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Menschenbild und Leibhaftigkeit
von Erich Müller-Gangloff

LeerDie fehlende geistige Grundlegung alles dessen, was sich heute mit mehr oder weniger gutem Recht Wissenschaft nennt, wird an keiner Frage so deutlich wie an der nach einem verbindlichen Bilde vom Menschen. Das naturalistische Menschenbild, das die letzten Generationen bestimmte, hat heute seine Verbindlichkeit eingebüßt, ohne daß ein neues Bild bereits so deutlich sichtbar wäre, daß es umfassende Geltung beanspruchen könnte. Daher der Zerfall der Universitas in Fachbereiche, die ziemlich beziehungslos nebeneinander existieren, daher der Ruf nach dem Studium generale und einer neuen Sinnbeziehung der Wissenschaft.

LeerVon dieser Not bedrängt, hat sich an der Berliner Freien Universität ein Kreis evangelischer Hochschullehrer zusammengefunden, der sich in Begegnung und Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Theologie um eine neue Sinnbeziehung und ein verbindliches Menschenbild bemüht. Es ist bemerkenswert und kennzeichnend sowohl für die Ernsthaftigkeit als auch für die konkrete Weise, mit der die Bemühung dieses Kreises geschieht, daß als erste Frage die nach der Leiblichkeit des Menschen auf geworfen, und aus theologischer und medizinischer Sicht behandelt wurde.

LeerAls theologischer Referent war Bischof Wilhelm Stählin nach Berlin gebeten worden, wo sich in der Neuen Mensa ein Professorenkreis von beachtlichem Umfang zusammenfand. Es waren nicht nur alle Fakultäten mit wesentlichen Vertretern zu diesem „Professorium” gekommen, es war von vornherein auch eine Atmosphäre der gespanntesten geistigen Interessiertheit vorhanden. Auch die katholische Seite war bei dieser Begegnung vertreten, die der evangelische Studentenpfarrer leitete.

LeerEs erwies sich als eine überaus glückliche Wahl, daß ein so konkreter, aller auch bei diesem Thema naheliegenden Abstraktion so abholder Theologe wie Wilhelm Stählin das grundlegende Referat zu halten hatte. Es hatte etwas schlechthin Erregendes, wie hier in ebenso schlichter wie geistvoller Interpretation dessen, was die Bibel über die Leibhaftigkeit des Menschen sagt, vom „Sinn des Leibes” gesprochen wurde.

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LeerEs wird auch für die große Mehrzahl der noch einigermaßen mit dem christlichen Glauben verbundenen Hörer dieses Vortrages neu und vielleicht unbegreiflich gewesen sein, daß man als Christ nicht von einer „Unsterblichkeit der Seele” sprechen kann, wenn man sich diese als ein vom Leib trennbares Abstraktum vorstellt. Der Leib gehört unvertauschbar zur menschlichen Person, so daß man geradezu von einer Leibhaftigkeit der Seele sprechen kann. Gerade in der Wertung des Leibes erweist sich, wie tief verschieden der idealistische Dualismus, der aus dem griechischen Denken stammt, von einem genuin biblisch-christlichen Denken ist und wieviel gegenwärtiger und lebensnäher das biblische Denken als das idealistisch-abstrakte ist.

LeerDer Stählinsche Vortrag hielt noch weit mehr als er versprach. Er entwarf nicht nur ein bedrängend gegenwärtiges Menschenbild, er enthielt, genau besehen, sogar den Entwurf zu einem neuen Bilde der Universitas. Stählin sprach einleitend von den vier seinsmäßigen Beziehungen des Menschen, die seine Stellung in der geschaffenen Welt kennzeichnen: von der Beziehung auf Gott, auf die Welt, auf den anderen Menschen und auf sich selbst. Dieser vierfachen Beziehung entspricht in seiner Sicht ein vierfacher Sinn des Leibes, aber auch - was im Referat nur angedeutet wurde - ein vierfaches Daseinsverständnis des Menschen.

LeerEs bedarf nur eines gewissen Weiterdenkens in der angedeuteten Gedankenrichtung, um zu entdecken, daß hier gleichsam die vier Ur-0Fakultäten anvisiert sind: die Theologie mit ihrer Frage nach Gott, die Medizin (im umfassenden Sinne etwa des Paracelsus) mit der Frage nach der Welt, Jura (und Soziologie) mit der Frage nach dem Mitmenschen und endlich die Philosophie mit der Frage nach dem Menschen selbst.

LeerFreiherr Kreß von Kressenstein, der Prorektor der Universität, hielt das medizinische Korreferat, mit dem er in dankenswerter Weise Ergänzungen aus seinem Fachgebiet beitrug. Allerdings drohte die Diskussion durch die Beschränkung auf das Fachliche jenen bedrängend-gegenwärtigen Charakter einzubüßen, den sie durch das Referat Stählins erhalten hatte. Hier nun erwies sich die Philosophie als überraschend hilfreiche Wissenschaft, die in der Person von Frau Katharina Kanthak in die Bresche sprang und die Grundlage zu einem echten Gespräch schuf, in dem die ganze beängstigende Problematik der heutigen Universität, aber gottlob auch ein Weg sichtbar wurde, der aus dieser Not herausführen kann.

LeerEs war für die aufmerksamen Teilnehmer an diesem Professorengespräch nicht nur eine Überraschung, sondern beinahe ein Erlebnis, zu bemerken, wie nahe sich heute -zum Teil ohne es selber zu wissen - Theologie und Philosophie stehen, wo es um das zentrale Problem des Menschenbildes geht. Die Gedanken, die Frau Kanthak in der Interpretation des französischen Existenzphilosophen Marcel, aber auch von Heidegger und Jaspers her entwickelte, zeigten eine so erstaunliche Nähe zu dem von Wilhelm Stählin gezeichneten Bild, daß das Gespräch in der freundnachbarlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden von ganz verschiedenen Ursprüngen herkommenden Denkweisen immer neue Höhepunkte fand.

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LeerGerade in ihren wichtigsten Aussagen wurde die Position der Theologie durch die Existenzphilosophie aufs nachdrücklichste bestätigt. Wenn Wilhelm Stählin gegen den Begriff der unsterblichen Seele als einen „sturmfreien Teil des Menschen” polemisierte, fand er die volle Unterstützung von Frau Kanthak, die den Leib-Seele-Dualismus bis zu Platon zurückführte, dessen Seelenwanderungslehre den dualistischen Grundzug seines Denkens noch besonders unterstreicht. Zweieinhalbtausend Jahre abendländischer Denküberlieferung sind mit der heute innerhalb der Philosophie vollzogenen Wende an ihr Ende gelang, das die Verheißung eines neuen Anfangs in sich trägt.

LeerEs hieße allerdings etwas Wesentliches und vielleicht sogar das Entscheidende verschweigen, wenn hier nur dieser so erfreulich positive Aspekt des Professorengespräches aufgewiesen würde. Wie man auch keineswegs von den von Frau Kanthak ausgeführten Gedanken sagen kann, daß sie die heutige Philosophie schlechthin kennzeichnen. Gerade in der Philosophie ist ja heute das große Schisma besonders deutlich, das mehr oder weniger durch alle Wissenschaften hindurchgeht: auf der einen Seite die Vertreter der alten Schulphilosophie streng systematischer Prägung, auf der anderen Seite die Existenzphilosophie mit ihrem Wissen um die tiefe Seinsbeziehung alles Denkens, die es nicht erlaubt, im Denken von dem Denkenden zu abstrahieren.

LeerDieses Schisma aller heutigen Wissenschaft und gerade auch der Universität wurde bei der Diskussion der Professoren zum Teil in beinahe erschreckender Weise deutlich. Wenn Frau Kanthak mit Gabriel Marcel das eigentliche, sich engagierende, inkarnierende Denken vom objektivierenden Problemdenken unterschied und die drastische Feststellung machte, man könne jedes Mysterium unschwer zum abstrakten, den Denkenden nicht mehr unmittelbar angehenden Problem degradieren, so wurde das durch eine ganze Reihe sehr redlich gemeinter Diskussionsbeiträge geradezu überdeutlich belegt.

LeerWenn ein Biologe die so unerhört konkreten Gedanken des Theologen in das Gebiet der Spekulation verweisen zu sollen meinte, wo sie gerade auf gar keinen Fall hingehören, wenn einige Mediziner ein Selbstverständnis ihrer Fakultät vortrugen, das sie zur Naturwissenschaft im gestrigen Sinne degradierte, so zeigt das nur, wie sehr das in diesem Kreise geführte Gespräch auch in der Bewältigung des Themas noch in den Anfängen ist. Wie hätte auch ein Schisma, in dem sich zwei Zeitalter menschlicher Geistesgeschichte begegnen, mit dem Gespräch eines Nachmittags ausgeräumt werden sollen?

Quatember 1953, S. 229-230

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-04-05
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