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Michael und die Deutschen
von Joseph Bernhart

Erzengel Michael bekämpft den DrachenLeerVoll Kraft und Ernst hat der junge Albrecht Dürer seine Bilder zur Offenbarung Johannis gezeichnet. Nach dem zwölften Kapitel des Buches schildert er Michaels Sieg über den Satan. Tausend und tausendmal war der Gegenstand gestaltet worden, oft mit überwältigender Hoheit - so, wenn der Engel den Feind nur mit dem Blick seines Auges stürzt -, hier ist aber etwas eigen Neues. Über der Landschaft tobt im Helldüster einer lichtdurchschossenen Wolkenwand die überweltliche Schlacht der Geister. Beherrschend hebt sich, auf seinem Opfer stehend und den gewaltigen Stoß vollführend, der Überwinder hervor. Ist je ein Engel in solcher Mühsal gewesen? Sein Haar ist wirr, das Gesicht ist drangvoll und gespannt. Es sieht nicht auf den Drachen, es bohrt diese Augen in eine ferne Höhe, nur dem verbunden und vertrauend, „was droben ist”. Indessen trifft der Stoß den Teufel. Auch er, rücklings liegend, sieht den Himmel, aber er stiert zu seiner Qual hinauf in die verlorene Herrlichkeit, hinauf zu seiner Qual, denn das Licht wird sein Gericht.

LeerAlles Gemenge und Getöse in dem Bild wird überboten von der stillen Mächtigkeit dieses Geistes, der - in der Drangsal gottwärts schauend - erdwärts sein großes Werk ausrichtet. Dürer mag Persönlich-Eigenes und wohl auch ein Zeitgefühl, das in diesen Jahren den Deutschen erfüllte, hier mitgestaltet haben. Sei es wie immer: das Bild ist auch ein Glaubenswort des herzhaften Christen, der er war. Es steht in seiner Kraft und Innigkeit um so größer da, als Michael dem deutschen Volke eben damals aus dem Herzen schwand. Schon begann sein Tag, wie bald darauf Luther klagte, „ein lauter abgottisch Fest” zu werden. Zwar hielt das ältere Luthertum an seiner Verehrung fest, ja Melanchthon verfaßte ihm sogar einen Lobgesang, aber außerhalb der katholischen Kirche, wo er wenigstens in Kult und Frömmigkeit eine feste Größe blieb, versank er dem lebendigen Bewußtsein immer mehr und mehr.

LeerWas aber war er dem deutschen Volke, der germanischen Welt überhaupt gewesen? Die volle Antwort ist von einer künftigen deutschen Volksgeschichte zu erwarten, die auch den großen inneren Antrieben aus dem glaubenden Grunde der Seele nachgeht. Dann wird sich der Erzengel als eine Macht von ungeheurer Wirkung in unserer Geschichte enthüllen. Denn wie das Mark im Baume ist auch in Menschen und Völkern das Innerste, Zarteste, Verborgenste gerade dasjenige, was eigentlich das Leben ausmacht. Immer ist das Allerwirklichste etwas der Sinnlichkeit Entrücktes, ist das Eingreifendste etwas Unergreifliches und kommen unsere Taten aus dem, was unsere Seele geheimnisvoll im Glauben schon vorweg besitzt. Schwerlich findet sich in aller Geschichte ein Volk, das so wie unser deutsches durch das Jahrtausend seines unzerfallenen Glaubens sich ein Geschöpf des Himmels zu Herzen nahm. „Du gleichst dem Geist, den du begreifst” - wenn das Wahrheit ist, so zeugt die Geschichte Michaels in unserem Volke auch für den Sinn und den Beruf dieses Volkes, seine Kraft mit Adel und mit Hoheit zu gebrauchen und nicht abzulassen von dem Stoße gegen die „uralte Schlange”, die auch ihm aus der eigenen Tiefe mit Verderben droht.

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LeerWie kam es zu diesem deutschen Bunde mit dem Engel „Wer wie Gott?” Wie gewann uns der alte Schutzgeist des biblischen Volkes unter seinen Fittich?

LeerIm Alten Testament ist zum ersten Mal im Buche Daniel der Name des Erzengels genannt. Das Neue Testament kennt ihn als den Führer aller unsichtbaren Geister, als Rechtswalter Gottes, als Anführer im Kampfe gegen die Widersacher des ewigen Herrn und seiner Ordnung. So lebt er auch im altchristlichen Bewußtsein: als der Engel der Tat zur Auseinanderscheidung von Gut und Böse, der sittlichen Krise zwischen Sein und Nichtsein. Wo es in der Schöpfung zwischen Gottes Gesetz und dem Gottgelüst der Naturen hart auf hart geht, ist der Ort seines Eingriffs im Namen Gottes, der Seine Vorsehung über die Kreaturen auch durch Kreaturen, die erhabensten vor allen, wirken kann. Er ist der Engel der Geschichte, also des Geschehens aus handelnder Freiheit, und er ist es in einem tieferen Sinn, als ihn je ein altes Volk irgendeinem seiner überirdischen Führer zugeschrieben hat. Von den heiligen Urkunden selbst als übermenschliche Persönlichkeit dargestellt, ergreift er mit der Ausbreitung des Christusglaubens das Völkerleben als der Bannerherr des neuen Volkes Gottes, das der Herr aus allen Völkern sich beruft. Nach ewigem Menschenrecht verleihen ihm die Menschen auch den sinnlichen Ausdruck seiner geistigen Wesenheit: der Unräumliche empfängt die Flügel der behenden Raumbeherrschung, der gottgewillte Geist die Waffe gegen das Tier der Dämonie, der Seelenprüfer die Waage der Gerechtigkeit.

LeerSo in stofflicher Verkleidung zugleich seine geheime Natur enthüllend, geht er ein ins geschichtliche Leben Vorderasiens und Europas. Vieles, was an Mythos, Sage und Brauchtum vorher schon gewesen war, heftet sich jetzt an seine Gestalt. Dieser Vorgang ist natürlich und nur einer von den Fällen, wo menschlicher Urschatz von Ahnung und Seinsverstehen dem übernatürlichen Offenbarungsstrom sich verbindet. Solche Zufuhr aus fremden Religionen, bei der das Wort der Offenbarung das feste Maß der Dinge bleibt, ist laut dieser Offenbarung selbst im göttlichen Plane gelegen. Wenn nun gerade Michael das Erbe alter Mythen, Kulte und Bräuche antritt und manchen alten Gott verdrängt, so überrascht uns die Wahrheit, daß er in alledem sein biblisches Antlitz bewahrt. Morgenschön und herrlich bleibt er der gleiche am Bosporus wie auf den britischen Inseln, im Frankenreiche wie bei den Normannen und Langobarden, in Spanien wie in Altlivland und Nowgorod.

LeerAm tiefsten ist er den nordischen Völkern ins Herz gedrungen. Das hätte nicht geschehen können, wäre nicht Verwandtes in ihnen zum Empfang bereit gewesen. Sagt man, das war der streitbare Sinn, der heroische Einsatz der Ichkraft für das, was mehr und höher ist als das Ich, so trifft man das Rechte, wenn dieses Höhere als ein unsichtbares Reich des Guten und Vollkommenen verstanden wird, um welches oder gegen welches in der Zeitwelt alles Ringen geht. Wir wissen heute, daß die christlichen Gedanken von einer Welt der Gottesfeindschaft, von Urschuld und Verlorenheit, von Gericht, Vergeltung und Sühne auch dem Osten vertraut gewesen sind. Religionsgeschichtlich betrachtet, steht gerade Michael in einem Strahlenfeuer indogermanischer Ideen vom Menschensein und Weltgeschehen. Als ihm sein semitisches Schutzvolk sich selbst entrissen hatte und die Gottesgemeinde des Neuen Bundes sich seiner Schirmherrschaft unterstellte, war das Seelentum des Westens von langer Hand gerüstet zu einer Liebe auf den ersten Blick. War es Zufall oder mehr, daß schon sein Name (als Nomen officii, als die Sendung kündender Name, den glühenden Eifer für die Ehre Gottes bezeichnend) vertraut den Völkern erklang, die in ihren Sprachen das Wort michil, mikill oder mikils für das Große und Lobwürdige (magnificum) gebrauchten?

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LeerVon dem seltsam mit orientalischem Geistesgut durchsättigten Irland erging im sechsten Jahrhundert die erste breitere Verkündigung der christlichen Botschaft auf dem Festland. Damals schon, mehr noch in der Mission der beiden folgenden Jahrhunderte, trat der Erzengel vor das äußere und innere Auge germanischer Stämme. So wie die Langobarden, die von der Elbe nach Italien gezogen waren, den hebräischen Engel zu ihrem Nationalhelden erhoben, weil sie an ihm auch Züge ihres alten Wotan, des Schlachtenführers und des Seelengeleiters der Toten, wiederfanden, so ist auch im Norden eine gewisse Erbfolge von Wotan und Donar zu Michael nicht zu verkennen. Obenhin gesehen stieß Ähnliches zu Ähnlichem, und es brauchte alle Nachsicht und Geduld der Missionare, den germanischen Naturgottwesen den Bannerträger des Christengottes entgegenzusetzen. Aber die Mühe konnte gelingen, weil die Menschenseele von Natur zum Glauben an ein höheres Führerwesen neigt, das uns helfend nahesteht, wenn es mit unserm Leben zum Äußersten kommt. Das hatten die Germanen in ihrem Wotan besessen, sie fanden es an dem neuen Geistwesen wieder. War aber der Engel auch eine Kampfgestalt und der Sieger über die Drachen des Bösen, so gab es auch von Gott Thyr und Held Siegfried einen Weg zu ihm.

LeerUm 500 und um 700 erhoben sich auf dem Berge Gargano am apulischen Gestade, im Norden auf dem meerumgebenen Granitfelsen des Mons Tumba an der bretonischen Küste die Heiligtümer zu Ehren Michaels, von denen aus sein Ruhm sich über den ganzen Westen verbreitete. Außerhalb Germaniens sind neben den Langobarden vor allem die Normannen seine Herolde gewesen. Aber vom Tumba - „Sankt Michael in Meeresnot” heißt er in den Geschichten jener Zeit - strahlt seine Kraft auch in die Mission des achten Jahrhunderts, ins Frankenreich und ins südwestliche Deutschland. Halb noch von heidnischen Zügen umwittert, halb schon als Rechtswalter Gottes und Vorkämpfer christlicher Kultur gesehen, beschleunigt er die keltisch-germanische Götterdämmerung. Zu seiner Ehre entstehen, oft auf den Höhen des alten Wotankultes, Kapellen und Kirchen am Niederrhein, am rechten Ufer des Oberrheins, am Oberlauf der Donau und ihren südlichen Nebenflüssen (zumal in Bayern unter Tassilo), im Maingebiet, im Lahngau (Amöneburg mit der von Bonifatius gegründeten Cella S. Michaelis), an der Fulda (Eigils Rundkirche auf dem Friedhof der Mönche), in Thüringen und Niedersachsen. Noch mengte sich diesen Stämmen zwischen dem Ärmelkanal und den bayrischen Alpen viel Abgesunkenes aus der alten Götterwelt in den Aufblick zum Michael, aber in der Kirche und Kultur des fränkischen Reiches bildete sich ein reinerer und hoher Begriff von seiner Führerschaft im geschichtlichen Ringen um den Gottesstaat auf Erden. Bei Karl dem Großen, oder wenigstens in seinem Umkreise, gewinnt er einen offiziellen Charakter, Michael wird zum Träger und Schutzherrn des höchsten politischen Gedankens, der vom religiösen aufs innigste durchdrungen ist; sein Fest am 29. September wird ziemlich allgemein im Reiche gefeiert. Sinnvoll erscheint er deshalb auch am späteren Aachener Sarkophag für Kaiser Karl und spielt im Sagenkreis um den Herrscher seine Rolle als der himmlische Feldherr, der den dänischen Paladin Ogier als Kämpfer gegen das Heidentum aussendet.

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LeerMit dem Zerfall der karolingischen Macht ging der Reichsgedanke nicht verloren und Michael blieb sein jenseitiger Hüter. Nach der Begründung des deutschen Nationalstaates unter Heinrich I. drückt sich in zahllosen Formen eine mystische Verbundenheit zwischen dem irdischen und dem himmlischen Schutzherrn der Christenheit aus. Dieses geistlich-politische Patronat des nun eigentlich „deutschen” Engels ist mit seinem Charakter als Patron der Kirche nicht im Widerspruch. Denn der geistliche und der weltliche Arm stehen gemeinsam im Dienste der Civitas Dei (des Reiches Gottes), und dieses Grundbewußtsein wird wenigstens drei Jahrhunderte lang auch in den deutschen Zerwürfnissen mit Rom nicht erschüttert. Heinrich I. und Otto I. ziehen mit dem Michaelsbanner in die Schlacht, der Monte Gargano sieht deutsche Herrscher als Wallfahrer (Otto I. stieg barfuß hinauf), Heinrich II. steht in frommer, von der Legende und Kunst (noch von Riemenschneider) verherrlichten Fühlung mit dem Siegverleiher, der aber auch der Seelenwäger ist, und selbst ins Königssiegel wird sein Bild geschnitten. Wer aber zählt all die Heiligtümer, Klöster, Abteien und Friedhofskapellen, die vor und nach den großen Denkmalen in Hildesheim und Bamberg auf seinen Namen geweiht werden, alle die Tympanen der Portale, wo er mit Schwert und Waage sein Scheidungsamt ausübt, alle die Züge, die er in unserer nationalen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts und in der oft so tiefsinnig-schwermütigen deutschen Legende empfangen hat!

LeerKaum zu ermessen ist die Rolle Michaels in der inwendigsten, der seelischen Geschichte unseres Volkes. Er, das Sinnbild des höchsten politischen Gedankens, der Dienstschaft gegen den Herrn der Natur und der Geschichte, er war als der Anwalt der erbarmenden und richtenden Gerechtigkeit Gottes auch eine Macht des deutschen Gemüts. Davon lesen wir noch in Predigten und Litaneien, in Gebeten für „hinziehende Menschen” mit dem Todesschweiß auf der Stirn, in Chroniken und Heiligenleben, in Testamenten und Erbauungsbüchern. Oft spricht ein Ernst, der schauern macht, aus diesen Zeugnissen und macht uns die Mißverständnisse und Entartungen im Michaelskultus - was könnte nicht entarten, nicht mißbraucht werden! - doppelt schmerzlich. Aber dieses Leidige, das weniger ins religiöse Leben als in Brauch und Sitte schlägt, findet zu jeder Zeit sein Aburteil im Dogma und an der festen hehren Stellung des Erzengels in der Liturgie. Wie der Engelverehrung schon im Alten und Neuen Testament ihre scharfe Grenze gegen den Engeldienst gesetzt ist, kennt auch die Kirche ein Recht der Anrufung nur um Beistand und Fürsprache: Per intercessionem beati Michaelis Archangeli. Ohne die Anrufung zu empfehlen, hat auch Luther 1530 in der Abwehr der „närrischen, ungeschickten Gedanken und Fabeln” zur rechten Erkenntnis von Amt und Wesen der lieben Engel, ihrem Hüten und Wehren, zu rechtem Loben und Ehren aufgefordert. „Lieber Herre Gott, ich danke dir, daß du uns also mit deinen Engeln versorget und geschützt hast, daß du solche Fürsten über uns gesetzt hast.” Im römischen Brevier, in der Messe, zumal im erschütternden Offertorium der Totenmesse, erfüllt der Erzengel den Sinn seines Namens „Wer wie Gott?” als Diener, Bote und Herold der ewigen Majestät. Aber von den Zutaten der Volksphantasie oder den Psychosen wie der Wandersucht der Kinderhaufen, die im 15. Jahrhundert in die Normandie wallfahrteten, ist die eigentlich religiöse Zufuhr aus dem Volksleben, die dem Schutzengel der Nation zuteil geworden ist, wohl zu unterscheiden. (Das Recht dieser naiven Kräfte der Engeltheologie hat der Kardinal Newman aus tiefer Einsicht gewürdigt.) Es ist eine große, ernste Aufgabe der Zukunft, die Lebenskräfte sichtbar zu machen, die zwischen dem himmlischen Helden des ersten Reiches, des Reiches der Kraft nicht ohne das Reich der Gnade, und dem Seelentum unseres Volkes hin und her gewirkt haben. Das letzte Ergebnis wird kein anderes sein, als es heute schon zutage liegt.

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LeerSoll man die Entfremdung der Modernität vom Glauben an personale Wesenheiten in der unstofflichen Schöpfung für endgültig halten? Die vieltausendjährige, so gut wie allgemeine Überzeugung vom Sein und Wirken reiner Geister schien dem religiösen Bewußtsein durch berauschende Aufklärungen der Wissenschaft über das Naturreich völlig aufgelöst zu werden. Nun läßt sich aber nicht mehr verkennen, daß eine neue Ernüchterung über ein letztes Wissenkönnen von den Dingen der Schöpfung aufkommt. Den Forschern selbst wird es gewiß, daß wir das Objektive nie an sich, immer nur als die vom Menschen ergriffene, durch seinen Zugriff, durch seine vorgegebene Weise des Aufnehmens ihm sich anformende Welt erkennen. Schon das „Ding an sich”, gleichsam draußen sich befindend, ist seine, eine menschliche Setzung, die einem Glauben, nicht einem Wissen entspringt. So wird denn auch schon offen zugegeben, daß es ein naturwissenschaftliches Weltbild im strengen Sinn nicht geben kann. Nach Begriff und Sache läßt sich die Wirklichkeit schlechterdings nicht vom Menschen lösen, nicht von seinem Erkenntnisleben und nicht von seinem stellungnehmenden Herzen, das glaubt und nicht-glaubt, das gut oder schlecht gebraucht. Keine Wissenschaft ist kritisch zuständig, wenn man unter den verborgenen Wirkursachen Elementargeister annimmt, wenn man im Bereich der personalen Geschöpflichkeit Engel glaubt, wenn man dem Offenbarungswort auch in dem, was es über das Sein und Wirken zum Dienst für Gott in Natur und Geschichte bestellter Geister ausspricht. Was aber Michael betrifft, den schon in der Schrift als eschatologischen Engel bezeichneten und im christlichen Bewußtsein fortan so verstandenen und verehrten Mahner an die dauernde Krisis der Geschichte zwischen dem ewigen heiligen Willen und dem in der Gefahr seiner Freiheit stehenden Menschen, so scheint dem gläubigen Getauften die Beziehung von der besonderen eschatologischen Not unserer Zeit zum Rufer des „Wer wie Gott?” offenkundig geworden. Wir erkennen wieder, daß die Macht des Menschen nur dann nicht sein Verderben wird, wenn er seine verpflichtende Gottebenbildlichkeit in ihrem letzten Ernst versteht und einhält.

LeerIn der germanischen Auffassung und Aneignung ist Michael ein Inbegriff und Inbild von Adel geworden. Er vereinigt mit der höchsten Kraft die Demut, die Sturmnatur mit der Ruhe, das Heldische mit dem Dienenden, den wachesten Kampfgeist mit aller Milde gesammelter Tiefe, den Besitz der ihm von Gott verliehenen Macht mit dem Gehorsam, der die Macht im Dienste der göttlichen Gerechtigkeit allein gebraucht. Michaels heilsgeschichtlicher Sinn ist also nicht, der Bannerträger dieser oder jener Nation um ihrer politischen Größe willen zu sein, sondern die aus allen Nationen Berufenen, in allen zum Reiche Gottes Gewillten zum Kampfe gegen den Drachen zu rufen, „der alle Welt verführt”. Auch sein, des Drachen, Anhang ist international. Die gegnerischen Fronten in der politischen Rivalität der Völker bedeuten nach der Geschichtslehre der Offenbarung wenig im Vergleich mit dem Drama der Entzweiung, das im ganzen Willensreiche anhängig ist - von Kain und Abel bis zum „Tier” der Apokalypse und seinem Überwinder Michael. Ihn sollte das einzig wahre, weil in der Freiheit der Kinder Gottes begründete Kollektiv, die Gemeinschaft der Heiligen, nicht aus den Augen verlieren.

LeerVergessenes, Verschüttetes steht in der Geschichte immer wieder auf zu neuer Zeugung. In der Kirche, die ein ewiges Heute kennt, lebt der Signifer Sanctus Michael - der Bannerträger Sankt Michael -, wie er von Anfang gelebt hat, und wird weiterleben, unter den Völkern werbend zum Volke Gottes. „Der das All umfaßt - Er weiß um jede Stimme” (Weish. 1, 7).

Quatember 1954, S. 193-198

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-02
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