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von Alfred Dedo Müller |
Die Unklarheit über das Verhältnis des Gottesdienstes zur Wahrheitsfrage ist noch immer ein entscheidendes Hindernis für eine neue Begegnung vieler Menschen mit dem christlichen Glauben. Nun ist diesem unbestreitbar noch immer sehr wirksamen Sachverhalt gegenüber ein Ereignis eingetreten, das mit Hoffnung erfüllen darf. Es hat eine Wiederentdeckung des Gottesdienstes durch „moderne” Menschen stattgefunden, die der wissenschaftlichen Kultur tief verbunden, mit der schmerzlichen Zerstörung aller Art von gottesdienstlicher Praxis durch das wissenschaftliche Wahrheitsbewußtsein aus intimster eigener Erfahrung vertraut und die jeglicher Art von Beschönigung und Illusionismus nach der einen oder anderen Seite hin von Grund aus abhold waren. Wie das möglich war, kann an der wissenschaftlichen Entwicklung Wilhelm Stählins deutlich werden. Für die wissenschaftliche Grundhaltung, von der die Anfänge seiner literarischen Wirksamkeit bestimmt sind, enthält die aufschlußreichsten Belege das „Archiv für Religionspsychologie”, das er in Verbindung mit führenden Psychologen und Theologen des In- und Auslandes in drei Bänden in den Jahren 1914-21 herausgegeben hat. Es ist ihm dabei um eine von jeder Wertung absehende, rein auf das Tatsächliche gerichtete Phänomenologie und Homologie des religiösen Lebens zu tun. Es wird deshalb besonderer Wert darauf gelegt, die Religionspsychologie von jeder dogmatischen Bindung frei zu halten. „Aus der Berührung mit der Dogmatik entsteht die größte Gefahr, welcher die Religionspsychologie ausgesetzt ist. Die Dogmatik stellt sich überall die Aufgabe, bestimmte Glaubensüberzeugungen als wahr und als normativ (Dogmen) zu vertreten. Nichts Schlimmeres aber könnte die Religionspsychologie tun, als gleichfalls sich in eine Erörterung über die Wahrheit der religiösen Glaubenssätze einzulassen” (Bd. I, 6 f.). Nur „Gegenstand” religionspsychologischer Forschung können „Dogmen und der daran geknüpfte Wahrheitsanspruch” (6) sein. Es wird aber auch für ein „unbedingtes” Gebot methodischer Sauberkeit gehalten, sich jeglicher „Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen oder anderen religionsphilosophischen Fragen” zu enthalten (7). Auch „jedes zusammenhängende Urteil über den Wert einer Religion” ist ausgeschlossen. Dieser geradezu asketische wissenschaftliche Positivismus wird mit bewundernswerter Konsequenz und Umsicht bis zum letzten 1921 erschienenen Band des Archivs durchgehalten. Er ist mit besonderem Nachdruck in einer eigenen Abhandlung Wilhelm Stählins über „die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie” begründet, die eine etwas eingehendere Betrachtung lohnt. Es wird hier die These vertreten: „Die Wahrheitsfrage gehört in die Religionspsychologie nicht hinein” (III, 137). Der Satz ist methodisch und erkenntnistheoretisch gemeint. „‚Wahr’ und ‚falsch’: das ist eine Unterscheidung, die innerhalb der Psychologie überhaupt keinen Sinn hat” (III, 137). Hier kommt es nur darauf an, „einfach die Wirklichkeit zu sehen und zu beobachten”. Alle Einzelwissenschaften haben sich dieser erkenntnistheoretischen Entscheidung zu beugen. Von da aus wird auch die Methode der Religionspsychologie bestimmt. Sie ist im Wesentlichen auf eine möglichst exakte, methodisch einwandfreie Beschreibung des religiösen Phänomens beschränkt. So vertritt Wilhelm Stählin mit Nachdruck eine psychologische Analyse und erkenntnistheoretische Besinnung streng auseinander haltende empirische Religionspsychologie, die jede „Verbindung der Religionspsychologie mit der systematischen Theologie” ablehnt (I, 294). Und entscheidend ist ihm hierfür der realistische Gesichtspunkt, daß sich nur so „der Gesamtkomplex des Religiösen” erfassen lasse, das als „Lebenserscheinung”, statt nur von seiner theoretischen Seite her verstanden sein will. In diesem Realismus liegt der Keim für die spätere über die Religionspsychologie hinausführende Entwicklung. Alles in allem ist es also so, daß Wilhelm Stählin in dieser Frühphase seines Schaffens entschlossen ist, den totalitären Charakter des wissenschaftlichen Wahrheitsanspruches ganz im Sinne der positivistischen Tradition anzuerkennen, alle methodischen Konsequenzen daraus zu ziehen und ihm alle Erkenntnisse abzugewinnen, die möglich sind. Die Religion verfügt danach nicht über eigene Erkenntnisquellen. Das wird etwa dort besonders deutlich, wo er von der Beziehung der kirchlichen Frömmigkeit zur historisch-kritischen Theologie und ihrer Bemühung, die historischen Glaubensgehalte wie etwa die Auferstehung „durch sorgfältige historische Kritik möglichst zu erklären und dadurch die hierüber gemachten Aussagen zu verifizieren”. Er findet es von dem Überwiegen des Gewißheits- über das Wahrheitsinteresse in diesem Frömmigkeitstyp her nur natürlich, daß naiver volkstümlicher Glaube dieser historisch-kritischen Arbeit niemals Verständnis und Dankbarkeit entgegenbringen werde. Was geschah nun demgegenüber eigentlich in der liturgischen Bewegung, deren Vorkämpfer der Herausgeber des Archivs für Religionspsychologie wenige Jahre nach Erscheinen des letzten Bandes wurde? Fand hier etwa doch die dem Religionspsychologen so gut bekannte Flucht vor der asketischen Strenge wissenschaftlicher Wahrheitsforschung in den imaginären Raum einer wirklichkeitsfernen kultischen Mystik statt, in der endgültig auf jede Auseinandersetzung mit dem Wirklichkeitsdenken der Gegenwart verzichtet ist? Niemand wird bestreiten wollen, daß es diese Möglichkeit auch gibt. Aber man darf ja nun wohl dem in der Kunst der Selbstanalyse geübten Religionspsychologen zutrauen, daß er eine so entscheidende innere Wendung nicht ohne einige Klarheit über die Gründe vollzogen hat. Was hat er selber darüber zu sagen? Wir halten uns an die 1952 erschienene „Zusage an die Wahrheit”. Zunächst zeigt sich, daß es dem Autor fast vierzig Jahre nach den ersten Anfängen seiner literarischen Wirksamkeit noch immer um die Wahrheitsfrage geht. Nur daß er die Antwort hier nicht mehr von der Wissenschaft, sondern nach dem Untertitel des Buches vom „Bekenntnis der Kirche” erwartet. Diese in der Tat erstaunliche, wenn auch bei genauerem Zusehen nicht unvorbereitete Wendung deutet auf einen in der Tiefe gewandelten Erkenntnisbegriff. Denn offenbar ist es nun nicht mehr so, daß das Bekenntnis nur zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung gemacht wird. Es wird zum Subjekt, es wird zur selbständigen Quelle der Erkenntnis der Wahrheit. Und zwar hat das nichts mit der seit Nietzsche vom Aufklärertum aller Grade so gern zitierten Todfeindschaft des Christentums gegen alle Wissenschaft, nichts mit einer Kapitulation des Wahrheitswillens vor dem Kreuz, nichts mit dem Rückfall in primitivere Formen der Wahrheitssuche zu tun. Die neue Blickrichtung stammt ganz im Gegenteil aus einer radikalen Vertiefung und Ausweitung des Erkenntnistriebes. Und zwar wirkt sie nach zwei Seiten hin. Einmal als radikale Kritik an der Wissenschaft, die nur die Außenseite der Welt erfaßt, und dann als Aufschließung neuer Wege der Erkenntnis für das Ganze und für die Tiefe der Wirklichkeit. Es ist uns nämlich „im gleichen Maß” „die Fähigkeit eines durch-schauenden Denkens, einer schauenden Erkenntnis verloren gegangen”, die allein „mit der sichtbaren Erscheinung zugleich die Hintergründe, den Sinn, die Bedeutsamkeit erfaßt”. So ist ein Wirklichkeitsbild entstanden, das Wilhelm Stählin die „Kleine Wirklichkeit” nennt. Ihr wendet sich der Mensch „beobachtend, messend, die Möglichkeiten seiner Herrschaft und seines Nutzens ausspähend” zu. „Nur das erscheint als Wirklichkeit im vollen Sinne, was sich methodisch erforschen und technisch verwerten läßt”. So sieht „dieser Mensch der kleinen Welt” jene größere Wirklichkeit nicht mehr, die - wie die Atmosphäre die feste Erde - unseren Erlebnisraum umgibt. Er hat das Organ verloren für „jene tiefe und fromme Erfahrung, daß an bestimmten Punkten jene hintergründige Wirklichkeit vernehmbar einbricht und durchbricht in die vordergründige Wirklichkeit, daß also gleichsam durch die Ritzen in der Wand der kleinen Wirklichkeit das Licht, aber auch der Wind einer größeren und weiteren Welt eindringt in den Raum unserer kleinen, engbegrenzten Welt”. An die Stelle der wirklichen Welt tritt für den sogenannten Gebildeten eine „Begriffswelt”, in der er sich „einen imponierenden Ersatz für die lebendige Wirklichkeit” schafft. „Die Begriffe sind das Zeichen der Herrschaft, mit der der Mensch sich der ihn umgebenden Welt zu bemächtigen meint.” In Wirklichkeit stellen sich diese Begriffe zwischen den „begreifenden Menschen und die wirkliche Welt”. Er baut damit Systeme der „Weltanschauung”, ohne zu ahnen, daß es sich in Wirklichkeit um raffinierte Methoden der „Welt-nicht-Anschauung” handelt. Diese „Abspaltung” „von der wirklichen Welt” führt zu einer heillosen Entleerung des Wahrheitsbegriffes. Die „Wahrheit” entartet zum bloßen „theoretisch zutreffenden Urteil”, der Wahn wird zum bloßen Irrtum. Es gibt keinen handelnden Vollzug der Wahrheit mehr. Es geht das Wissen um den Totalitäts-, Realitäts- und Entscheidungscharakter der Wahrheit verloren. Es wird nicht mehr gesehen, daß wir „immer und überall, auch im politischen Raum aus der Wahrheit oder aus dem Wahn handeln” und daß wir immer entweder „die Wahrheit oder den Wahn vollziehen” (21). Statt dessen ist ein „begeisterter Lobpreis der Autonomie” entstanden, der sich „als ein Aberglaube erwiesen”, „die Welt und die Aufgabe der Weltgestaltung in eine Vielzahl zusammenhangsloser Bereiche auseinandergerissen und für den Kampf der vielen Götter auf dem Rücken der hilflos preisgegebenen Menschen eine neue und moderne Bahn freigemacht hat”. Entscheidend ist dabei, daß es sich in dieser Hinwendung zu Gottesdienst und Bekenntnis nicht um ein müdes, resigniertes und unkritisches Ausbrechen aus der wissenschaftlichen Verantwortung und aus der Freiheit und Mannigfaltigkeit religiösen Erlebens handelt, sondern daß sie zugleich als zu Ende gedachte, radikal durchgeführte Kritik und als schöpferische Erfüllung der hier wie dort wirkenden Intentionen verstanden sein will. In der Durchbrechung des wissenschaftlichen Absolutismus ergibt sich auch die Möglichkeit einer genaueren Definition des der Religion eigentümlichen Erkenntnisprinzips. Für das Christentum weist er darauf hin, daß die beiden Ursprachen der Bibel für „erkennen” das gleiche Wort gebrauchen, das die körperliche Vereinigung von Mann und Frau bezeichnet. „Dieser Sprachgebrauch erwächst aus einem tiefen Wissen darum, daß alle echte Erkenntnis nur in jener Verbindung reift, die in der Hingabe vollzogen wird.” „Eben diese Fähigkeit zur Hingabe an die wirkliche Welt ist das, was dem Menschen der Neuzeit am meisten gebricht, und darum hat er die wirkliche Erkenntnis vertauscht mit einer Zuschauerhaltung, die immer draußen und gegenüber bleibt” (17). Eben deshalb kann von der Liturgie der Kirche aus „das Gesamtverhältnis des Menschen zur Welt geordnet und geheilt werden”, weil hier „jenes Denken und jene Sprache noch Heimatrecht haben, die nicht aus dem Machttrieb, sondern aus demütiger Hingabe entspringen, und, weil hier das Gefängnis der ‚kleinen Welt’ gesprengt und die Fenster aufgestoßen werden in den unendlichen Raum der Wahrheit” (17). Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, den Begründungen im einzelnen nachzugehen, die Stählin für diese grundlegende These seines Buches beibringt. Es kann hier auch gar nicht anders sein, als daß eine Fülle offener Fragen übrig bleiben, die gründlich durchdacht sein wollen. Es kann uns nur darauf ankommen, die Erkenntnishaltung andeutend zu charakterisieren, die sich hier dem Gottesdienst und dem Bekenntnis der Kirche zuwendet. Sie läßt sich einmal als unbedingter Realismus und dann als unbedingter Kritizismus charakterisieren. Im Dogma geht es um die Sachverhalte, die nach einem von Stählin angeführten Wort Paul Tillichs „jeden Menschen unbedingt angehen”. Diese Sachverhalte, die über Tod und Leben entscheiden, kommen aber in der ‚kleinen Welt’ des Positivismus nicht vor. So ist der Mensch von heute also vor die Frage gestellt, ob er auch weiterhin ein Wirklichkeitsdenken als die einzige Aufschließung der Wirklichkeit ansehen will, in dem die über sein Leben entscheidenden Sachverhalte entweder überhaupt mit dem Mittel der ‚Abstraktion’ übergangen und ausgeklammert oder aber zum mindesten in keiner Weise ‚aufgeklärt’ und ‚erhellt’ sind. Helfen kann nur die echte theoria - ein schauendes Denken, eine solche Art des Sehens, bei der sich bestimmte Tiefendimensionen erschließen und das Äußerliche, Sichtbare zugleich durchsichtig wird. „Nicht aus der Theorie, sondern aus der theoria, aus diesem schauenden Denken, diesem denkenden Schauen ist das Bekenntnis der Kirche erwachsen; und alles Bekenntnis ist darum eine Hinwendung und Zusage an diese andere Dimension der Wirklichkeit.” Dabei weiß die Kirche, daß es „mit der bloßen Anerkennung einer Wirklichkeit nicht getan ist”. Die Wirklichkeit Gottes wird auch vom Teufel anerkannt. Es geht Gott gegenüber um Begegnung, Huldigung, Hingabe und Opfer. „Das Bekenntnis der Kirche ist die feierliche und lobpreisende Rede von jener Wirklichkeit, der der Mensch sich hingeben darf und an der er nicht zu Schanden wird. Es geht um die letzte Rettung oder die Selbstzerstörung, um Heil oder Unheil des Menschen”. In alledem bekundet sich ein geistes- und seelengeschichtlicher Umbruch, dem grundsätzliche Bedeutung zukommt, auch wenn er vorerst nur von einer noch recht kleinen Gruppe getragen ist. Der Sperrgürtel, den das wissenschaftlich-positivistische Wirklichkeitsdenken um das religiöse Bewußtsein und die kultische Praxis der Christenheit gelegt hat, ist gesprengt - nicht von Außenseitern, denen es lediglich um ein religiöses Fürsichsein geht, in dem die Frage der Weltdeutung und Weltordnung alle Bedeutung verloren hat, sondern von Wirklichkeitsmenschen, die den Wahrheitsweg der Wissenschaft zu Ende gegangen sind und denen es eben gerade so zur unumstößlichen Gewißheit geworden ist, daß es um die Wirklichkeit geschehen ist, wenn die Wissenschaft selbst nicht aus der Absperrung herausfindet, in die sie sich verfangen hat. Der hier beschrittene Weg ist ein Anfang. Die Frage: „Dürfen wir wirklich auch den Männern der Wirtschaft, der Erziehung, der Industrie, den Beamten, den Politikern anraten und zumuten, auf das zu achten, was in dem Bekenntnis der Kirche gesagt wird?” ist gestellt. Wir können nach einer in Jahrhunderten entwickelten Taubheit nicht mit rascher Wiederherstellung der Hörfähigkeit oder auch nur Hörwilligkeit rechnen. Wenn nur deutlich ist, daß die Frage aus einem sachlichen Zwang kommt, der nicht in menschlicher Verfügung steht und den zu sehen, erkennend zu durchdringen und in den eigenen Willen aufzunehmen Hoffnung und Heil bedeutet! Quatember 1953, S. 195-200 |
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