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(Nach einem Menschenalter III.) von Karl Bernhard Ritter |
Es ist nicht die Aufgabe dieser kleinen Beiträge, eine Geschichte der Berneuchener Bewegung zu schreiben. Darum kann ich der Aufforderung des Schriftleiters entsprechen und diesmal davon erzählen, wie es zur Stiftung der Evangelischen Michaelsbruderschaft gekommen ist, obwohl ich dazu fast ein Jahrzehnt übergehen muß, aus dem über eine Fülle wesentlicher Erlebnisse und Erfahrungen unseres Arbeitskreises zu berichten wäre. Es wird davon das eine und andere in diesen Blättern der Erinnerung noch zur Darstellung kommen müssen. Weil es uns von Anfang an um die Frage der Verwirklichung der Kirche ging, mußte uns sehr bald bewußt werden, daß wir den Dienst, den wir der von Erstarrung und Zerfall zugleich bedrohten Kirche zu tun entschlossen waren, nicht durch literarische Arbeit und nicht durch Konferenzen und Aussprachen leisten würden. Wir unterschieden uns bewußt von dem Kreis aus unserer Generation, der uns durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur Jugendbewegung menschlich nahe stand, aber dieser evangelischen Kirche damals unter Führung von Friedrich Rittelmeyer verzweifelt den Rücken kehrte, und ebenso von den Freunden, die eine Erneuerung durch den Anschluß an die sozialistische Bewegung erhofften. Die Kraft zur Erneuerung konnte der Kirche nicht von außen, durch weltanschauliche oder politische Impulse zugeführt werden. Wir sollten auch lernen, daß man an der Neugestaltung einer verfallenden Kirche nicht bauen kann, indem man auf dem Wege der theologischen Diskussion neue Formulierungen als gemeinsame Plattform für eine Gesinnungsgemeinschaft sucht, von der aus man dann an die Aufgaben kirchlicher Gestaltung herangehen könnte. „Unsere Arbeitsgemeinschaft ist nur als Lebensgemeinschaft möglich. Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind” heißt es in den Zwölf Sätzen. Darum wird in diesen Sätzen zuerst die Gemeinschaft im täglichen Gebet gefordert und geordnet: „In der Kirche miteinander verbunden sein heißt im täglichen Gebet miteinander verbunden sein”. Die Zugehörigkeit zur Bruderschaft als einer lebendigen Zelle der Kirche rührt mit innerer Notwendigkeit zum Dienst am Werden der Kirche im Umkreis des persönlichen Lebens jedes einzelnen Bruders: „Jedes Glied ist gehalten, in dem Lebenskreis, in den es hineingestellt ist, dem Bau evangelischer Gemeinde zu dienen”. Dabei ist es „von der Gemeinschaft der Brüder getragen und an sie gebunden”. Jetzt kann keiner mehr nur auf den eigenen Weg sehen und die eigene Ehre suchen. Er ist an den Rat der Brüder gebunden: „Wir hoffen, daß diese Gemeinschaft der Verantwortung uns aus dem verantwortungslosen Nebeneinander der Arbeit herausführen wird”. Im sechsten Satz wird die Hoffnung ausgesprochen, „daß jedes Glied des Kreises den Bruder findet, der seine Beichte hört und ihm das Wort der Gnade sagt”. Schließlich findet sich neben anderen Ordnungsbestimmungen die Erkenntnis ausgesprochen, daß es zur Bestätigung und Erneuerung der Bruderschaft der leibhaftigen Begegnung, der „Tage gemeinsamen Lebens” bedarf. Es bedurfte noch vieler, uns im Innersten bedrängender, zum Teil sehr bitterer Erfahrungen und Gefährdungen unserer Arbeitsgemeinschaft, bis wir, fünf Jahre später, nun freilich durch solche Erfahrungen belehrt, den Versuch wieder aufnehmen durften. Nun wußten wir, welches Wagnis es war, sich ernsthaft zur Ordnung rufen zu lassen und mit dem Grundsatz „jedermann sein eigener Papst” zu brechen, der dort unvermeidlich zur Herrschaft kommt, wo die Kirche auf der einen Seite zur Idee verblaßt und auf der anderen zur bloßen Organisation ausgehöhlt wird. Wie mühsam der Weg war, den wir in den Jahren von 1920 bis 1931 zurückzulegen hatten, wird mir in der Erinnerung an heftige, spannungsreiche Gespräche anschaulich, in denen sich der Widerstand äußerte gegen Forderungen, die sich uns doch unabweislich aufdrängten. Zunächst kamen die Bedenken gegen den Zusammenschluß in einem engeren Ring aus ganz allgemeinen, grundsätzlichen Erwägungen. Darf man einem Teil der evangelischen Gemeinde besondere Verpflichtungen auferlegen, die nicht für alle gelten? Heißt das nicht, Christen erster und zweiter Ordnung schaffen? Widerstreitet das nicht dem evangelischen Grundsatz von der Gleichheit aller vor Gott? Beschwört das nicht die Gefahr einer selbstgewählten Heiligkeit herauf? Droht damit nicht der Einbruch einer neuen Gesetzlichkeit? Es blieb wohl kein Argument unausgesprochen, das der Eifer der Theologen gegen den Versuch ins Feld zu führen weiß, mit der Heiligung ernst zu machen und sich in dem Kampf, der uns verordnet ist, mit der geistlichen Waffenrüstung zu versehen, die uns im Neuen Testament anempfohlen wird, weil wir ohne sie diesen Kampf nicht bestehen können. Immer wieder wurde mit dem abstrakten Grundsatz gegen die einfache und gar nicht wegzuleugnende Erfahrung argumentiert, daß es nun einmal Stufen der geistlichen Erfahrung und Bewährung gibt, daß auch in der Kirche die schlichte Weisheit gilt, daß eins sich nicht für alle schickt. Ich erinnere mich, daß damals einer der Freunde, der inzwischen längst zu einem besonders begnadeten Seelsorger und Beichtvater vieler seiner Gemeindeglieder geworden ist, den Satz mit Nachdruck aufstellte und verteidigte, daß die einzige evangelische Form der Privatbeichte das ganz persönliche Gebet im Kämmerlein sei. Erst ganz langsam setzte sich die Einsicht durch, daß die ausdrückliche und geformte Beichte vor einem menschlichen Bruder eine ganz wesentliche Form sei, in der sich die Bindung an die Kirche konkret darstellt. In der Osterwoche des Jahres 1931 waren wir zu einer Freizeit in der Jugendburg des Bundes deutscher Jugendvereine, in der hoch auf einem Basaltkegel im Westerwald gelegenen Westerburg versammelt. Von dieser Woche muß hier die Rede sein, weil in ihr der Wille zum Durchbruch kam, die Freunde, von denen wir wissen konnten, daß sie einem solchen Ruf folgen würden, zur Stiftung einer Bruderschaft zusammenzurufen. Der Ernst und die beschwingte Freude jener Woche werden allen Teilnehmern unvergeßlich geblieben sein. Unvergeßlich, wie wir uns täglich zur Mittagsstunde beim Läuten der Betglocke unter den Kastanien des Burggartens versammelten, um im Kreise stehend das Mittagsgebet zu halten und miteinander einzustimmen in Luthers schier unerschöpflichen Osterchoral: „So feiern wir das hohe Fest mit Herzensfreud und Wonne, das uns der Herr scheinen läßt. Er ist selber die Sonne”. Stärker als je zuvor empfanden wir die große Wohltat, daß sich für unsere Feiern, von der Beichte über die Gebetszeiten und die Predigt bis hin zur Feier des hl. Abendmahles, aber darüber hinaus auch für die Einzelheiten der Tagesordnung, das Zusammensein bei den Mahlzeiten usw. eine feste Ordnung herausgebildet hatte, die uns zusammenschloß und gerade durch ihre klare Disziplin ein ganz freies und gelöstes Miteinander ermöglichte. Im Mittelpunkt der Freizeit standen, wie schon in einer österlichen Freizeit des Vorjahres, gemeinsame Meditationsübungen. Es wurde uns diesmal besonders deutlich, wie eng der Versuch, durch derartige Übungen tiefere seelische Schichten aufzuschließen, und unsere kultischen Erfahrungen und Erkenntnisse zusammengehörten. Es konnte nicht ausbleiben, daß sich unsere Gespräche vorwiegend um die Frage bemühten, welche Folgerungen sich für die Seelsorge, die Gebetsübung, den Gottesdienst aus den Erkenntnissen ergaben, die uns im Zusammenhang mit den Meditationsübungen geschenkt wurden. Die Isolierung der Verkündigung, die damit eintritt, gefährdet auch die Möglichkeit des kirchlichen Zeugnisses in der Form der Verkündigung durch das Wort.” Es wurde gesagt, wie auf die Zeit der historischen Theologie eine Zeit der dogmatischen Theologie gefolgt sei, so müsse der letzteren folgen eine Zeit der praktischen Theologie, die nach den Lebensformen der Kirche frage. Dabei könne die Wahrheitsfrage so wenig vernachlässigt werden, wie die dogmatische Theologie das Recht habe, die historische Frage zu vernachlässigen. Es ist wohl deutlich, warum die Erfahrungen in der Gemeinschaft dieser Tage und diese unsere Gespräche uns zu der Einsicht führten, daß wir auf dem von uns begonnenen Wege nur dann vorwärts schreiten könnten, wenn wir dem Versuch nicht länger auswichen, unter uns ernsthaft und verpflichtend die Kirche konkrete Gestalt annehmen zu lassen. So erging denn im Mai die Einladung für die Tage vom 29. September bis 1. Oktober nach Marburg an eine kleine Zahl von Mitgliedern der Berneuchener Konferenz, „damit wir uns dort in der Weise zusammenschließen, die uns notwendig scheint”. Den Empfängern des Einladungsschreibens wurde völliges Stillschweigen über unseren Plan auferlegt, dachten wir doch nur mit Zagen an die Größe der Aufgabe, die wir vor uns sahen, und den gänzlichen Mangel an Erfahrungen, an irgendeiner hilfreichen Tradition, mit der wir fertig werden mußten, wenn wir dies Wagnis auf uns nahmen. Als wir dann freilich in einem drei Tage und Nächte währenden Gespräch erleben durften, daß uns bei allem Bewußtsein unserer Unzulänglichkeit und obwohl wir auch mit einem Scheitern unseres Versuchs rechneten, das gemeinsame, uns alle überzeugende und bezwingende Bekenntnis zu dieser Aufgabe geschenkt wurde, und als die Urkunde der Evangelischen Michaelsbruderschaft in der Feier der Stiftung vom Altar der Kreuzkapelle in der Universitätskirche verlesen werden konnte, da stimmten wir mit wahrhaft befreitem und getröstetem Herzen das Te Deum an. Wir hatten eine geistliche Heimat gefunden. Quatember 1953, S. 155-158 |
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