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Evangelisch-katholisch
von Karl Bernhard Ritter

LeerWenn wir im Brief an die Epheser lesen: „Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid auf einerlei Hoffnung eurer Berufung. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater unser aller, der da ist über euch allen und durch euch alle und in euch allen” (4, 4-6), so spricht dieser Satz nur aus, was einhellige und unbezweifelbare Überzeugung der Apostel und Lehrer und der ganzen Gemeinde des Neuen Testamentes ist: das Evangelium als die Botschaft von dem totalen und universalen Heil, das in Christus der Welt geschenkt ist, und die Katholizität der Kirche gehören untrennbar zusammen. „Evangelisch” heißt immer zugleich und ganz unvermeidlich „Katholisch”. Das Gebet des Herrn „auf daß sie alle eines seien, wie du Vater in mir und ich in dir” (Joh. 17, 21) findet seine Antwort in der Feststellung der Apostelgeschichte, die eine Regel für alle Zeiten aufstellt: „sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet” (Apg. 2, 42). Wenn der Apostel Paulus gegen die Spaltungen in der Gemeinde in Korinth mit Leidenschaft kämpft, so spricht er von der Christenheit als dem einen Tempel, in dem der Geist Gottes wohnt (1. Kor. 3, 16), und von der Einheit und Katholizität der Christenheit: „Es ist alles euer, es sei Paulus oder Kephas oder die Welt, es sei das Leben oder der Tod, es sei das Gegenwärtige oder das Zukünftige, alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes” (1. Kor. 3, 22-23). Alle Bilder, in denen das Neue Testament von der Kirche spricht, sind Aussagen über ihre Einheit in der katholischen Fülle und Mannigfaltigkeit ihrer Lebensentfaltung.

LeerEs entspricht darum auch der selbstverständlichen Glaubensüberzeugung der in Augsburg Bekennenden, wenn sie in der Vorrede zu ihrem Bekenntnis den Entschluß und die Bereitschaft aussprechen, „eines jeglichen Gutbedünken, Opinion und Meinung zwischen uns selbst in Lieb und Gütigkeit zu hören, zu verstehen und zu erwägen, und dieselben zu einer einigen christlichen Wahrheit zu bringen und zu vergleichen, alles, so zu beiden Seiten nicht recht ausgelegt oder gehandelt wäre, abzutun, und durch uns alle eine einige und wahre Religion anzunehmen und zu halten, und wie wir alle unter einem Christus sein und streiten, also auch alle in einer Gemeinschaft, Kirchen und Einigkeit zu leben”. Und mit der gleichen Selbstverständlichkeit beginnt darum auch der Artikel VII ihres Bekenntnisses mit seiner Lehre über die Kirche: „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit müsse eine heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Gläubigen.”

LeerIn schroffem und verhängnisvollem Gegensatz zu dieser Haltung und Glaubensüberzeugung hat sich im Verlauf der konfessionellen Kämpfe die Neigung herausgebildet, nur noch in ausschließenden Gegensätzen zu denken, einseitig polemische Aussagen zu verabsolutieren und so auseinanderzureißen, was als die beiden Seiten derselben Sache zusammengehört. An die Stelle eines Denkens, das die Einheit in der Verschiedenheit zu fassen und durchzuhalten vermag und sich eben dadurch als reales, der Wirklichkeit erschlossenes Denken ausweist, ist ein Denken getreten, das nur noch einander entgegengesetzte Pole kennt und dadurch in einer abstrakten Begrifflichkeit verharrt, der die Anschauung der Wahrheit und Wirklichkeit fehlt.

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LeerEin besonders krasses Beispiel für diese Erkrankung des Denkens bietet die Tatsache, daß selbst die beiden für die Kirche grundlegenden Begriffe „evangelisch” und „katholisch” gemeinhin als einander ausschließende Gegensätze betrachtet und im üblichen Sprachgebrauch fast nur noch zur Bezeichnung dieser Gegensätzlichkeit gebraucht werden.

LeerDazu lesen wir bei Karl Barth (Kirchliche Dogmatik IV, 1., Seite 784, § 62): „Die Reformation und noch die evangelische Theologie des 17. Jahrhunderts haben sich den Anspruch auf die Katholizität ihrer Sache dadurch nicht verleiden lassen, daß sie von der römischen Kirche gerade unter diesem Titel so heftig bekämpft wurden. Und in England hat sich die Abneigung, gerade auf dieses Wort zu verzichten, nicht nur im Anglikanismus, sondern bis hin zu den Kongregationalisten bis auf diesen Tag erhalten. Der Verzicht darauf ist tatsächlich unmöglich. Kirche ist katholisch oder sie ist nicht Kirche. Es war ein Zeichen höchster Gedankenlosigkeit und Schwäche auf unserer Seite, als man den Sprachgebrauch einreißen ließ, demzufolge wir dieses Wort als Selbstbezeichnung heute in der Hauptsache den Römischen überlassen, uns selber also - und das womöglich noch mit Nachdruck und Lust! - als Akatholiken, Häretiker, Schismatiker, Sektierer charakterisiert haben, so daß es bei uns schlimmste Beschimpfung bedeutet, wenn man jemandem ‚katholisierende’ oder gar katholische Tendenzen nachweisen oder doch nachreden zu können meint. Als ob eine ordentliche Kirche und Theologie eine andere als eine - nicht nur „katholisierende”, sondern allen Ernstes katholische Tendenz überhaupt haben könnte l”

LeerDanach ist also die Tatsache, daß man sich bei uns weithin abfindet mit der Kirchentrennung und sie als eine Gegebenheit hinnimmt, wofür der Verzicht auf das Wort „kathoIisch” ja nur der kennzeichnende Ausdruck ist, Verrat an Sinn und Geist der Reformation. letztes Ziel alles echten kirchlichen Handelns kann niemals die Verteidigung partikularer und konfessioneller kirchlicher Sonderbildungen sein, sondern ausschließlich die Erneuerung; und Einigung der einen evangelischen und katholischen Christenheit. Es kann niemand „evangelisch” sein, ohne „katholisch” zu sein. Ebenso aber gilt natürlich mit dem gleichen Ernst, daß niemand „katholisch” sein kann, ohne „evangelisch” zu sein. Denn ohne die Bindung an das Evangelium wird die Katholizität der Kirche zu einem universalen Herrschaftsanspruch ohne echte geistliche Vollmacht. Das „Alles ist euer” gilt immer nur zusammen mit dem „ihr aber seid Christi”. Die Katholizität der Kirche ist recht verstanden identisch mit dem alleinigen und universalen Herrschaftsanspruch Christi. Christus aber ist der Herr des Evangeliums und übt seine Herrschaft durch nichts anderes aus als durch dies sein Evangelium. Der katholische Auftrag der Kirche ist darin beschlossen, daß sie dieser unserer Freiheit und unser Heil wirkenden Herrschaftsübung Christi dient.

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LeerDie Reformatoren haben das Summepiskopat und alle ihre Kirchenordnung als Notlösung empfunden. Noch nie aber, stellt der Kirchenhistoriker Ernst Benz fest („Bischofsamt und apostolische Sukzession”), „ist ein Notzustand in der Geschichte so rasch legalisiert und in Paragraphen gebracht worden, wie dies beim landesherrlichen Summepiskopatsrecht der Fall war”. Seitdem aber „die Führer der Reformationskirchen keine Nötigung mehr empfanden, dem inneren Wesen der Kirche auch in einer verfassungsmäßigen Fixierung der Freiheit der Kirche Ausdruck zu verleihen”, hat sich die verhängnisvolle Neigung entwickelt, wie in der jüngsten Vergangenheit an dem Beispiel der Bruderräte abzulesen ist, Notlösungen grundsätzlich theologisch zu unterbauen und zu einem Prinzip kirchlicher Gestaltung zu machen. Es ist aber nicht erlaubt, aus der Not eine Tugend zu machen und mit der Feststellung, daß die Ordnung der Kirche nicht „heilsnotwendig” ist, die Unordnung zu rechtfertigen und den Verzicht auf Herstellung einer wesensgemäßen Ordnung zu begründen.

LeerEs ist nicht erlaubt, durch eine spiritualistische Theologie den Geist vom Leib der Kirche zu trennen und die notwendige Verbindung beider, auf die das zitierte Wort des Epheserbriefes „ein Leib und ein Geist” hinweist, nicht ernst zu nehmen. Der Kampf gegen jegliche Gesetzlichkeit, das heißt die Behauptung der Heilsnotwendigkeit von Formen und Ordnungen, fordert den ebenso entschiedenen und wachsamen Kampf gegen jegliche Art von Schwärmertum, das durch die spiritualistische Entwertung und Auflösung aller geschichtlichen Gestaltwerdung und verbindlichen Form in Lehre, Kultus und Verfassung die Kontinuität des geschichtlichen Lebens der Kirche aufhebt, eine echte Tradition ihres geistlichen Gehalts unmöglich macht und so die Katholizität der Kirche völlig zerstört, weil sie mit unaufhaltsamer Folgerichtigkeit die Kirche in einen zusammenhanglosen Haufen von Denominationen und sektenhaften Gebilden aufsplittert.

LeerDie evangelische Kirche verrät den ihr durch die Reformation zugefallenen Auftrag an der ganzen Christenheit, wenn sie sich lediglich gegen die römische Häresie verteidigt und abgrenzt, statt im Gegenteil gegen die sektenhafte Erstarrung und Abschließung Roms, seine Verabsolutierung einer gegenreformatorischen, aus der polemischen Selbstbehauptung stammenden Sonderform zum hilfreichen Angriff vorzugehen. Freilich kann nur eine evangelische Kirche dieses ihr gesamtkirchliches Wächteramt gegenüber der römischen Kirche ausüben, wenn sie sich selbst nicht nur als katholische Kirche versteht, sondern ihre Katholizität auch in allen ihren Lebensformen und Lebensäußerungen glaubwürdig lebt.

LeerSie macht sich dagegen für diesen ihren Auftrag gänzlich unfähig, wenn sie auf die ganze Fülle und Weite des biblischen und katholischen Erbes verzichtet und ihrerseits einen beschränkten und zeitbedingten, durch die konfessionelle Polemik geprägten Sondertypus christlichen Glaubens und christlicher Frömmigkeit verabsolutiert, wie es u. a. in der Selbstbezeichnung als „Kirche des Worts” geschieht. Auch die erschreckende Neigung gehört hierher, das Neue Testament selbst schon mit einer konfessionellen Brille zu lesen und also z. B. die „frühkatholischen” Ansätze im Neuen Testament als für uns nicht mehr verbindlich aus dem Kanon auszuklammern.

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LeerAn die Stelle des apostolischen: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi” ist das „Aber nichts ist euer, was katholisch ist” getreten. An die Stelle der apostolischen Freiheit, die denen, die Tage halten, und denen, die keine Tage halten, denen, die essen, und denen, die nicht essen, nebeneinander Raum gibt (Röm. 14), ist eine ängstliche Ablehnung aller mannigfaltigen und reichen Möglichkeiten geistlicher Übung, Askese, kultischer Gestaltung, Lebensordnung und Formung getreten, die nicht dem eigenen sehr partikularen Typus protestantischer Gemeindefrömmigkeit entspricht. Die negative Gesetzlichkeit („dieses oder jenes darf nicht geschehen”) ist aber genau so dem Evangelium zuwider wie die positive Gesetzlichkeit, gegen die Luther zu seiner Zeit den Kampf aufgenommen hat.

LeerDer Verzicht auf den ständigen Nachweis der Katholizität ihrer Aussagen läßt die Theologie des Protestantismus ständig von extremen und einseitigen Thesen zu ebenso extremen und einseitigen Gegenthesen weiterschreiten, läßt die Kraft zur zusammenfassenden Darstellung der Lehre erlahmen und fördert die Neigung, jeweils bestimmte theologische Schulen als die Inhaber der ganzen Wahrheit anzusehen. Die Lehre der Kirche wird den wechselnden Zeitströmungen ausgeliefert.

LeerSolange das Bischofsamt der „evangelischen” Kirche sich nicht in seinem katholischen Charakter und Auftrag versteht, wird es nicht über den Präsidentenstuhl partikularer und in ihrer Verantwortung und Vollmacht problematischer Kirchenbehörden hinauswachsen.

LeerWenn der Kirchenhistoriker Benz feststellen muß: „Im Vergleich mit der universalen Fülle des charismatischen Lebens, das noch die spätmittelalterliche Kirche aufzuweisen hatte, stellt das Leben der Reformationskirche trotz aller ‚reinen Lehre’ eine auffällige Verarmung dar”, so ist das eine erste beklagenswerte Folge des Verzichts auf Katholizität. Denn „auf dem dürren Boden des Landeskirchentums und des landesherrlichen Summepiskopats konnten sich nur zwei christliche Lebenstypen entfalten: der Pastor und der Professor”. Als dann 1918 das landesherrliche Summepiskopat zusammenbrach, war die Hilflosigkeit der Landeskirchen nicht mehr zu überbieten. Die beliebte Behauptung, der Verzicht auf eine ihrer Aufgabe gewachsene Hierarchie gehöre nun einmal zu der „evangelischen Knechtsgestalt” der Kirche, ist nichts als eine bequeme Flucht aus der hier gestellten Aufgabe grundsätzlicher Besinnung und praktischer Gestaltung.

LeerWir kämpfen um die Geltung und Anerkennung des Bekenntnisses unserer Kirche „credo unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam”, wenn wir um die Freiheit kämpfen, mit Bewußtsein, Verantwortung und Hingabe katholische Christen sein zu dürfen.

Quatember 1954, S. 157-159

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-18
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