Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1953
Jahrgänge
Autoren
Suchen

Von Berneuchen zur Michaelsbruderschaft
(Nach einem Menschenalter III.)
von Karl Bernhard Ritter

LeerEs ist nicht die Aufgabe dieser kleinen Beiträge, eine Geschichte der Berneuchener Bewegung zu schreiben. Darum kann ich der Aufforderung des Schriftleiters entsprechen und diesmal davon erzählen, wie es zur Stiftung der Evangelischen Michaelsbruderschaft gekommen ist, obwohl ich dazu fast ein Jahrzehnt übergehen muß, aus dem über eine Fülle wesentlicher Erlebnisse und Erfahrungen unseres Arbeitskreises zu berichten wäre. Es wird davon das eine und andere in diesen Blättern der Erinnerung noch zur Darstellung kommen müssen. Weil es uns von Anfang an um die Frage der Verwirklichung der Kirche ging, mußte uns sehr bald bewußt werden, daß wir den Dienst, den wir der von Erstarrung und Zerfall zugleich bedrohten Kirche zu tun entschlossen waren, nicht durch literarische Arbeit und nicht durch Konferenzen und Aussprachen leisten würden.

LeerDie „Freizeiten” oder „geistlichen Wochen”, in denen wir einen ständig wachsenden Kreis von Freunden sammelten, um an ihn unsere Entdeckung der Kirche als einer leibhaften und geistlichen Wirklichkeit weiterzugeben, schenkten uns die Erfahrung, daß in sehr viel stärkerem Maße als alle Vorträge und Aussprachen das beispielhafte Leben in der Kirche, um das wir uns in solchen Tagen der Gemeinschaft mühten, den Teilnehmern die entscheidenden Erkenntnisse und Anstöße vermittelte. Wie konnten und durften wir aber an andere etwas weitergeben, was uns nicht selbst bis in unseren Alltag hinein bestimmte und trug, was uns nicht zur Kraft der Erneuerung unseres eigenen, persönlichen Lebens geworden war?

LeerDarum kam es mit innerer Notwendigkeit schon im Jahre 1926 zu einem ersten Versuch, den engeren Kreis der Mitarbeiter zu einer verantwortlichen und bindenden Gemeinschaft, einer „Bruderschaft” zusammenzuschließen. In den zwölf Sätzen, die damals an diesen Kreis ausgegeben wurden, sind eigentlich schon alle wesentlichen Grundzüge einer Lebensordnung erkennbar, die wir später für die Michaelsbruderschaft als verbindlich anerkannt haben.

Linie

LeerZunächst bekennen sich diese Sätze zu der geschichtlichen Stunde, die uns zusammengeführt hatte. Es war die Stunde des Versagens der evangelischen Kirche gegenüber der Aufgabe, den nach dem Zusammenbruch des ersten Weltkrieges heimkehrenden Männern und einer ratlosen, nach neuem Grund und neuem Anfang suchenden Jugend das weisende, hilfreiche Wort zu sagen und ihr zur Heimat zu werden. Gemeinsam war uns, die wir aus den verschiedensten kirchlichen und politischen Gruppen und Richtungen kamen, sowohl die Erkenntnis von dem bedrohlichen Verfall der Kirche und seiner Ursache in ihrem Abfall von ihrem eigentlichen Auftrag, als auch der Wille, diese Kirche dennoch nicht zu verlassen, sondern in ihr als in dem uns von Gott gewiesenen Ort an ihrer Neugestaltung zu arbeiten.

LeerWir unterschieden uns bewußt von dem Kreis aus unserer Generation, der uns durch die gemeinsame Zugehörigkeit zur Jugendbewegung menschlich nahe stand, aber dieser evangelischen Kirche damals unter Führung von Friedrich Rittelmeyer verzweifelt den Rücken kehrte, und ebenso von den Freunden, die eine Erneuerung durch den Anschluß an die sozialistische Bewegung erhofften. Die Kraft zur Erneuerung konnte der Kirche nicht von außen, durch weltanschauliche oder politische Impulse zugeführt werden. Wir sollten auch lernen, daß man an der Neugestaltung einer verfallenden Kirche nicht bauen kann, indem man auf dem Wege der theologischen Diskussion neue Formulierungen als gemeinsame Plattform für eine Gesinnungsgemeinschaft sucht, von der aus man dann an die Aufgaben kirchlicher Gestaltung herangehen könnte.

Leer„Unsere Arbeitsgemeinschaft ist nur als Lebensgemeinschaft möglich. Wir können an der Kirche nur bauen, wenn wir selber Kirche sind” heißt es in den Zwölf Sätzen.

LeerDarum wird in diesen Sätzen zuerst die Gemeinschaft im täglichen Gebet gefordert und geordnet: „In der Kirche miteinander verbunden sein heißt im täglichen Gebet miteinander verbunden sein”. Die Zugehörigkeit zur Bruderschaft als einer lebendigen Zelle der Kirche rührt mit innerer Notwendigkeit zum Dienst am Werden der Kirche im Umkreis des persönlichen Lebens jedes einzelnen Bruders: „Jedes Glied ist gehalten, in dem Lebenskreis, in den es hineingestellt ist, dem Bau evangelischer Gemeinde zu dienen”. Dabei ist es „von der Gemeinschaft der Brüder getragen und an sie gebunden”. Jetzt kann keiner mehr nur auf den eigenen Weg sehen und die eigene Ehre suchen. Er ist an den Rat der Brüder gebunden: „Wir hoffen, daß diese Gemeinschaft der Verantwortung uns aus dem verantwortungslosen Nebeneinander der Arbeit herausführen wird”.

LeerIm sechsten Satz wird die Hoffnung ausgesprochen, „daß jedes Glied des Kreises den Bruder findet, der seine Beichte hört und ihm das Wort der Gnade sagt”. Schließlich findet sich neben anderen Ordnungsbestimmungen die Erkenntnis ausgesprochen, daß es zur Bestätigung und Erneuerung der Bruderschaft der leibhaftigen Begegnung, der „Tage gemeinsamen Lebens” bedarf.

Linie

LeerDie Zwölf Sätze waren ein erster, tastender Versuch, auf einem völlig unbekannten Gelände vorwärts zu kommen. Der Versuch mußte fehlschlagen, weil er sich an den ganzen Kreis der an der Berneuchener Konferenz und ihrer Arbeit Interessierten wandte und es uns damals noch nicht aufgegangen war, daß mit ihm nun in der Tat, so harmlos diese Sätze klingen, eine Richtung eingeschlagen wurde, die dem individualistischen und spiritualistischen Gefälle zur Auflösung der Kirche als leibhafter Wirklichkeit und verbindlicher Ordnungsmacht stracks entgegengesetzt war. Darum scheiterte zwar diese erste „Bruderschaft” auch einfach daran, daß sie ein Programm hatte, es aber damals an der Einsicht gebrach, daß auch von den besten Erkenntnissen nur ein weiter Weg zur Verwirklichung führt, der nicht begangen wird ohne feste Verpflichtung und wirksame Seelsorge.

Leer Es bedurfte noch vieler, uns im Innersten bedrängender, zum Teil sehr bitterer Erfahrungen und Gefährdungen unserer Arbeitsgemeinschaft, bis wir, fünf Jahre später, nun freilich durch solche Erfahrungen belehrt, den Versuch wieder aufnehmen durften. Nun wußten wir, welches Wagnis es war, sich ernsthaft zur Ordnung rufen zu lassen und mit dem Grundsatz „jedermann sein eigener Papst” zu brechen, der dort unvermeidlich zur Herrschaft kommt, wo die Kirche auf der einen Seite zur Idee verblaßt und auf der anderen zur bloßen Organisation ausgehöhlt wird.

LeerWie mühsam der Weg war, den wir in den Jahren von 1920 bis 1931 zurückzulegen hatten, wird mir in der Erinnerung an heftige, spannungsreiche Gespräche anschaulich, in denen sich der Widerstand äußerte gegen Forderungen, die sich uns doch unabweislich aufdrängten. Zunächst kamen die Bedenken gegen den Zusammenschluß in einem engeren Ring aus ganz allgemeinen, grundsätzlichen Erwägungen. Darf man einem Teil der evangelischen Gemeinde besondere Verpflichtungen auferlegen, die nicht für alle gelten? Heißt das nicht, Christen erster und zweiter Ordnung schaffen? Widerstreitet das nicht dem evangelischen Grundsatz von der Gleichheit aller vor Gott? Beschwört das nicht die Gefahr einer selbstgewählten Heiligkeit herauf? Droht damit nicht der Einbruch einer neuen Gesetzlichkeit?

LeerEs blieb wohl kein Argument unausgesprochen, das der Eifer der Theologen gegen den Versuch ins Feld zu führen weiß, mit der Heiligung ernst zu machen und sich in dem Kampf, der uns verordnet ist, mit der geistlichen Waffenrüstung zu versehen, die uns im Neuen Testament anempfohlen wird, weil wir ohne sie diesen Kampf nicht bestehen können. Immer wieder wurde mit dem abstrakten Grundsatz gegen die einfache und gar nicht wegzuleugnende Erfahrung argumentiert, daß es nun einmal Stufen der geistlichen Erfahrung und Bewährung gibt, daß auch in der Kirche die schlichte Weisheit gilt, daß eins sich nicht für alle schickt.

Linie

LeerNoch schwieriger war das Gespräch über die Forderung, daß die Glieder dieses engeren Ringes unter persönlicher Seelsorge stehen sollten. Diese Forderung wurde wahrhaftig nicht einer Theorie zuliebe erhoben, sondern aus der Erfahrung heraus, daß ohne solche Bereitschaft, sich ganz konkret zurechtweisen zu lassen, unsere Lebens- und Arbeitsgemeinschaft immer wieder aufs äußerste gefährdet war. Der Gedanke, dem Einzelnen einen Seelsorger zu setzen, wurde zunächst von fast allen Freunden abgelehnt, vor allem aber die Forderung, die Übung der Privatbeichte in unserem Kreis ernsthaft wieder aufzunehmen.

LeerIch erinnere mich, daß damals einer der Freunde, der inzwischen längst zu einem besonders begnadeten Seelsorger und Beichtvater vieler seiner Gemeindeglieder geworden ist, den Satz mit Nachdruck aufstellte und verteidigte, daß die einzige evangelische Form der Privatbeichte das ganz persönliche Gebet im Kämmerlein sei. Erst ganz langsam setzte sich die Einsicht durch, daß die ausdrückliche und geformte Beichte vor einem menschlichen Bruder eine ganz wesentliche Form sei, in der sich die Bindung an die Kirche konkret darstellt.

LeerIn der Osterwoche des Jahres 1931 waren wir zu einer Freizeit in der Jugendburg des Bundes deutscher Jugendvereine, in der hoch auf einem Basaltkegel im Westerwald gelegenen Westerburg versammelt. Von dieser Woche muß hier die Rede sein, weil in ihr der Wille zum Durchbruch kam, die Freunde, von denen wir wissen konnten, daß sie einem solchen Ruf folgen würden, zur Stiftung einer Bruderschaft zusammenzurufen.

LeerDer Ernst und die beschwingte Freude jener Woche werden allen Teilnehmern unvergeßlich geblieben sein. Unvergeßlich, wie wir uns täglich zur Mittagsstunde beim Läuten der Betglocke unter den Kastanien des Burggartens versammelten, um im Kreise stehend das Mittagsgebet zu halten und miteinander einzustimmen in Luthers schier unerschöpflichen Osterchoral: „So feiern wir das hohe Fest mit Herzensfreud und Wonne, das uns der Herr scheinen läßt. Er ist selber die Sonne”.

LeerStärker als je zuvor empfanden wir die große Wohltat, daß sich für unsere Feiern, von der Beichte über die Gebetszeiten und die Predigt bis hin zur Feier des hl. Abendmahles, aber darüber hinaus auch für die Einzelheiten der Tagesordnung, das Zusammensein bei den Mahlzeiten usw. eine feste Ordnung herausgebildet hatte, die uns zusammenschloß und gerade durch ihre klare Disziplin ein ganz freies und gelöstes Miteinander ermöglichte.

LeerIm Mittelpunkt der Freizeit standen, wie schon in einer österlichen Freizeit des Vorjahres, gemeinsame Meditationsübungen. Es wurde uns diesmal besonders deutlich, wie eng der Versuch, durch derartige Übungen tiefere seelische Schichten aufzuschließen, und unsere kultischen Erfahrungen und Erkenntnisse zusammengehörten. Es konnte nicht ausbleiben, daß sich unsere Gespräche vorwiegend um die Frage bemühten, welche Folgerungen sich für die Seelsorge, die Gebetsübung, den Gottesdienst aus den Erkenntnissen ergaben, die uns im Zusammenhang mit den Meditationsübungen geschenkt wurden.

Linie

LeerWir verständigten uns darüber, daß es ein Mißverständnis unserer Anliegen sei, sie als einen Kampf gegen die Herrschaft des „Wortes” in der evangelischen Kirche zu sehen. Der Sinn unserer Arbeit war es ja gerade, die Sprache ganz ernst zu nehmen, den Worten ihr inneres Gewicht wiederzugeben. Das Wort bedarf aber unserer aufgeschlossenen Hingabe. Die Not ist, daß das Wort nicht mehr aufgenommen wird. Wir wollten Ernst machen mit dem „Sakramentscharakter” des Worts. Am letzten Tage des Gesprächs wurde gesagt: „Wir glauben nicht an die Sicherung der Kirche gegen die Gefahren alles Kircheseins durch Re duktion ihrer Verwirklichung auf die Verkündigung des Wortes und die Profanierung aller anderen Seiten ihres geschichtlichen Seins.

LeerDie Isolierung der Verkündigung, die damit eintritt, gefährdet auch die Möglichkeit des kirchlichen Zeugnisses in der Form der Verkündigung durch das Wort.” Es wurde gesagt, wie auf die Zeit der historischen Theologie eine Zeit der dogmatischen Theologie gefolgt sei, so müsse der letzteren folgen eine Zeit der praktischen Theologie, die nach den Lebensformen der Kirche frage. Dabei könne die Wahrheitsfrage so wenig vernachlässigt werden, wie die dogmatische Theologie das Recht habe, die historische Frage zu vernachlässigen.

LeerEs ist wohl deutlich, warum die Erfahrungen in der Gemeinschaft dieser Tage und diese unsere Gespräche uns zu der Einsicht führten, daß wir auf dem von uns begonnenen Wege nur dann vorwärts schreiten könnten, wenn wir dem Versuch nicht länger auswichen, unter uns ernsthaft und verpflichtend die Kirche konkrete Gestalt annehmen zu lassen. So erging denn im Mai die Einladung für die Tage vom 29. September bis 1. Oktober nach Marburg an eine kleine Zahl von Mitgliedern der Berneuchener Konferenz, „damit wir uns dort in der Weise zusammenschließen, die uns notwendig scheint”.

LeerDen Empfängern des Einladungsschreibens wurde völliges Stillschweigen über unseren Plan auferlegt, dachten wir doch nur mit Zagen an die Größe der Aufgabe, die wir vor uns sahen, und den gänzlichen Mangel an Erfahrungen, an irgendeiner hilfreichen Tradition, mit der wir fertig werden mußten, wenn wir dies Wagnis auf uns nahmen. Als wir dann freilich in einem drei Tage und Nächte währenden Gespräch erleben durften, daß uns bei allem Bewußtsein unserer Unzulänglichkeit und obwohl wir auch mit einem Scheitern unseres Versuchs rechneten, das gemeinsame, uns alle überzeugende und bezwingende Bekenntnis zu dieser Aufgabe geschenkt wurde, und als die Urkunde der Evangelischen Michaelsbruderschaft in der Feier der Stiftung vom Altar der Kreuzkapelle in der Universitätskirche verlesen werden konnte, da stimmten wir mit wahrhaft befreitem und getröstetem Herzen das Te Deum an. Wir hatten eine geistliche Heimat gefunden.

Quatember 1953, S. 155-158

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
Haftungsausschluss
TOP