Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1953
Jahrgänge
Autoren
Suchen

Bruderschaft mit Israel
von Christoph Obermüller

Leer„Geistig gesehen, sind wir Semiten”, hat der vorige Papst angesichts des Anbrandens der antisemitischen Welle der Nazizeit mit betonter Akzentuierung gesagt. Es ist deutlich, was er damit aussagen wollte: es gibt eine Art von „geistlicher Blutsverwandtschaft”, die uns stärker als alle biologische Versippung bindet und bestimmt. Vor allem für den Christen ist das geistliche Erbe, das ihn dem Volke Gottes zuordnet, in ungleich stärkerem Maße prägend als jedes nur national-völkische Erbteil. Daß dies heute nicht mehr nur für die Kirche von Rom, sondern auch für das ganze evangelische Gottesvolk gilt, ja daß es für die evangelische Christenheit im Zeitalter der Ökumene sogar ganz besonders gilt, wies eine Antisemitismus-Tagung der Evangelischen Akademie Berlin auf, die unter dem Thema „Das alte und das neue Israel” stand. Das Thema war absichtlich in dieser Doppeldeutigkeit formuliert worden, die ganz offen ließ, ob mit dem neuen Israel die Christenheit oder das Judentum von heute oder - beide gemeint seien.

LeerGleich bei Beginn der Tagung wurde der welthistorische Aspekt dieser Fragestellung sichtbar. Eugen Rosenstock-Huessy, der als Gast aus den USA teilnahm, macht in einer eindrucksvollen Sicht deutlich, wie vor fast 4000 Jahren mit dem kleinen Volke Israel gleichsam die ganze Menschheit aus der ägyptischen Fronstaatsverfassung auswanderte, in die sie heute im Zeichen eines Staatsabsolutismus von prähistorischen Ausmaßen zurückzukehren scheint - im gleichen Maße, wie sie sich von der Botschaft abwendet, die mit jenem Exodus verbunden war. In dieser Schau erhält die ganze Welt- und Heilsgeschichte neue Perspektiven und Zusammenhänge: wie wir mit Ostern noch immer das jüdische Passah, das Fest der Erwählung und Auswanderung feiern, so steht Pfingsten in unserem Kirchenjahr an eben der Stelle, an der im Gottesjahr Israels das Geschehen von Sinai begangen wurde - wie die Kirche Christi durch die Ausgießung des Heiligen Geistes, so wurde das Gottesvolk 'des alten Bundes durch die Aufrichtung der Gesetzestafeln vom Sinai konstituiert.

LeerEugen Rosenstock wies auf die Fortdauer des Exodus, der immer zugleich Erwählung und Bedrohung bedeutet, durch die ganze Heilsgeschichte hin. Als die Gemeinde der Heiligen unter Konstantin zur Staatskirche wurde, zogen die Mönche als ein neues Israel, als die stellvertretend Herausgerufenen, in die Wüste. Und als der moderne Staat im vergangenen Jahrhundert die Gläubigen seinen Reglementierungen zu unterwerfen begann, werden in merkwürdiger Konsequenz jeweils Protestanten, Katholiken und Juden gemeinsam davon betroffen - bis hin zu der eindeutigen Situation im Hitlerstaat, der seinen Antisemitismus mit dem Spürsinn des Todfeindes schon im zweiten Anlauf, auf die „Semiten nach dem Geiste” übertrug.

LeerEs wäre allzu billig gewesen, allein aus diesen nackten Daten der Geschichte auf eine Bruderschaft zwischen dem alten und dem neuen, dem christlichen Israel zu schließen. Es gibt eine ganze Reihe sehr massiver Fakten, die dawider sprechen. Eines der Vortragsthemen behandelte den „Antisemitismus als christliche Schuld”, als der er sich mehr und mehr gerade heute erweist. Die Vikarin Lili Simon, die als Christin im heutigen Staate Israel lebt, wies auf sehr eindrucksvolle Art darauf hin, daß es heute für eine christliche Mission an den Juden kein schlimmeres Hindernis als die Leichenberge von Auschwitz gibt. Was dort geschah, wird nicht nur den Deutschen, sondern nicht minder auch den Christen vorgehalten: eine Christenheit, die solcher Greueltaten fähig war, kann unmöglich Gottes neues Volk sein.

LeerW i r  also stehen heute als ein unübersteigbares Hindernis zwischen Christus und dem Gottesvolk des Alten Testaments. Da gilt keine Berufung auf gebundene Hände! Wenn die Christen mit jener letzten Unerschrockenheit, die von ihnen gefordert ist, ihr Zeugnis abgelegt hätten, so hätten, wie sehr temperamentvoll formuliert wurde, sechs Millionen Christen mitsamt den Juden vergast werden müssen.

LeerAber es bedarf gar nicht solch gewagter Argumentation, um den Antisemitismus in einem sehr tiefen Sinne als eine christliche Schuld deuten und verstehen zu lernen. Verhält es sich nicht letztlich so, daß in dem „Israel nach dem Geiste” der Antisemitismus nur darum groß werden konnte, weil es seine Herausgerufenheit aus den Völkern preisgegeben hat und so das Israel nach dem Fleisch als eine ständige Mahnung, als einen immer lästigeren Gewissensstachel empfand? War das Schicksal der Aussonderung, das die Juden durch die Jahrtausende trugen, nicht auch den Christen zugeschrieben? Mußten nicht eigentlich die Christen, wenn sie treu in der Nachfolge ihres Herrn lebten, all jener Verachtung und Verfemung ausgesetzt sein, die sie zum Teil selber den Juden bereiteten? Daß der Antisemitismus eine um so weitere Verbreitung und um so größeren Tiefgang fand, je mehr sich die Christenheit von ihrem biblischen Ursprung entfernte, läßt diesen Gedanken nur um so nachdenkenswerter erscheinen.

LeerNur wenn mit solcher Radikalität und in voller Redlichkeit vor sich selber die Frage nach der Schuld aufgeworfen und ausgetragen wird, hat es einen Sinn, nach der Möglichkeit der Bruderschaft mit Israel zu fragen. Sie kann immer nur vom Alten Testament als unserer geistigen und geistlichen Geburtsurkunde hergeleitet werden. Daß man dabei auch allzu irenisch verfahren kann, wurde deutlich, als einer der Referenten der Tagung, Professor Schoeps, in der Rolle eines Nathanus redivivus den Islam in die Reihe der alttestamentarischen Religionen einzuordnen versuchte. Das ist zwar gerade unter dem Gesichtspunkt Realisierung der Bruderschaft durchaus möglich, aber wenn Schoeps von den drei Bünden sprach, die Gott durch Moses, Christus und Mohammed mit der Welt geschlossen habe, und damit dem Alten und dem Neuen einen „Neuesten Bund” an die Seite stellte, schritt er wohl allzu sehr in Lessings Spuren. Wir können heute die Frage nach der Wahrheit nicht mehr beiseite lassen, wenn sich unsere Aussagen nicht in konturlose Allgemeinheiten verflüchtigen sollen.

LeerDas gilt auch für die Bruderschaft mit dem. Israel des Alten Bundes. Hier aber muß angesichts einer Christenheit, die ihre Botschaft preiszugeben droht, die Begegnung mit dem „älteren Bruder” nicht von der Wahrheit fort, sondern kann umgekehrt gerade zu ihr hinführen. Wie im Hitlerstaat die Auseinandersetzung um den Arierparagraphen zum ersten Anlaß des Kirchenkampfes wurde, so scheiden sich immer wieder an der Frage nach der Bruderschaft mit dem alten Gottesvolk die Geister - bis hin zur Frage unserer materiellen Verschuldung an die Opfer eines untergegangenen Regimes.

LeerDie Christenheit beginnt heute erst wieder, zaghaft genug, sich als das Volk Gottes zu begreifen, das in all seinen - vielleicht den Stämmen der natürlichen Völker vergleichbaren - Sonderkirchen doch eines ist in dem Herrn, als dessen Leib sich die Kirche von jeher verstand. Sie hat zugleich ganz neu erfahren, daß das Leiden zu ihrem Wesen gehört, wenn sie sich recht als die herausgerufene und zugleich in die Welt hineingestellte Ekklesia versteht. Die Juden haben von jeher den leidenden Gottesknecht der jesajanischen Prophezeiung auf das Volk Israel gedeutet, dem manche Deuter sogar das Prädikat des Gottessohnes zuerkennen wollten, das die Juden bekanntlich Christus beharrlich verweigern. Aber könnte nicht, wenn sich das neue wie das alte Gottesvolk gleicherweise als leidender Gottesknecht begreift, eben Christus, in einer Analogia Trinitatis verstanden, der rechte Bürge für die Bruderschaft zwischen dem Israel des Alten und des Neuen Testamentes werden?

LeerAls der Ort aber, an dem die Bruderschaft zwischen den „beiden Israel” besonders deutlich wird, erwies sich - buchstäblich in der letzten Stunde der Tagung - das Gottesjahr. Ein Pfarrer aus dem wendischen Spreewald, in dem alte kirchliche Sitte noch heute treue Bewahrung findet, berichtete zur Überraschung aller, besonders der jüdischen Teilnehmer, daß seine Gemeinde noch heute den zehnten Sonntag nach Trinitatis als den Tag der Zerstörung Jerusalems wie ein hohes kirchliches Trauerfest begeht.

LeerDie märkische Sorbengemeinde, die über fast zweitausend Jahre hinweg den Untergang der jüdischen Hauptstadt betrauert, scheint uns gerade in dieser Weltstunde, wo Jerusalem wieder zu den umstrittensten Orten des Erdballs gehört, die Christenheit aber zum Bilde des leidenden Gottesknechtes zurückgeführt wird, ein Bild von starkem Sinngehalt. Nicht nur in der österlichen und pfingstlichen Freude, sondern auch in einem Feste der Trauer und des Leidens ist die Gemeinde Jesu Christi mit dem Gottesvolk vom Sinai, sind die alten und die neuen Israeliten einander brüderlich verbunden.

Was der wendische Pfarrer erzählt hat, ist nicht so außergewöhnlich, wie es der Berliner Versammlung erschien. Auch in der fränkischen Landgemeinde, deren Pfarrer ich war, wurde alljährlich am 10. nach Trin., im Nachmittagsgottesdienst die Geschichte von der Zerstörung Jerusalems nach Josephus vorgelesen, die zu diesem Zweck in dem amtlichen Lektionar der Kirche enthalten war. Ich halte es durchaus für möglich, daß das auch heute noch da und dort in der bayerischen Kirche geschieht. (Anmerkung des Herausgebers)

Quatember 1953, S. 165-167

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-05
Haftungsausschluss
TOP