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von Heinz-Dietrich Wendland |
Wenn Wilhelm Stählin am 24. September dieses Jahres seinen 70. Geburtstag feiert, dann ist es angemessen, daß wir uns vergegenwärtigen, wie weit der Umkreis seiner Ausstrahlung auch in die „jüngere Generation” derer hineinreicht, die 20, 30 oder mehr Jahre jünger sind als er. Sein Werk im Dienste der Jugendbewegung darf als geschichtlich abgeschlossen gelten; er ist damals, zwischen 1919 und 1933, der Führer, Berater und Mahner für viele Tausende gewesen, die er, unermüdlich in Schrift und Wort, geformt und geprägt hat in der großen Unruhe und dem chaotischen Durcheinanderwogen der verschiedensten geistigen Antriebe jener Zeit. Mit diesen jungen Menschen ist er im schönsten Sinne gleichzeitig gewesen als der verstehende Freund und Deuter ihrer großen Sehnsucht und zugleich als der, der früh die krankhaften Entartungen des neuen Idealismus und der neuen Romantik erkannte, indem er das Fieber vom Heilsamen und Heilenden aus christlicher Weisheit der Seelsorge und Führung zu scheiden wußte. Gleichzeitig war er auch denen, mit welchen er die Evangelische Michaelsbruderschaft stiftete, oder denen er außerhalb dieser Gemeinschaft die „Regel des geistlichen Lebens” schenkte, indem er ihnen neue Wege des Mitlebens mit der Kirche aus dem Erfassen ihres göttlichen Mysteriums eröffnete, das im Sakrament, im Gotteslob und der Anbetung der Liturgie, in den Ordnungen der betenden Kirche erscheint, um uns aus der tödlichen Krankheit einer zerfallenden Welt zu retten, von ihr zu reinigen und heil zu machen. Der letzte und größte Kreis aber, den sein Wirken erreicht hat und noch heute bewegt, ist derjenige einer jüngeren Generation in einem anderen Sinne. Hier handelt es sich um Theologen und Nicht-Theologen in und außerhalb der Michaelsbruderschaft, die von seinem Wirken in der Jugendbewegung, der liturgischen Bewegung oder in der Michaelsbruderschaft, soweit es jetzt schon geschichtlich abgeschlossen vor uns liegt, noch nicht erreicht worden waren, sondern Wilhelm Stählin erst dann in Person oder in seinen Schriften begegneten, als seine Gedanken und seine Arbeit für die geistliche Erneuerung der Kirche schon die Gestalt der Reife und der endgültigen - soweit wir als Menschen davon sprechen dürfen - Prägung erlangt hatten. Diese Art der Begegnung ist eigentümlich doppelseitig, weil sie auf der Nicht-Gleichzeitigkeit beruht. Menschen, die schon ihre eigene Prägung im Ringen um christliches Leben und christliche Erkenntnis erworben hatten, junge Theologen, in denen eine neue Liebe zu der kritisch umstrittenen und eine tödliche Krisis durchlebenden evangelischen Kirche zur Zeit des Kirchenkampfes lebendig geworden war, Menschen in der Kirche und vor den Toren der Kirche, die nicht denselben Weg der Kritik an der Kirche und des Suchens nach neuer geistlicher Ordnung des Lebens gegangen waren wie er, kamen nun ins Gespräch mit ihm. Sie werden daher nicht mehr direkt geformt; sie können nicht unmittelbar die Sprache Wilhelm Stählins übernehmen und mit-sprechen. Aber: es gibt liebende, dankende, ehrfürchtige Kritik, die nicht „Auseinander-Setzung” bedeutet. Sollte sie nicht gerade in der Kirche ihre wahre Heimat und ihren Ort haben? Es gibt ein kritisches Empfangen, das zu dem unveräußerlichen Recht jedes neuen Geschlechts in der Kirche gehört, in der es auf das aletheuein en agape, „die Wahrheit üben in Liebe” (Eph.4,15) ankommt. Es gehört zum Geheimnis der viele Geschlechter und Zeiten umspannenden und durchdringenden Kirche, daß sich in ihr auch die „Nicht-Gleichzeitigen” treffen und finden können, ja einander begreifen und lieben lernen, ohne das preisgeben zu müssen, was ihnen vorher oder nachher durch andere Diener Christi und Haushalter der göttlichen Geheimnisse zuteil wurde und wird. Es gibt geistliche Vaterschaft sogar durch die scheinbar so undurchdringliche, theologische und kirchenpolitische Präformation der Geister in theologischen „Schulen” und kirchlichen „Richtungen” hindurch; denn geistliche Hilfe für Geburt und Wachstum des Christen, so gewiß sie sich in Gedanke und Wort auch theologisch artikulieren müssen, sind pneumatischen Ursprungs und leben von einer Vollmacht, die vor- und über-theologisch ist, der Vollmacht, die die Apostel zum „Aufbau” des Leibes Christi vom Herrn erhalten haben, um sie weiterzureichen an die künftigen Verwalter der Geheimnisse des Reiches Gottes. Das bleibt im Letzten - Gott Lob! - „höher als alle Vernunft”, darum aber auch mehr, als daß es die Sprache eines einzelnen Mannes, ja sogar die Rede vieler christlicher Zeitalter jemals genugsam ausdrücken könnten. Vergessen wir im Streite um die christlichen Begriffe niemals, daß der Heilige Geist viele Möglichkeiten hat zu reden, wie Apostel und Propheten schon im Ursprung der Heilsgeschichte überwältigend reich bezeugen. Hören, was die Väter und Brüder in der Kirche uns sagten, durch die Grenzen einer menschlich-christlichen Lebensgeschichte hindurch, das muß die jüngere Generation lernen und üben; dann wird ihre Begegnung und ihr kritisches Gespräch mit Wilhelm Stählin innerhalb einer großen Gemeinschaft unter der heiligen Überlieferung des Evangeliums Frucht bringen und im Prozeß der Einübung im Christentum etwas Heilsameres und Größeres sein als eine jener tausend Gelegenheiten, bei denen wir uns mit gegenseitiger theologischer Kritik aneinander reiben. Wir meinen viele zu kennen, die zu diesem Hören und Empfangen bereit und fähig sind, kritisch und dankbar, prüfend und liebend zugleich, zumal sie erkennen, daß die geschichtliche Begrenztheit christlicher Rede und Gestalt auch die Theologie und das kirchliche Handeln der „jüngeren Generation” selbst zur Demut und zur Einfügung in das Ganze des Christusleibes ruft, der allein aus der Zusammenfügung vieler Glieder und Charismen erwachsen kann. Quatember 1953, S. 220-222 |
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