Startseite
Inhalt
Inhalt 1954
Jahrgänge
Autoren
Suchen


Das Bärenreiterwerk - Haus unterm Stern
(Nach einem Menschenalter VI)
von Wilhelm Thomas

LeerWir stammen väterlicherseits beide aus dem Bauhandwerk, Hatten meine Vorfahren im Grabfeld und auf der bayerischen Seite des Vogtlandes Dorf- und Stadtbauten mannigfaltiger Art geschaffen, so hatte Karl Vötterles Vater in meiner Geburtsstadt Augsburg als Wasserbub begonnen und das Maurerhandwerk erlernt, um dann der Stadt als technischer Werkmeister zu dienen. Er versorgte auf seine alten Tage, als ich Vater und Sohn kennen lernte, als Feierabend-Beruf eine kleine Stadtrand-Landwirtschaft, während der noch nicht volljährige Sohn 1923 den Grundstein zum „Bärenreiter-Verlag” legte. „Bauleute sind wir alle, und Bausteine zugleich in Gottes Hand”, so schrieb mir der 46jährige, als das bei Kriegsende zerstörte Verlagshaus in Kassel wieder aufgebaut war. Wie wichtig, wenn die Bauleute sich nicht wie kleine oder große Götter vorkommen, sondern wissen, daß sie - zugleich - Baumaterial in einer höheren Hand sind!

LeerDas Kernstück des Bärenreiter-Werks, der Musikverlag, ist herausgewachsen aus der Singearbeit im Wandervogel und in der (von der Jugendbewegung ergriffenen) kirchlichen Jugendarbeit. Zuerst entstand ein Singbuch, das wie eine Zeitschrift Stück für Stück aufgenommen werden konnte („Finkensteiner Blätter”), dann Einzelausgaben alter und neuer Musizier-Literatur - schon in diesem Stadium ist die innerhalb des Musikalienhandels revolutionierende Tatsache einer geschmacklich gepflegten Gestaltung aller Veröffentlichungen bemerkenswert -, dann große, grundlegende Werke, deren Auslandsabsatz schon wirtschaftspolitisch ins Gewicht fällt. Neben der Pflege der Hausmusik steht die Pflege der gottesdienstlichen Musik, gekennzeichnet neben dem Chorgesang durch die Orgelbewegung. Die beiden Bücher, die das evangelische Kirchentum deutscher Sprache in der Zukunft zu prägen bestimmt sind, das „Evangelische Kirchengesangbuch” und die kommende lutherische Agende, sind ohne die weitschauende Vorarbeit im Bärenreiter-Verlag undenkbar.

LeerDaß es sich bei dieser Musikpflege immer um ein Teilstück einer „neuen Schau” des kulturellen Lebens überhaupt handelt, wurde in der gleichzeitigen Pflege künstlerischen, literarischen und wissenschaftlichen Schaffens deutlich, den heimatgebundenen Dienst an der niederhessischen Landschaft nicht zu vergessen. All diese Zweige der Arbeit, aus geschichtlichen Gründen teilweise in sich selbständig entwickelt, sind im Begriff des „Bärenreiter-Werks” und in der Gestalt der Häuser an der Heinrich-Schütz-Allee zu Kassel-Wilhelmshöhe zusammengefaßt.

Leer„Haus unterm Stern” hat Karl Vötterle das genannt, was ihm aufzubauen vergönnt war. Der Stern, von dem er spricht, ist der Bären-Reiter, das Reiterlein auf der Deichsel des „Wagens”, der nur mit guten Augen sichtbare Stern Alkor im Großen Bären. Auf nächtlicher Wandervogelfahrt war dem Elfjährigen dieser Stern in einer ersten Vorahnung zum Bild seiner Lebensaufgabe geworden. „Haus unterm Stern” soll nicht etwa sagen, daß der Bärenreiter-Verlag während der fünfundzwanzig Jahre seines Bestehens - so heißt es in einem damaligen Gedenkblatt - „unter einem ‚guten Stern’ gestanden hat, sondern daß auch wir, wie die Hirten zu Bethlehem und die Weisen aus dem Morgenland, den Stern brauchen, der uns führt. Einst war es jugendliche Unbefangenheit, die den Jüngling nach den Sternen greifen ließ; heute ist der Stern über dem Bären für uns, die wir zusammen werken, das verpflichtende Sinnbild unserer Arbeit.”

Linie

LeerDer Bärenreiter-Verlag ist ein Gemeinschaftswerk von Menschen der Jugendbewegung, in dem sich drei Dinge vereinen: was man heute ein Arbeitsteam nennt, eine Werkgemeinschaft von Menschen, die in jungen Jahren zueinander gefunden haben, die Einbettung dieses Teams in die geistige und vitale Welt einer umfassenden und mehrschichtigen Bewegung im deutschen Raum und die Leitung dieses so in das kulturelle .Leben eingebetteten Gemeinschaftswerkes durch das persönliche Unternehmertum eines Mannes, der aus den kleinsten Anfängen sein Unternehmen durch schwere Krisen zu europäischer Geltung emporgeführt hat.

LeerDie Werkgemeinschaft im Haus unterm Stern hat ihre Gestalt natürlich in jedem der drei Jahrzehnte ihres bisherigen Bestehens immer wieder gewandelt. Wenn ich aus ihrer Mitte hier nur zwei Namen nenne, so nur, weil diese mir nähergetreten sind: Richard Baum und Paul Gümbel. Ich will aber hinzufügen, daß die Frauen dieses Arbeitskreises wahrscheinlich für seinen Zusammenhalt nicht weniger wichtig waren als die Männer. Am eindrücklichsten steht .die Geschlossenheit dieser Gruppe werktätiger Menschen vor uns in der Schilderung, die Karl Vötterle in einem Bericht für seine Freunde über den Wiederaufbau der Verlagsruine von 1945 bis 1948 gezeichnet hat.

LeerDer Mutterboden, in dem das junge Verlagswerk sein erstes Wachstum gewonnen hat, war jener Flügel der Singbewegung, der in Mähren seinen Ursprung nahm (Walther Hensel, Finkensteiner Bund), dann zunächst in Schlesien und Süddeutschland und hier vor allem auf evangelischem Boden Vorkämpfer fand (Wilhelm Hopfmüller, Ernst Schieber) und heute längst in eine kulturelle und kirchliche Gesamtwirklichkeit eingegangen ist, für die wir noch keinen Namen haben und die wir hier nur als den Gegenspieler zu den politisch-totalitären Tendenzen von links und rechts vor und nach 1933, vor und nach 1945 kennzeichnen können. In großer Aufgeschlossenheit diente der Bärenreiter-Verlag samt den ihm im Lauf der Zeit angegliederten Verlagen dieser Gesamtentwicklung: im Musikverlag (von Johann Walter und Heinrich Schütz bis zu wesentlichen Kräften der Gegenwart), im Kunstverlag (von Karl Thylmann über Rudolf Koch bis zu Helmuth Uhrig), im kirchlichen Buchverlag (von Neuwerk bis Berneuchen). Daneben gehen die handwerklichen Künste des Instrumentenbaues und anderes mehr.

LeerDiese Vielgestaltigkeit ist manchmal als eine geschäftstüchtige Wendigkeit gedeutet worden, der die letzte, elementare Bindung an einen geistigen Auftrag fehle. Wir sehen es anders. In kritischen Stunden unsrer geistigen Entwicklung ist hier alles aufs Spiel gesetzt worden - um des übernommenen Auftrags willen.

LeerEs war in der ersten Phase des noch nicht organisierten Kirchenkampfes. Vielleicht besitzt irgend jemand von unseren Lesern noch eines jener Flugblätter der „Kämpfenden Kirche”, die einen ersten Wall gegen die Wirrnis der aufkommenden kirchlich-politischen Auseinandersetzungen aufzuwerfen versuchten. In jener Stunde - wie wenig kulturell bedeutsame Namen haben damals zur Verfügung gestanden für ein Losungswort des sich sammelnden Widerstandes gegen die politische Überfremdung der Kirche! Karl Vötterle spürte die Verantwortung des Verlegers. Er entwarf selbst mit Martin Niemöller, Wilhelm Stählin und uns anderen Flugblätter der Kämpfenden Kirche. Freilich kam sehr bald die Einsicht, daß das Flugblatt den Kirchenkampf leicht auf die Ebene einer parteipolitischen Werbung herabzog, und aus der „Kämpfenden Kirche” wurde eine Zeitschrift, die gar nicht mehr nach außen hin kämpfte, sondern zur Einkehr und Besinnung auf das Wesentliche zu verhelfen suchte.

Linie

LeerDoch zog sich der Verlag damit nicht aus der Gefahrenzone zurück. Das kirchliche Wochenblatt des Verlages, das später dem angegliederten Johannes Stauda-Verlag das Zeichen des Christusankers gab, der „Sonntagsbrief”, trug ihm und dem ihm freundschaftlich verbundenen Schriftleiter Paul Gümbel - aus Anlaß einer biblischen Betrachtung über die rechte Pflege „lebensunwerten” Lebens (Wochenspruch des 12. Sonntags nach Trinitatis) - den Ausschluß aus der Reichspressekammer und damit ein Verlagsverbot ein, das nur - wiederum in gewagtem persönlichem Einsatz - durch die Aufteilung des Gesamtverlages in einen Musikverlag (Bärenreiter-Verlag) und einen kirchlichen Verlag (Johannes Stauda) gemeistert werden konnte.

LeerWir sind mit diesen Erinnerungen schon zu der Würdigung des persönlichen Anteils Karl Vötterles innerhalb des ganzen Bärenreiter-Werks übergegangen. Es hat - gerade in kirchlichen Kreisen - manchmal an Verständnis dafür gemangelt, daß dieses ausgesprochene Gemeinschaftswerk in der Rechtsform persönlichen Unternehmertums auftritt. Freilich muß solches Unternehmertum, wenn es nicht privatkapitalistisch entarten soll, um innere Bindungen wissen, die ihm Richtung, Umfang und Art der Arbeit vorschreiben. Wo diese Bindungen beim Bärenreiter-Werk liegen, hat Karl Vötterle selbst ausgesprochen, als die Theologische Fakultät Leipzig 1953 dem philosophischen Ehrendoktor von Kiel den theologischen hinzufügte und der also Geehrte in seinen Dankesworten erkennen ließ, daß er etwas wisse „vom Amt des Verlegers in der Kirche”: „Wie soll dieser Beruf anders einen Sinn haben als in seiner Ausübung als Glied der Kirche? Das hängt aber nicht nur vom Glied, also vom Verleger ab, die Kirche muß den Verleger als Glied wirken lassen und nicht nur als Gottesdienstbesucher und Steuerzahler ernst nehmen, sie muß ihm seine Funktionsausübung ermöglichen.”

LeerStärker noch als im allgemeinen kulturellen ist im kirchlichen Bereich die persönliche Initiative des Verlegers durch den Behördensozialismus der verantwortlichen Körperschaften bedroht. Ich hoffe, Karl Vötterle hat das als notwendige Begleiterscheinung innerhalb der Erneuerung unserer Kirche verstanden, in der beides, die Selbständigkeit der Glieder und die Bindung der Glieder ans Ganze, neu erkämpft, erlebt, gewonnen werden muß. Wir sind ihm dankbar, daß er das Bild des in eigener Verantwortung wirkenden Laien auf seinen Wirkungsfeldern des Verlagswesens, der Kulturpolitik und der kirchlichen Arbeit klug und unerschrocken hochgehalten hat.

Leer„Bauleute sind wir alle, und Bausteine zugleich in Gottes Hand.” Wir wünschen es dem Haus unterm Stern, daß, die daran bauen, weiterbauen dürfen im Dienst an Kirche und Volk und sich selbst darüber einbauen lassen in das „Haus, von Gott gebaut”.

Quatember 1954, S. 92-94

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-18
Haftungsausschluss
TOP