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Unsere apostolische Verantwortung
von Max Lackmann

LeerDie Kirche wird sich Mühe geben müssen, die Kontinuität der Christuswirklichkeit auf Erden seit Pfingsten in der Geschichte der alten, mittelalterlichen und reformatorischen Christenheit ernst zu nehmen. Vater und Mutter ehren, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben, ist nicht nur ein göttliches Gebot im irdischen, sondern auch im geistlichen Elternhaus. In meiner Kirche, der ganzen, einen heiligen Christenheit auf Erden, in der ich zum Christen geboren worden bin, soll ich durch das Nähren und Erziehen des Heiligen Geistes zum „Mannesalter Christi” heranwachsen. Es kann - wie ein alter Kirchenvater lehrt - „niemand Gott zum Vater haben, der nicht die Kirche zur Mutter hat.” Man kann dasselbe bei Luther im Großen und Kleinen Katechismus lesen. Wir werden die unerledigten Fragen evangelischer Christenheit überhaupt nicht in Angriff nehmen und unseren göttlichen Beruf brüderlicher Warnung und Hilfe gegenüber der römisch-katholischen Christenheit nicht wieder ernstlich wahrnehmen können, solange wir uns nicht die alte und ewig gültige Wahrheits-Substanz, der sich unsere Väter vor und in der Reformation in Übereinstimmung mit der apostolischen Urchristenheit verpflichtet wußten, als Kinder dieser „Väter in Christo” wieder zu eigen gemacht haben.

LeerAber das ist nur eine Seite der uns aufgegebenen Arbeit. Es wird uns nämlich je länger desto mehr aufgehen, daß - abgesehen von dem, was man die „halben” und falschen Antworten der Reformation nennen kann - auch die besten Antworten der Reformatoren nicht ohne weiteres für unsere Verantwortung gegenüber dem Evangelium und gegenüber dem Katholizismus von heute ausreichen. Sie sind - mit allem Vorbehalt sei dies mißverständliche Wort hier gebraucht - oft genug „überholt”, nicht in dem Sinne, daß ihr Wahrheitsgehalt, das „Zu-treffende” der apostolischen Ver-antwortung in diesen Antworten geleugnet werden sollte, aber in dem Sinn „überholt”, daß der in ihnen ausgesprochene Wahrheitsgehalt heute nicht mehr ausreicht, verantwortliche Stellung vom Evangelium her gegenüber der römischen Kirche zu beziehen. Die Gründe dafür seien hier nur kurz angedeutet.

Leer1. Luther hat sich an einem entleerten Katholizismus des Spätmittelalters orientiert. Dieser wird heute von der katholischen Christenheit selbst, soweit sie einsichtig ist, als verkümmerte Darstellung katholischer Glaubenslehre empfunden. Es ist heute unmöglich, sich einfach die Polemik der Reformation gegen das Mönchtum, gegen den Gebrauch der Messe, gegen geläufige theologische Begriffe der Gnadenlehre („Verdienst”, „eingegossene Gnade”) zu eigen zu machen. Sicherlich haben auch wir hier noch zu „protestieren”. Aber das „Schwert des Geistes”, das wir zu führen haben, kann nicht einfach das Schwert altlutherischer Polemik sein.

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Leer2. Wie weit Luther selbst und seine Gegner gemeinsam von humanistischen und ockhamistischen Einflüssen bestimmt waren, wird von den Wissenschaftlern hüben und drüben ebenso lebhaft behauptet wie bestritten. Unleugbar ist jedenfalls, daß seit der Reformation eine Interpretation des „Wortes”, auf das sich der Glaube gründet (als Predigt und als Bibelwort), und eine Einschätzung des „Gotteswerkes” (opus Dei) im gottesdienstlichen, liturgischen Handeln der Gemeinde in der evangelischen Christenheit heimisch geworden ist, die mehr zu Erasmus und Ockham als zum Neuen Testament, zu Benedikt und Thomas von Aquin paßt. Die Reformatoren wurden nicht müde zu wiederholen, die kirchlichen Zeremonien, Riten, Liturgien und Institutionen seien von „Menschen gemacht” und für die Einheit der Kirche unwesentlich. Sie widersprachen damit einem Gebrauch der Zeremonien zu ihrer Zeit, der zwar in seiner Art verwerflich und unterchristlich war, aber eben nicht Gebrauch und Anschauung der Kirche Christi von den Zeremonien ist, wie sie bis in die apostolische Zeit zu verfolgen sind. Man kann darum diese Stellungnahme zur Gestalt des Gottesdienstes nicht ohne weiteres als sachlich absolut zutreffend bezeichnen. Es ist für Glauben und Einheit der Christenheit eben doch nicht gleichgültig, ob die Gemeinde sonntäglich bei den Worten „und ist Mensch worden” im Nicänischen Glaubensbekenntnis anbetend in die Knie geht oder nicht; ob die Glieder der Gemeinde bei der Trauung, Konfirmation und Absolution die Segnung durch die Handauflegung begehren oder nicht.

Leer3. Die reformatorischen Väter haben wohl gelegentlich, aber nicht durchgängig sich darüber Gedanken gemacht, daß gewisse kirchliche Mißbräuche (z. B. Beichtpraxis und Cölibat) sich aus einem urchristlichen, apostolischen, rechten Gebrauch entwickelt haben; es also ihre Aufgabe sei, die Verminderung der Wahrheit im gegenwärtigen Mißbrauch sichtbar zu machen, nicht aber lediglich die Un-wahrheit, womit die ganze Sache in Verruf kommen mußte. Man kann z. B. vom Neuen Testament und von der Geschichte der verfolgten und auf den Herrn wartenden Kirche her bedeutend mehr über den Wert der Ehelosigkeit, über die Notwendigkeit des Sündenbekenntnisses vor dem die Gemeinde und Gott „repräsentierenden” Träger des Amtes (Beichte), über die Gegenwart des Opfers Christi im heiligen Abendmahl und über das Dankopfer des Glaubens und der Liebe der kommunizierenden Gemeinde sagen, als es die Reformatoren in ihrer Abwehrstellung für richtig hielten.

Leer4. Die Beschäftigung der evangelischen Christenheit mit der Heiligen Schrift legt heute jedem Sachkundigen die Vermutung nahe, daß der reformatorische Theologe und noch mehr das Gemeindeglied der Reformationszeit - aus sehr verständlichen Gründen - auch der allgemeinchristlichen Versuchung erlegen sind, den gewaltigen Komplex der Heiligen Schrift durch eine fundamentale Erfahrung mit dem Christus Gottes systematisch „in die Hand zu bekommen”. Aber es gibt nicht nur einen Schlüssel zum Christusgeheimnis der Schrift - und wäre es der von Luthers Erfahrung der Rechtfertigung des Gottlosen durch das Vertrauen auf Christi Werk. Wenn sich heute evangelische Neutestamentler nicht scheuen, Partien des Neuen Testamentes als „frühkatholisch” oder „jüdisch” zu charakterisieren, wie sie sich der evangelische Rechtfertigungsglaube nicht aneignen könne, so wird sichtbar, daß uns die Schrift und ihr Herr zu neuem Durchdenken und zu neuen Erfahrungen drängen. die über Luther hinausgehen, ohne das Christuserlebnis der Reformation zu verlieren.

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Leer5. Wir sind aber auch gehalten, den Anruf Gottes durch die getrennten Brüder in der römischen Christenheit ernst zu nehmen und zu hören. Karl Barths Dogmatik-Bände mühen sich merkwürdigerweise bedeutend eifriger als die Mehrzahl der lutherischen Theologen darum. Ob die Masse der evangelischen Christen überhaupt weiß, daß das „Laienapostolat” bei den Katholiken eine lebendigere Wirklichkeit ist als unsere evangelische Theorie vom „allgemeinen Priestertum”? Daß ein katholischer Theologe auf einem liturgischen Kongreß in Deutschland jüngst die These vortragen konnte, eine Messe ohne Predigt des Evangeliums sei für ihn überhaupt kein christlicher Vollgottesdienst im Sinne des Neuen Testaments? Daß die Erziehung der Gemeinde zum persönlichen Mitvollzug des ganzen Gottesdienstes - einschließlich des priesterlichen Dienstes am Altare! - dort williger und verständnisvoller aufgenommen wird als von unseren Gemeinden, die sich gerne nur „anpredigen” lassen und im übrigen in Ruhe gelassen sein wollen? Es ist mir auch nicht bekannt, daß evangelische Kirchenleitungen und Zeitschriften sich derart systematisch, erzieherisch und seelsorgerlich um die Wiedergewinnung des Sonntags vom Geheimnis der communio mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen her bemühen, wie das auf katholischer Seite der Fall ist.

LeerAber selbst wenn dies alles nicht zu sagen wäre; selbst wenn uns Rom nur in Gestalt der unverminderten päpstlichen Hierarchie, des Mariendogmas und Marienkultes, der diktatorischen Alleinherrschaft und Unterdrückung evangelischen Lebenswillens in katholischen Ländern begegnen sollte, - die Realität des auch in dieser Kirche gespendeten und wirksamen Taufbades und Abendmahles, der auch hier unablässig begehrten und erteilten Absolution in der Kraft des dreieinigen Gottes, der auch hier - eifriger denn je - gelesenen und gehörten Heiligen Schrift, des auch hier - und zwar oft genug in Gemeinschaft mit evangelischen Christen - im Namen Jesu übernommenen und getragenen Leidens und Sterbens Seiner Heiligen: diese Realität zwingt uns, dem Geheimnis der Wahrheit in unseren getrennten Brüdern zu begegnen. Es scheint mir sicher, daß wir Evangelischen und die heilige apostolische Christenheit überhaupt wohl kaum einer römischen Mariologie und einer enthusiastischen Lehre vom Primat (und der Unfehlbarkeit) des päpstlichen Stuhles bedürfen.

LeerDaß die Christenheit indes diese häretischen Dogmen in einem tieferen Sinne als Wirkung der göttlichen Wahrheit „notwendig” braucht, um im Zeitalter des auch unter Christen geisternden Nihilismus, Intellektualismus, Spiritualismus und Materialismus der göttlichen Bestimmung des Menschen nach Leib und Seele und der unwandelbaren Autorität ewiger Wahrheit in der Kirche Gottes neu inne zu werden, und das in einer Weise, wie sie die allgemeine Christenheit nicht mehr oder wir Evangelischen vielleicht noch nicht begriffen haben - das sollte von jedem wahrhaft „ökumenisch” denkenden Christen verstanden werden. Der evangelische Christ wird nicht erwarten dürfen, vom römisch-katholischen Christen als Korrektiv der Wahrheit autgenommen zu werden, wenn er nicht bereit ist. hinzuhorchen, was die Wahrheit in der römisch-katholischen Gestalt ihm zu sagen hat. „Protestanten”, die sich zum Katholiken wie die unaufhörlich parallel laufenden Geleise einer Eisenbahnschiene verhalten, haben den Glauben an die Wirklichkeit des Leibes Christi auf Erden verloren. Sie haben auch aufgehört, „pro-testierende” Christen, Zeugen für die Wahrheit gegenüber und hingewandt zu dem der gleichen Wahrheit angehörenden, aber irrenden Bruder zu sein, wie unsere Väter in der Reformation es waren. Sie sind dann erstarrt im „Protest” und in der Negation. Das aber bedeutet den Verlust der Wahrheit und des göttlichen Rechtes, „Protestant” zu sein.

LeerDenn der Protestantismus, oder besser: die allgemeine Christenheit in Gestalt der evangelischen Kirche hat nur so lange ein Daseinsrecht, als sie der gemeinsamen Wahrheit, die sie mit Rom gemeinsam hat, besser dient als die römisch-katholische Christenheit. Das aber erweist sich alle Zeit nur im Gespräch und in der Begegnung (als Austausch und als „Gegen-Satz”), nicht aber in der Isolierung vom Partner, der unter dem gleichen Rufe des gleichen Herrn steht: „Folge mir nach!”

Quatember 1953, S. 226-228

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-17
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