnung, ein Dasein ohne Bürgerrecht und Heimat. In diesem Sinne wird das Wort an vielen Stellen in der Septuaginta, im Neuen Testament und bei den Apostolischen Vätern gebraucht. In dieser Bezeichnung wurde also das Bewußtsein zum Ausdruck gebracht, daß der Christ seine wahre Heimat nicht auf dieser Erde hat und daß die christliche Gemeinde, aus der Masse der Heiden ausgesondert, in eine gottfeindliche Welt hinausgestreut ist. Nach dem Sieg des Christentums verschwand allmählich das Bewußtsein, in der Fremde zu leben. Und während früher paroikia, lateinisiert parochia, die Bischofsgemeinde bezeichnete, wurde das Wort nun für die kleineren Sprengel, die einen gewöhnlichen Priester als Seelsorger hatten, verwendet.

Nach Prof. Franz Arnold. Tübingen (Herder-Korrespondenz, Februar 1953)


Quatember 1953, S. 98-101

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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