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Logos, Liebe und Intelligenz
von Wilhelm Schmidt

LeerEs gibt Worte in unserer Sprache, die so weit heruntergekommen sind, daß ihre vornehme Herkunft nicht mehr ohne weiteres erkennbar ist und der Inhalt, den der schaffende Geist einmal in sie hineingelegt hat, verloren zu gehen droht. Zu diesen heruntergekommenen Worten gehört auch die Vokabel „Intelligenz”, und es ist sehr zu fürchten, daß ihr Inhalt, nämlich die Intelligenz, in Gefahr gekommen ist.

LeerDas Elend dieses Wortes wird deutlich, wenn wir bedenken, wie hart ein Mensch gescholten ist, wenn er von anderen ein „Intellektueller” genannt wird, und welche geringwertigen Vorstellungen sich mit dieser Kennzeichnung verbinden; oder wie klar die Verurteilung ist, wenn eine Wesensart als „intellektualistisch” bezeichnet werden muß. Mit halbem Ernst allenfalls und in nur flachem Sinn mag man einen Halbwüchsigen wohl noch einen „intelligenten Burschen” nennen - ein ehrenwerter Mann wird sich mit solchem Titel unter Umständen nicht mehr geehrt fühlen.

LeerFreilich, es ist wahr: „Intelligenz” ist in unserer Sprache ein Fremdwort. Aber wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen, daß auch sein Inhalt unserem Lebensraum fremd werde, und wir werden gut daran tun, wenn wir das Mögliche versuchen, die geminderte Ehre der Intelligenz zu retten. Intelligentia gehört zu einer vornehmen Wortfamilie mit einem edlen Stammbaum - auch dann noch, wenn sie unter uns fremd und heimatlos geworden ist. (Eine Zugewanderte, mit der verwandt zu sein eigentlich begehrenswert erscheinen sollte.)

LeerNächstverwandt mit intellegere - sozusagen wie ein rechtes Geschwister - ist diligere: und dieses Wort bedeutet „auswählen” und „wert halten”. Welcher Art aber diese Wahl und Wertschätzung ist, wird an der letzten und höchsten Bedeutung der Vokabel diligere deutlich: und die ist „lieben”.

LeerHier wählt und schätzt also nicht eine kalte Berechnung, die ihren Vorteil zu wahren sucht, sondern ein warmes Herz, das ergriffen ist von der Anmut der Dinge, getroffen von dem Puls des lebendigen, ja, des wahrhaftigen Lebens. Dies ist also ein Wort, das die innersten und innigsten, die menschenwürdigsten und lebenbewahrenden Bewegungen des menschlichen Geistes auszusprechen versucht.

LeerDer Geist, der dieses Wort diligere prägte, hat nicht achtlos und beliebig gewählt, sondern, wie es scheint, mit sorgfältiger und ehrfürchtiger Aufmerksamkeit - oder anders gesagt: der Mund, der dieses Wort zuerst aussprach, war nicht von schwatzender Leichtfertigkeit beraten, sondern von einem gesammelten vornehmen Spürsinn für Wert und Art. Denn die indogermanische Wurzel, aus der dieses Wort herkommt, zeigt ihre Art damit an, daß die griechische Sprache aus ihr eines ihrer höchsten Worte gebildet hat: logos - das heißt: „Das Gesammelte”. Darin ist, wie in einer Ernte - oder genauer: wie in einer Frucht - Saat, Wachstum und Reife, das ganze Lebensschicksal des Gedankens zusammengebracht und nun ein Ganzes, Gesamtes, ein Keim-Bergendes und Leben-Trächtiges geworden. Wir sagen dafür in unserer Sprache „das Wort”. Der Evangelist Johannes gebraucht es, um das Geheimnis des eingeborenen Sohnes Gottes auszusprechen.

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LeerSolcher Art ist auch das Wort intellegere, „erkennen”. Es trägt noch unverändert in seiner Mitte die Stammsilbe leg, das Zeichen der Art. Genau betrachtet, scheint es sogar noch ein liebevolleres Wort als diligere „lieben” zu sein, da es mit diesem Stamm statt des scharfen, scheidenden dis, das mit dem leg sich zu diligere verband, das freundlichere inter fügte. Das aber heißt, daß hier eine „Intelligenz” am Werk ist, die sich „zwischen” die Dinge mengt und unter ihnen da ist, sie zu erfahren, zu schmecken, zu wägen und zu ordnen - und sie also „wahrnimmt” und „erkennt”.

LeerDiese Verwandtschaft von „lieben” und „erkennen” gehört zum Wesen der Intelligenz. Das will wohl bedacht sein. Denn Verwandtschaft ist ja nie zufällig und blindlings zu Stande gekommen, sondern getragen und durchdrungen vom Strom des Lebens. Ihre Verbindungen bleiben darum immer sinnvoll, auch wenn sie nicht mehr entwirrbar sind.

LeerEinen Aufschluß darüber, was diese Verwandtschaft genauer bedeutet, gibt der Satz, der im 7. Kapitel des Johannesevangeliums steht: „So jemand will Gottes Willen tun, der wird innewerden, ob diese Lehre von Gott sei.” Hiermit ist gesagt, Erkennen sei ein Innewerden, Erkennen bedeute, daß etwas in uns da sei; daß wir uns einer Sache „er-innern”; daß die Wahrheit uns eingeleuchtet und in uns ein Licht entzündet habe.

LeerDie Wahrheit ist wohl da - aber sie ist erst erkannt, wenn sie in uns da ist, wenn sie in uns eingegangen und uns innegeworden ist.

LeerWenn also einer etwas erkannt hat, dann ist ein Abstand aufgehoben und eine Trennung überbrückt. Es kann sein, daß dann ein weites Dazwischenliegendes durchwandert und Getrenntes zusammengekommen ist; daß eine Feindschaft zum Frieden gebracht und ein Zwiespalt geheilt wurde, eine Einsamkeit sich aufhob und Einkehr und Heimkehr geschah.

LeerDiesem Innewerden geht ein Bedingungssatz voraus: „So jemand will” und zwar: so jemand etwas tun will - nämlich Seinen, Gottes Willen tun will, einen ganz fremden, ganz uneinsichtigen und unbegreiflichen Willen, der zunächst gar nichts anderes für sich hat, als daß er da ist, allgewaltig und fordernd - aber doch auch nicht zwingend, sondern denen, die er fordert, die Freiheit lassend: „So jemand will”, das bedeutet, daß es auch jemanden geben kann, der nicht will und auf diese Bedingung nicht eingeht, sondern bei dem Seinigen bleibt, in-seinem Stand und Haus verbleibt und sich nicht hinausbegibt, weil der Weg fremd ist und jede Fahrt ihre Gefahren hat.

LeerErkenntnis also hat eine Bedingung: daß sich jemand auf den Weg mache, vielleicht auf einen ungeheuerlich fremden, gefährlichen, vielfältig bedrohten - und den Mut habe, eine Fahrt zu unternehmen, auf ihr sich etwas zu erfahren. Dazu gehört Wagemut, ein entschlossener und zu allem Unbekannten bereiter. Der Leichtsinn wird nicht genügen, sondern nur die ganze Leidenschaft, ja, die Passion, die Leidensbereitschaft einer brennenden Liebe, die das Ihre nicht behalten will, sondern ein ganzes Opfer zu bringen bereit ist.

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LeerDies ist die Bedingung der Erkenntnis: daß die unscheinbare, freundliche Vorsilbe inter demütig durchlebt werde und jemand sich „dazwischen” wage zwischen die unerkannten Dinge, die noch nicht heimlich geworden sind, sondern unheimlich und fremd vor uns liegen; daß also jemand sich hineinbegebe in ein inter-esse, ein „Dazwischen-Sein”, sich hingebe und verschenke. Also ist die Liebe die Bedingung der Erkenntnis.

LeerEs ist wohl keine große Verwechslung, wenn ein alter ehrwürdiger Satz danach abgewandelt wird: diligo ut intelligam - ich liebe, auf daß ich erkenne. Und es wird einer immer nur so weit erkennen, als er liebt.

LeerEs ist merkwürdig und wahrhaft würdig, gemerkt zu werden - daß noch im frühen Neuhochdeutsch und in der Sprache der Bibel das Wort „erkennen” zugleich die liebende Vereinigung bezeichnet.

LeerAber die Intelligenz hat eine noch höhere Bedingung - freilich eine Bedingung, die unserem Erkennen nicht mehr im Konditionalsatz, den wir befolgen könnten, vorausgesetzt wird, sondern sie ist ein „Prolog”, ein Vor-Wort zu jeglichem Wort der Erkenntnis.

LeerDiese Bedingung steht im Prolog zum Evangelium St. Johannis: „Die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christ worden.”

LeerDie Wahrheit, das „Unverhüllte”, wie die Griechen sagen, geschieht. Das, worauf alle Intelligenz letzten Endes aus ist, wonach alle Forscher suchen und das alle Liebenden lieben, das tritt hervor - oder es bleibt immer verborgen und bleibt hinter Riegeln, die keine Kunst öffnet und kein Zauber sprengt. Die Wahrheit tritt aus Türen hervor, die sich nur von innen öffnen. Wenn sie sich nicht mitteilen will, können wir keinen Teil an ihr haben und ihrer nicht innewerden. Alle unsere Räume würden immer leer bleiben, wenn sie nie hervorträte, ihre Geborgenheit aufgäbe, sich ihrer selbst entäußerte und sich hinausgäbe in ein finsteres Außen - wenn sie sich nicht selber darangäbe. Fast muß man sagen: wenn sie nicht von einer eigenen diligentia und intelligentia getrieben würde, von einer liebenden Erwählung und einer Leidenschaft, „dazwischenzusein”, sich darzubieten und dreinzugeben.

LeerDoch auf dieses Fragliche antwortet die Tatsache, daß das Wort „Wahrheit” neben sich das schlichte, aber zuweilen so gnadenreiche Copulativum „und” hat und auf diese schlichte und gnadenreiche Weise copuliert ist mit der Gnade. Die Wahrheit ist mit der Gnade verbunden. Die Wahrheit wird uns nicht ohne die Gnade zuteil. Die Gnade ist die Zuteilerin der Wahrheit.

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LeerWas aber das Wort „Gnade” bedeutet (und welches die Weise ist, in der die Wahrheit sich mitteilt), wird deutlich an dem schönen Vers Walthers von der Vogelweide über die untergehende Sonne: „Die Sonne will ins Meer genaden” - oder wie es auch sonst ehedem in der deutschen Sprache hieß: „Die Sonne geht zu Gnaden”. Darin drückt sich aus, daß „Gnade” von „neigen” und „nahen” abstammt. Jedermann weiß, daß dieses Wort dazu dient, das Liebevollste und Freudenreichste auszusprechen: Gott, der die Wahrheit ist, neigt sich hernieder und naht sich, der Unnahbare, und läßt sich finden von denen, die Ihn von ganzem Herzen suchen. Wenn irgendwo ein Licht brennt in der Finsternis dieser Welt, so ist es von diesem sich neigenden Lichte entzündet. Die Liebenden sind die Geliebten und die Erkennenden die Erkannten.

LeerDie griechische Sprache gibt noch einen anderen Ton in diese Harmonie der Worte. Sie nennt die Gnade charis: das bedeutet auch „Anmut” und ist der Freude und Freundlichkeit nahe verwandt; denn Liebe und Schönheit haben sich noch nie voneinander trennen lassen und haben immer jedermanns Herz erquickt.

LeerDieses Alles - es ist im Grunde ein Unaussprechliches - ist uns „geworden”. Es ist geschehen, ist unsere Geschichte geworden; es hat sich hingegeben, hineinbegeben in die Welt, in der wir sind. Oder mit anderen Worten aus dem gleichen Prolog gesagt: „Das Wort ward Fleisch” - derselbe logos, der der Ursprung ist jeglicher Intelligenz.

LeerWir haben also einen guten Grund, der Intelligenz den Ehrenplatz, der ihr gebührt, wieder einzuräumen; denn sie ist die von der ewigen Liebe dem Liebenden geschenkte Einsicht in die Offenbarung der Wahrheit und ein Widerschein der Anmut Gottes.

Quatember 1954, S. 35-37

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-02
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