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von Heinz-Dietrich Wendland |
In den Jahren des Ringens der Kirche mit dem Nationalsozialismus, der die Nation zur total beherrschenden Autorität und Sozietät erhoben hatte, stand die Frage nach dem Verhältnis von Nation und Gottesvolk im Mittelpunkt. Diese Fragestellung führte uns zu tieferem Verständnis der Sendung und des Amtes der Kirche, als wir es zuvor besessen hatten, indem wir erkannten, daß die geschichtliche Kirche in unserem Volke von dem Gottesvolke nicht getrennt werden durfte, das in allen und über allen Völkern lebt, und daß darum die geschichtliche Kirche inmitten des deutschen Volkes nicht dem totalen und absoluten Anspruch der Nation unterworfen werden könnte. Der Zusammenbruch des Nationalsozialismus befestigte diese Einsicht und neue Erfahrung vom Wesen der Kirche. Die Problemstellung „Nation und Gottesvolk” schien damit endgültig erschöpft und aufgehoben zu sein. Wir sprechen heute von Europa und der Christenheit, statt von der Nation, von den weltweiten Aufgaben der Kirche im Sinne ihres Dienstes am Frieden der Welt oder an dem bedrohten Menschen der Gegenwart schlechthin. Wir wissen vom Ende des Nationalstaates in Europa und im Zusammenhange damit vom Ende des Nationalismus überhaupt. Wir lösen uns also in der christlichen Soziallehre unserer Tage von der Voraussetzung, die die christliche Ethik des 19. und 20. Jahrhunderts mit allzu großer Selbstverständlichkeit aus der nationalen Geschichtsschreibung und der nationalstaatlichen Bewegung übernommen hatte, daß „Volk” oder „Nation” die im Gange der Geschichte entscheidende Lebenseinheit und Wirklichkeit wäre, der sich alle anderen Sozietäten von der Familie bis zum Staate ein- und unterzuordnen hätten. Das ist eine einschneidende Wendung im Verhältnis der Kirche und des christlichen Denkens zur Nation, hinter die wir niemals wieder zu den verhängnisvollen Vermischungen von Nation und Kirche zurückkehren dürfen, die beide, Kirche wie Nation, zu zerstören drohten. Aber damit ist in Wirklichkeit das Problem keineswegs erschöpft und abgetan. Ein Blick auf den mächtigen, säkularen Nationalismus, der sich in Asien und Afrika erhoben hat, um die Entwicklung der modernen Nationen Europas vom 16. bis zum 20. Jahrhundert gleichsam nachzuholen, genügt schon, um uns deutlich zu machen, daß alle „jungen”, auf den Missionsfeldern entstandenen Kirchen jetzt unausweichlich vor die Frage „Nation und Gottesvolk” gestellt sind. Dazu tritt in Europa die Tatsache, daß die auf das einheitliche Europa zielende politische Bewegung mit starken Widerständen zu kämpfen hat, die aus der geschichtlichen Prägung der europäischen Nationen und dem Selbstbewußtsein ihrer Eigenart in Sprache, Kultur und politischer Ordnung hervorgehen. Selbst das Ende des deutschen oder des französischen oder des italienischen Nationalstaates kann ja nicht bedeuten, daß diese geschichtlich gewordenen Nationen einfach aufgelöst werden könnten. Europa muß zwar das Ende der souveränen National-Staaten sein, aber es kann nicht auf der Zerstörung der Nationen erbaut werden. Eine nationalistische Gegenwirkung größten Ausmaßes würde die Antwort auf einen solchen Versuch sein und die politische Neuordnung Europas unmöglich machen. Also ist auch die Kirche, die sich verantwortlich dafür weiß, die Völker, denen sie dient, von dem Fluche nationalistischer Selbsterhöhung und Selbstvergötterung zu befreien, heute auf einer neuen Ebene vor das Problem der Nation gestellt. Das Volk Gottes dagegen entstammt der Geburt von oben her; es ist durch den heiligen Geist Gottes gezeugt und nicht durch die Kräfte der natürlichen, irdischen Zeugung. Das Volk Gottes ist der Leib Christi, die Gemeinde des Geistes, die nur in Glaube, Liebe und Hoffnung leben und erbaut werden kann, nicht durch wirtschaftliche Kraft, nicht durch politische Macht, nicht durch Waffen, aber auch nicht durch Geist und Wissen des Menschen in der geschichtlichen Welt. So scheint es denn, daß Nation und Gottesvolk zwei völlig entgegengesetzten Dimensionen angehören; geht die eine dem Tode, so das andere dem ewigen Leben entgegen. Hier herrscht der natürliche Drang zur Selbsterhaltung und -behauptung, dort die Liebe, die allen Menschen dienen will. Mit dem Worte Christi „Mein Reich ist nicht von dieser Welt” hat man denn auch das Problem Nation und Gottesvolk seit je sehr einfach und einleuchtend zu lösen unternommen. Aber dies Reich Christi ist ja in diese Welt gekommen; denn das Wort ward Fleisch. Nun lebt das Volk Gottes in dieser Geschichtszeit unter den Nationen. Wir haben zu fragen: Was bedeutet die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes unter den Menschen, für die Völker? Sie bedeutet, daß Stand und Wesen all der Völker verändert und im Tiefsten gewandelt wird, zu denen Christus kommt. Jetzt hat das Gericht über allen Ewigkeitswahn und alle Selbstvergötterung der Völker und ihrer Herrscher begonnen. Jetzt werden aber auch Menschen aller Völker zu Gliedern des heiligen Volkes Gottes und damit einer neuen, erlösten Menschheit gemacht. Unter und aus der Verkündigung des Evangeliums entstehen aus Stämmen, die sich Christus öffnen, und aus Dialekten, in welche die Bibel übersetzt wird, neue Völker und neue Sprachen. In einer Geschichte der Mission sind die Deutschen ein Volk geworden. Die Masse des uniformen Einheits-Menschentums ist ebenso wenig das Ende der Wege Gottes wie die Alleinherrschaft einer Nation und die Selbstverklärung ihres geschichtlichen Schöpfertums. Wir werden daher mitten im politischen Ringen um neue Formen einer übernationalen Völkerordnung immer wieder vor der Tatsache still stehen müssen, daß das Volk Gottes die Kirche der Völker ist, in der sie das Wort der Rettung hören, um im Leibe Christi miteinander verbunden zu werden. Aus dem Volke Gottes in jedem einzelnen geschichtlichen Volk bricht eine neue Liebe zum Volke auf, die nichts mit nationalistischer Selbst-Liebe zu tun hat. Diese dienende und heilende, aber auch richtende Liebe will, daß dieses Volk das Licht des Heils schauen und den Weg antreten möge zur Krippe und zum Kreuz, um anzubeten samt allen denen, die aus der „Ferne” kommen, damit sie zu Söhnen Gottes und Gliedern des Christenleibes gemacht werden. Der Weg der Völker zum Tempel des Gottesvolkes ist zunächst immer ein Weg der Einzelnen, die zum Glauben gelangen. Aber diese „Einzelnen” sind nicht eine Abstraktion „Mensch”, sondern so, wie sie Menschen einer bestimmten Familie und einer geschichtlichen Lebenszeit sind (aus keiner anderen Geburt und zu keiner anderen Zeit möglich, so wie sie sind), so sind sie auch Menschen nur als Glieder eines geschichtlichen Volkes, die an seiner Art und seinem Erbe, im Bösen und im Guten, unter Fluch und Segen teilhaben. Hier ist das alles erschaffene Leben durchwirkende Grundgesetz der göttlichen Schöpfung „ein jegliches nach seiner Art” unscheidbar verwoben mit der Erb-Sünde des Einzelnen und der Völker, mit ihrer Todverfallenheit. Nicht in dem Forum übernationaler politischer Ordnungen, sondern allein in dem universal-menschheitlichen Volke Gottes, das durch den Heiligen Geist erleuchtet und geheiligt wird, kann dem Fall der Kreatur in die Sünde widerstanden werden und den Völkern der Welt in der Finsternis der Ferne vom Reiche Gottes, in der Qual des Lebens- und des Machtwillens, in dem Trotze friedloser Selbstbehauptung, ihre Berufung zum Reiche Gottes aufleuchten. In dieses Reich, nicht in das eigene, das irdische, sollen sie ihre Herrlichkeit einbringen, durch das Licht dieses Reiches sollen sie leben und wandeln. Dann gibt es also in dieser Geschichtswelt keine „christlichen Nationen”? Diese abkürzende und dadurch verfälschende Redeweise ist in der Tat höchst bedenklich. Jedenfalls ist niemals eine Nation als solche und als ganze „christlich”. Zudem müssen auch „christliche” Nationen sterben. Sie bekommen als Nation keine Verheißung der Ewigkeit dadurch mit auf den Weg, daß in ihnen die Kirche lebt und das Evangelium verkündigt wird. Sie können also weder mit dem Volke Gottes gleichgesetzt noch auch qua „christliche” Nation einfach als Teil des Gottesvolkes angesehen werden. „Christlich” kann in Anwendung auf solche geschichtliche Größen nur heißen, daß diese Völker in den Bereich der Verkündigung des Gebotes und des Heiles Gottes geraten sind, daß Gottes Volk in ihnen geschichtliche Gestalt angenommen hat, und nunmehr Vorstellungen wie Ordnungen von Sitte, Recht und sozialem Zusammenleben durch die Begegnung von Nation und Gottesvolk geprägt und gewandelt worden sind. Alle solche christlich-weltlichen Ordnungen sind wiederum geschichtlich und vergänglich; sie sind aber auch Zeichen des Rufes Gottes, der an diese Nation ergangen ist und ergeht, um sie in ihren Gliedern in die wahre Menschheit und Menschlichkeit einzuführen, die den Gliedern des Volkes Gottes in Christus geschenkt wird. In diesen Zeichen christlicher Ordnung leuchtet die Hoffnung auf, die über den Völkern steht und ihnen mit dem Dasein des Gottesvolkes in der Welt geschenkt wird: Daß sie einmal ganz aufgenommen und verwandelt werden sollen in die heilige und erlöste Gemeinschaft der Knechte Gottes, die Gott ewig dienen und ihn anbeten. Die Nationen werden hineingezogen in den großen Gang der Heilsgeschichte, wenn Christus durch Wort und Sakrament Menschen aus allen Völkern zu Gliedern seines Leibes macht. Durch den Eingang in diese Dimension des Heils, die uns im Volke Gottes eröffnet wird, werden die Völker emporgehoben zu der wahren Einheit des Menschengeschlechts. Denn die Kirche Christi ist der wahre neue Mensch (Eph. 2, 15 ff.). Selbst wenn eines Tages der Kampf um die internationale Völkerordnung eines universalen Rechtes und Friedens zur Gründung eines Weltstaates, eines einzigen, alle Nationen in sich beherbergenden Menschheits-Reiches führen sollte, bliebe ein solches von Sünde und Ungerechtigkeit, vom Konkurrenzkampf der Völker und von inneren Bürgerkriegen gefährdet und bedroht. Auf diesem Wege kann die wahre Einheit der Menschheit und der Völker niemals erlangt werden. Indem das Volk Gottes aber in der Gestalt geschichtlichen Kirchentums in einer einzelnen Nation lebt und verkündigt, an den Gnadenmitteln teil hat und zugleich den ganzen irdischen Geschichtsweg dieser Nation mitgeht, wird diese Nation, selbst wenn sie dem Dienst des Gottesvolkes in vielen ihrer Glieder immer von neuem den Widerstand des Unglaubens entgegensetzt, doch in ihrem kreatürlichen und geschichtlichen Dasein auf das tiefste getroffen. In der Begegnung von Nation und Gottesvolk wird Schuld und Versagen der irdischen Völker sichtbar. Geschichtliche Katastrophen können nun als göttliches Gericht erfahren und im Segen durchlitten werden, geschichtliche Bewahrung und friedliches Leben kann nun in Demut mit dem Lobe Gottes beantwortet werden. Die Gabe des besonderen kreatürlichen Lebens, das geschichtliche Erbe des Volkes in seinem ganzen Reichtum, Recht, Sitte und nationale Kultur werden in der Beugung des Glaubens aus der Hand des Schöpfers und Herrn aller Völker empfangen, der nicht nur der Nationalgott eines einzelnen Volkes ist. Allein durch den Dienst, den das Volk Gottes dieser einen und besonderen Nation erweist, kann solche Haltung und Handlungsweise geboren werden. Denn die Kirche Christi wendet sich mit der Liebe Christi jedem einzelnen Volke zu. Es gehört zu ihrer geschichtlichen Verleiblichung, daß sie inmitten der einzelnen Nationen lebt und in ihren Sprachen verkündigt, betet und denkt. Dieses „in einer Nation leben” heißt aber immer zugleich, daß die Kirche für dieses Volk da ist und ihm mit allem, was Gott ihr in Christus gab und gibt, zu dienen hat. Sie hat also Art und Erbe dieser Nation zu reinigen, zu sichten, zu heiligen durch Gottes Gebot und durch seine Gnade. Volk Gottes in einer Nation, das bedeutet Kritik aller nationalen Überlieferungen, nicht im politischen Sinne, nicht im Dienste einer Weltanschauung oder sozialen Ideologie, sondern im Dienste dessen, der der Herr und König des Gottesvolkes und aller Welt-Völker ist. Das bedeutet aber auch zugleich, daß die Kirche mit Barmherzigkeit und Liebe, mit Segnen und Danken, mit der Vergebung der Schuld und dem Leben aus der Gnade in die Nation hineinwirkt. Wenn das Volk Gottes in einer Nation zum Leben kommt, dann betet in den christlichen Gemeinden und Menschen dieses Volk vor dem Throne Gottes an als ein Volk unter Gott. In diesem Akte der Huldigung vor dem König der ganzen Welt findet aber zugleich die Begegnung des einen Volkes mit den anderen Nationen statt. Wir erkennen einander im Gottesvolke als Brüder und Miterben Christi, wes Stammes oder Volkes wir auch im irdischen Bereich sein mögen, und welches geschichtliche Schicksal uns und die anderen geprägt haben mag. Das Volk Gottes in der Nation bewahrt die Nationen davor, nur sich selber zu sehen. Denn vor dem Throne Gottes und seines Christus steht immer die große Menge „aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen” und niemals nur eine einzelne Nation. Nur im Miteinander des Einander-Sehens und -Liebens kann die Gemeinde Christi in der einzelnen Nation Gott anbeten und den heiligen Dienst vollziehen. So bleibt das Gottesvolk auch dann, wenn es seinen Dienst der einzelnen Nation zuwendet, und auch dann, wenn die Kirche innerhalb eines Volkes nur aus Gliedern dieses einen Volkes besteht, immer die Eine, Heilige, Katholische und Apostolische Kirche, die alle Grenzen zwischen den Völkern überschreitet und sprengt. Quatember 1954, S. 21-26 |
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