Symbol   Quatember

Startseite
Inhalt
Inhalt 1954
Jahrgänge
Autoren
Suchen

Der Brief
von Wilhelm Stählin

LeerDer Schriftleiter unserer Blätter hat das letzte Heft des vorigen Jahrgangs als eine besondere Gabe zu meinem Geburtstag gestaltet, und eine Reihe von Mitarbeitern haben mit ihren Beiträgen dazu mitgeholfen, diesen Gedanken zu verwirklichen. Da dieser persönliche Anlaß damit ohnehin der privaten Sphäre entrückt und ein weiterer Kreis der Mitarbeiter und Leser daran beteiligt worden ist, darf ich wohl auch an dieser Stelle sagen, mit wie großer Dankbarkeit ich alle diese Stimmen, von dem Grußwort von D. Dibelius bis zu den persönlichen Erinnerungen, die Ritter als der Freund und Weggenosse vieler Jahre beigesteuert hat, in mich aufgenommen habe. In der Vielzahl der Briefe und Grüße, die mich zu diesem Tag erfreut haben, und in der auch dadurch erweckten Rückschau auf diese nun dahinten liegenden Jahrzehnte hat mich nichts so sehr bewegt wie der Eindruck, den fast alle diese sehr verschiedenartigen Briefe bestätigen, wie sehr bei der großen Verschiedenheit der Lebenskreise, in denen ich habe stehen und arbeiten dürfen, eine gemeinsame Linie erkennbar ist, die ohne einen eigentlichen Bruch von den Jahren der Jugendbewegung - viele Briefschreiber versicherten mir, daß der Verfasser von „Fieber und Heil” für sie eine entscheidende Rolle gespielt habe - über die Nürnberger Jugendgottesdienste und die akademischen Vorlesungen in Münster zu den Aufgaben einer kirchlichen Erneuerung führt, der ich als Bischof einer lutherischen Kirche dienen wollte, und der auch diese unsere Zeitschrift und mit ihr unsere gesamte Berneuchener Arbeit gewidmet ist. In gewissem Sinn ist unser Faltblatt „Was will Berneuchen?” nebenbei und ganz unbeabsichtigt ein Stück Autobiographie, oder anders herum gesagt: Es mündet nicht nur mein, sondern vieler Freunde langer und scheinbar oft gar nicht geradliniger Lebensweg in diesen Aufruf zum Dienst an der Kirche-, und der Bogen darf nicht weniger weit gespannt sein, ah es eben durch die Aufgabe leibhafter Verwirklichung der christlichen Existenz in unserem irdischen und geschichtlichen Raum gefordert und verheißen ist. Mein inniger und tief aus dem Herzen kommender Dank gilt allen denen, die durch ihre persönlichen Grüße, durch ihr Wort in dem Quatemberheft und nicht am wenigsten durch ihre Mitarbeit und ihre Mithilfe an der Festschrift „Kosmos und Ekklesia” bezeugt haben, daß sie bei aller beglückenden Verschiedenheit im Einzelnen auf dem gleichen Wege sind.

Linie

LeerIn unseren evangelisch-katholischen Gesprächen ergab sich einmal eine sehr lebhafte Debatte über die Frage, ob kirchliche Entscheidungen „reformabel” seien oder nicht; ob ihnen etwas von der Unwiderruflichkeit geschichtlicher Ereignisse anhafte, oder ob sie in einem späteren Punkt der Geschichte zurückgenommen, widerrufen und abgeändert werden könnten. Auch in dieser Frage ging, wie so oft, die Front der einander gegenüberstehenden Meinungen quer durch die beiden Konfessionen hindurch. Ich selbst vertrat die Meinung, daß alle echten geschichtlichen Entscheidungen irreformabel sind; sie sind selbst als ein mitbestimmender Faktor in die geschichtliche Entwicklung eingegangen und können in diesem Sinn weder zurückgerufen noch nachträglich geändert werden. Welchen Sinn hätte es, wenn wir heute etwa die Augsburgische Konfession von 1530 in den Punkten, in denen wir bestimmte Unklarheiten oder Unbestimmtheiten, bestimmte Lücken oder sogar den Ansatz bedenklicher Fehlentwicklungen zu erkennen meinen, revidieren und neu redigieren wollten? Wohl aber rücken solche geschichtlichen Fakten, unabänderlich und irreformabel wie sie sind, durch spätere Ereignisse in eine neue Beleuchtung, gewinnen sozusagen ein anderes Vorzeichen und üben als geschichtliche Faktoren eine andere Wirkung als zu der Zeit ihres Ursprungs aus. Daß wir - in beiden Zweigen der christlichen Kirche! - die Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts heute anders sehen, anders empfinden und anders darüber reden, ah das noch in unserer eigenen Lebenszeit, vor 30 oder selbst noch vor 10 Jahren denkbar gewesen wäre, das spüren wir - hoffentlich! - an jedem Reformationsfest. Aber ich will das, was diese Zeilen mehr allgemein und grundsätzlich andeuten, an zwei konkreten Beispielen verdeutlichen.

LeerIn den Tagen, in denen diese Zeilen geschrieben werden, jährt sich zum 400. Mal, daß in Genf auf Calvins Betreiben, jedenfalls mit seiner Billigung, Michael Servet als Leugner der Heiligen Trinität verbrannt wurde. Ich bin dem westfälischen Pfarrer dankbar, der mich auf diesen fragwürdigen Gedenktag aufmerksam gemacht und mich angeregt hat, dazu ein Wort zu sagen. Freilich: Welcher Art kann ein solches Wort überhaupt sein? Mit geschichtlichen Erinnerungen, wer der damals als Ketzer Verurteilte gewesen ist und mit welchen theologischen Begründungen ein Reformator wie Calvin die physische Austilgung eines solchen Irrlehrers für richtig und notwendig gehalten hat, nein, mit solchen Erklärungen würden wir uns ja nur auf die bequeme Position des zeitlichen Abstands zurückziehen und danach in der vornehmsten und wissenschaftlich anständigsten Form versichern: Ich bin es nicht gewesen, und ich halte es nicht für richtig, was damals geschehen ist. Das Recht zu solcher Selbstrechtfertigung ist mit jenem Wort von der Irreformabilität geschichtlicher Entscheidung nicht gemeint. Es ziemt uns vielmehr, uns dazu zu bekennen, daß wir an unserem geschichtlichen Ort in die gleiche Verantwortung für die reine Lehre, für die Verteidigung der Wahrheit, für die Überwindung alles falschen Denkens gestellt sind, und daß insbesondere die Frage nach dem rechten Verständnis der Dreieinigkeit Gottes unter uns neu erwacht und ah eine entscheidende Aufgabe theologischer Arbeit erkannt ist. Keine schwächliche Toleranz, die verständnislos vor der Calvinischen Leidenschaft steht und es überhaupt ablehnt, über solche Fragen des Glaubens ernsthaft zu streiten, wird jemals die Flammen dieses oder irgend eines anderen Scheiterhaufens auslöschen, sondern allein eine innigere Verbindung der gleichen Leidenschaft mit einer größeren Ehrfurcht und Liebe. Es ist durchaus eine Entwicklung zu denken, zu bejahen und zu fördern, die dahin führt, daß sich evangelische Christen keineswegs verlegen entschuldigen für das, was an Servet geschehen ist, sondern im Gedenken an alle die vielen Tausende, die, wenngleich weniger offenherzig und weniger fanatisch, aber eben doch auch den Glauben an die Dreifaltigkeit Gottes bei Seite setzen, mit um so größerer Inbrunst zu erfassen suchen, was jener Glaube meint und besagt. Würde in einer solchen trinitarischen Theologie nicht auch das Ereignis vom 25. Oktober 1553 ein anderes Vorzeichen und eine andere geschichtliche Bedeutung gewonnen haben?

LeerDas zweite Beispiel ist ganz anderer Art. Die Geschichte von der Austreibung der evangelischen Salzburger durch den Fürstbischof Firmian und die Aufnahme der Emigranten in Preußen und anderen deutschen Ländern ist in unser aller Erinnerung. Auch dieses gehört, wie es am Tage ist, zu jenen Entscheidungen, die nicht zurückgenommen werden können. Aber was bedeutet es nun, wenn bei der Feier des 75jährigen Bestehens der evangelischen Gemeinde in Salzburg der (selbstverständlich katholische) Landeshauptmann von Salzburg verkündete, daß das Land Salzburg künftig einigen Studenten, die sich als Nachkommen jener um des Glaubens willen Vertriebenen ausweisen können, Stipendien für ihr Studium an österreichischen Universitäten, und Kindern aus jenen Geschlechtern einen kostenlosen Ferienaufenthalt im Lande Salzburg gewähren will? Geschieht hier nicht offenbar etwas wirklich Neues, durch das jenes Ereignis in einen neuen und unserem konfessionellen Denken noch sehr ungewohnten Zusammenhang gefügt wird?

LeerDas alles will sagen: Die Frage nach der Widerruflichkeit oder Unwiderruflichkeil geschichtlicher Entscheidungen ist falsch gestellt. Die allein mögliche, vielleicht um so wichtigere Frage ist die, ob wir lebendig und bußfertig genug sind, an unserem Ort und in unserer Stunde Entscheidungen so zu fällen, daß sie nicht einfach wiederholen oder dem widersprechen, was früher einmal gesagt oder getan worden ist, sondern das unwiderruflich Geschehene, aber ebenso unwiderruflich Vergangene einem neuen Geschehen dienstbar zu machen.

Linie

LeerEin Briefwechsel: „Bei einem Amtsbruder habe ich die Blätter gesehen, auf denen Ihre 6 Sätze einer geistlichen Lebensordnung abgedruckt sind, und zwar die beiden Formen, den einfachen Druck und die schönere Karte, die Sie, wie ich höre, denen, die die Verpflichtung auf sich nehmen, als „Urkunde” aushändigen. Ich hätte nun zwei Fragen: sind diese Sätze nur für die Mitglieder des Berneuchener Dienstes bestimmt oder dürfen sie auch andere, die nicht zu Ihrem Kreis gehören, als ein seelsorgerliches Hilfsmittel gebrauchen? Allerdings scheint mir eine solche Verpflichtungsfeier, wie Sie sie anscheinend halten, der ganzen Sache zu viel Gewicht beizulegen; genügt es nicht, daß diejenigen, die das wollen, das Blatt mit diesen Sätzen unterschreiben und es dann entweder bei sich selbst aufbewahren oder es bei ihrem Pfarrer abgeben? Wäre diese schlichtere Form nicht entschieden vorzuziehen?” - Meine Antwort: Der Berneuchener Dienst hat niemals ein Monopol für die von ihm herausgegebenen Ordnungen begehrt; was von unseren liturgischen Ordnungen gilt, gilt selbstverständlich auch von diesen Sätzen einer geistlichen Verpflichtung. In meiner Schrift „Regel des geistlichen Lebens” (2. Auflage, Kassel 1950) habe ich diese Sätze in aller Öffentlichkeit ausgelegt und dabei auch die liturgische Form mitgeteilt, in der wir diese Verpflichtung vorzunehmen pflegen; damit steht jedermann die Benutzung frei. Allerdings würde ich vor der Art von Benutzung, wie sie Ihnen vorschwebt, mit der äußersten Dringlichkeit warnen. Der lebendige Vorgang einer persönlichen Verpflichtung mit Handschlag und Handauflegung kann in keiner Weise durch die Unterzeichnung eines Blattes ersetzt werden. Wir sind in Gefahr, alles zu einer papiernen Sache zu machen. Meine Angst um unsere Kirche verstärkt sich, wenn ich sehe, daß man den Unterschied zwischen einem liturgischen Handeln als einem geistlichen Geschehen und dem Einsammeln unterschriebener Formblätter nicht mehr ernst nimmt. Um es scharf und hart zu sagen: Sie wollen den schmerzhaften Vorgang einer Geburt durch die Eintragung in ein Geburtsregister ersetzen; hier braucht freilich niemand Angst zu haben oder Schmerzen auszustehen, hier fließt kein Blut und es wird kein Leben riskiert; aber es ist eben auch in Wahrheit nichts geschehen, als daß auf einem Blatt Papier etwas steht, was bisher nicht da gestanden hatte.

LeerIch warne vor diesem Verfahren, das in Wahrheit gar nicht „schlicht”, gar nicht einfältig ist.

Linie

LeerBis in den Raum der Politik hinein erfahren wir, wie sehr heute von unzähligen Menschen das rechte Miteinander und die gemeinsame Verantwortung der beiden großen Zweige der christlichen Kirche als eine Notwendigkeit und als eine besondere Aufgabe und Möglichkeit unseres Geschlechts empfunden wird. Dabei werden wir immer wieder vor den beiden Irrtümern und Irrwegen warnen müssen: vor einer verfestigten Frontstellung, die ständig in der Abwehr und im Nein verharrt, und mindestens ebenso vor einer schwärmerischen Verbrüderung, die so tut, als ob wir im Grunde schon alle einig und aus der Ausgabe, die wir aneinander haben, entlassen wären. Was uns aber in keinem Fall und auf keiner Seite verwehrt, vielmehr geboten und aufs Gewissen gelegt ist, das ist das Gebet für die Einigkeit der Einen Heiligen, Katholischen und Apostolischen Kirche. Es freut uns zu wissen, daß das Gebet um die Einigkeit der Kirche, wie es im Mittagsgebet des Donnerstag (in unserem Stundengebet) enthalten ist, auch in katholischen Häusern gerne gebetet wird, und viele werden sich mit uns freuen, daß es jetzt ein „Gebetsblatt” „um die Wiedervereinigung im Glauben” gibt, das mit allem Bedacht so formuliert ist, daß es von evangelischen und katholischen Christen in der gleichen Weise gebraucht werden kann. (Die beiden Ausgaben, eine evangelische und eine katholische, unterscheiden sich nur in dem Wortlaut der darin enthaltenen Bibelstellen, die jeweils in der dort und hier vertrauten Textfassung wiedergegeben sind. 5 Bibelstellen und 4 kürzere oder längere Gebete, von denen wir eines an anderer Stelle dieses Heftes wiedergeben. Das Blatt ist durch Dr. phil. Paul Hacker in Münster i. W., Weselerstraße 95 zu beziehen; das Blatt kostet unter 10 Stück je 7 Pf., 11-300 Stück je 4 1/2 Pf., 300-1000 Stück je 4 Pf.; Bezahlung durch Postanweisung oder auf Konto 13472 bei der Sparkasse der Stadt Münster.)

Quatember 1954, S. 58-61

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-02
Haftungsausschluss
TOP