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Der Engel des Gottesvolkes
von Alfons Rosenberg

LeerDer Bocksgesang der griechischen Tragödie leitet sich ursprünglich her von den Riten und Hymnen des Dionysiusmysteriums, in dessen Vollzug durch die dunkle Ekstase des Rausches die Todesgrenze durch die Gewißheit eines ewigen Lebens überschritten werden sollte. Die christliche Tragödie hingegen, das Drama des christlichen Abendlandes, das zeitlich seinen Ausgang von den Osterspielen genommen hat, ist gestiftet worden durch jenes Urdrama, das im zwölften Kapitel der Apokalypse überliefert wird. Denn die Apokalypse, die prophetische Enthüllung dessen, was ist und sein wird, des großen Weltenspiels von Christ und Antichrist, schwingt um eine geistige Mitte - um die ungemein dramatischen Ereignisse jenes Kapitels, in dem das Weltendrama in höchster Verdichtung und ohne jedes Beiwerk Gestalt gewinnt. Wollte man aber diesem zwölften Kapitel, einem Drama im Drama der Apokalypse, einen Namen geben, so könnte es nur ein Michael-Dromenon heißen, da sein eigentlicher Held, der Pol des Umschwungs dieser „Szene”, in der Gestalt des Engels Michael hervortritt. Mit diesem Kapitel hat der Apostel und Prophet Johannes, zugleich ein Dichter hohen Ranges, das michaelische Urdrama geschaut und beschrieben. Als ein Weizenkorn, bestimmt, tausendfältige Frucht zu tragen, wurde es der Erde der abendländischen Geisteswelt anvertraut. Seitdem ist jedem Drama der Christenheit heimlich ein michaelisches Element beigemengt. Mag es sich auch bei einer Vielzahl von Dramen um Liebes- und Staatsaktionen handeln, so müssen doch alle diese Ereignisse der innermenschlichen Welt zugleich als Symbole jenes gewaltigen Weltkampfes gelten, der zwar in der Geisterwelt und im Kosmos ausgetragen wird, der aber zugleich in allen Ereignissen und Begegnungen der Menschenwelt sich abbildet.

Das Sonnenweib und der DracheLeerDie Zeit, in der sich dies Urdrama vollzieht, erstreckt sich zwischen der Genesis der Schöpfung und deren Verwandlung in einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn vor der Schöpfung war gewiß keine Möglichkeit für eine Tragödie vorhanden und ebenso fehlen die hierfür notwendigen Spannungselemente in jenem himmlischen Jerusalem, in dessen Zustand die Gegensätze der Geschlechter, wie die von Licht und Finsternis nicht mehr vorhanden sein werden. Auf der Bühne dieses apokalyptischen Urdramas agieren nur drei Darsteller: die Machtgestalt des feuerroten Satansdrachens, als Fürst dieser Welt, ein wahrhaft fürstliches und numinoses Wesen, und andererseits Michael, einer der sieben Engelfürsten, die allzeit vor Gott stehen, seine Paladine und Befehlsübermittler auf dem Kampfplatz der Geschichte - Erntearbeiter und Schnitter auf dem Felde des werdenden Reiches. Die mittlere Gestalt aber, das große Zeichen, auf das alle Aktionen der beiden Fürsten bezogen sind, um deretwillen ja gerade der Kampf beider entbrannt ist und das zugleich den Kampfpreis dieses zwischen Himmel und Erde sich ereignenden Ringens darstellt, ist das „Weib” - die höchste Symbolisierung all dessen, was sich im Gesamt der geistigen und leiblichen Schöpfung unter dem Weiblichen zusammenfassen läßt. Das Weib erscheint geschmückt mit der ganzen Lichtherrlichkeit des Kosmos - ein Wort, das ja ohnedies schon Schmuck und schöne Ordnung bedeutet. Wenn aber geschildert wird, wie dieses Weib auf dem Monde stehend, in die Sonne gekleidet, gleich der Gattin eines Königs mit der Sternenkrone gekrönt ist, so legt sich die Deutung dieser Erscheinung „am Himmel” als die in der Schönheit der reinen Harmonie erstrahlende Urschöpfung nahe - auch an eine Epiphanie des künftigen gleichfalls wie eine Braut mit der Lichtherrlichkeit geschmückten himmlischen Jerusalem wäre zu denken. Aber dieses Weib wird weiterhin als mit dem Charisma der Fruchtbarkeit begnadet bezeichnet: es schreit in Wehen, denn es soll gebären. Es ist demnach Gattin und Mutter -Gattin des El eljon, des höchsten Gottes, und Mutter seines und der Völkerwelt Heilands, der zwar in dieser Weltstunde als ein ohnmächtiges Knäblein aus seiner Mutter hervorgeht, aber bald die Völker mit eisernem Stabe weiden wird. Was aber ist nach seiner innersten Bedeutung dieses Weib, das Inbild der heiligen Schöpfung und ein Vorbild des himmlischen Jerusalem? Es ist das Symbol der Heilsgemeinde, des Gottesvolkes des alten und neuen Bundes, Israel dem Fleische und dem Geiste nach, die „Jungfrau, die gebären wird”, aus deren Leib der Heiland, Gottes und Mariens Sohn, hervorgeht. Darum repräsentiert diese lichtschimmernde Jungfrau-Mutter das Gottesvolk in seinem doppelten Aspekt: als jenen Volksleib, der den Leib des Gottkindes hervorbrachte, und als das Gottesvolk der Christenheit, in deren Mitte der heilige Völkerhirte gegenwärtig ist.

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LeerDoch dies in die Herrlichkeit der Gnade gekleidete Weib, das Gottesvolk, verfügt zwar über die höchste, zukunftswirkende Lebendigkeit der Fruchtbarkeit, es ist zugleich „weiblich” ohnmächtig inmitten der Weltmächte. Beständig ist es vom siebenköpfigen Drachen bedroht, der sein Kind, sein Herz und Heil, und „die übrigen Kinder des Weibes”, die Glieder des Gottesvolkes, zu verschlingen, der es selber in den Wasser-Sog der heillosen Völkermassen zu ziehen versucht. Die Rettung des Weibes gelingt allein dadurch, daß, nachdem sein Kind zu Gott entrückt worden ist, ihm die großen Adlerflügel verliehen werden, mit deren Hilfe es in die Wüste, den Ort der Verborgenheit, zu entfliehen vermag. Dort wird es „von Gott gespeist”, das will sagen: auf sakramentale Weise genährt. Aber noch vor dieser ihrer Flucht ereignet sich der große Weltenkampf am Himmel. Zwei Machtwesen stürzen aus diesem hervor: der Drache, der aus dem Himmel Verwiesene, der Abgestürzte - wie die Überlieferung es wissen will, einst der höchste aller Engel -, und ihm nacheilend mitsamt der himmlischen Miliz Michael, von dem dieselbe Tradition berichtet, daß er den verwaisten Platz des abgefallenen Satansengels eingenommen habe. Michael nun unternimmt es, die kostbare, lichte Beute, die gottgeliebte heile Schöpfung, repräsentiert durch das Gottesvolk der Herausgerufenen, das Weib, dem siebenköpfigen Drachenungeheuer zu entreißen.

LeerSo wird aus dem Geschehen des apokalyptischen Urdramas, dem Michaelsdromenon, deutlich, daß Michael zum Engel des Gottesvolkes bestellt ist. Dieses bedarf seines Schutzes, um in dieser aus einem Paradiese zu einer Wüste gewordenen Welt bis zum Anbruch der Endzeit zu bestehen. Michael ist der Engel des Gottesvolkes, was aber nicht ausschließt, daß alle Völker Engeln unterstellt sind. Hat doch Gott nach einer Textversion der Septuaginta die Völker geschaffen nach der Verschiedenartigkeit „und Anzahl der Engel” (5. Mose 32, 8). Jedem Volk ist als „Geist” und Führer, als Archetypus seines Wesens, als Symbolgestalt seines Geschichtsauftrages ein Engelfürst als Präpositus vorgesetzt. So ist in Daniel 10, 10 f. von Engelfürsten der Perser und der Griechen die Rede und Michael erscheint hier erstmals als der Fürst und Schutzherr des in der Wüste der Verbannung auf Erlösung harrenden Israel. Die Danielschrift vertritt mit Nachdruck die Überzeugung, daß das Gottesvolk, sofern es nur sich selber und seinem Gotte treu bleibt, keineswegs schutzlos sei - auch im Zeitalter der Bedrückung ist sein Schicksal geleitet von jener Geistmacht, die sich unter dem Namen und der Gestalt Michaels offenbart: Michael streitet, zusammen mit Gabriel, gegen die Feinde des Gottesvolkes, die in jener Geschichtsstunde eben die Perser waren. Aber hinter den Feinden Israels, die im Laufe der Zeiten vielfältig wechselten, steht in Wirklichkeit immer nur der eine uralte Feind, Satan selber - ihn allzeit zu bekämpfen in den Masken der wechselnden Geschichtsmächte, ist Michael vom Himmel gesandt worden.

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LeerDas Weib aber, zu dessen Schutz Michael berufen ward, ist letzthin nichts anderes als die Kirche, der mystische Leib der Christenheit, der Inbegriff aller Herausgesonderten aus vielen Völkern. Mit ihrem Dasein und Schicksal ist der Präpositus auf Weltzeit verbunden. Er, ein Urbild des geistig Männlichen, ist zum Schützer und Heger alles Weiblichen, der jungfräulichen Reinheit, wie der mütterlichen Fruchtbarkeit, durch die das Gottesvolk in den Drangsalen der Geschichte zu dauern vermag, bestellt worden. Wie aber und in welcher Weise vollzieht der Engel des Gottesvolkes sein Schützer-Amt? Die mittelalterliche Legende antwortet darauf: Michael ist der ritterliche Held, der gepanzert und gewappnet den Drachen in hartem und offenem Kampfe überwindet. In Wirklichkeit aber entstammt eine solche Deutung bereits einer Umbildung der eigentlichen, alten Michaelsgestalt zu einem mehr irdischen als himmlischen Kriegsmann, zum Patron und Vorbild der germanischen Ritterschaft des alten Reichs. In dieser kriegerischen Gestalt ist Michael zwar im nördlichen Abendland volkstümlich geworden. Jedoch die Legende und die Kultgeschichte , vor allem des östlichen, aber auch des frühen westlichen Christentums, stellt eine andre Wesensseite Michaels in den Vordergrund. Betrachten wir nämlich die byzantinischen, und selbst noch die karolingischen, vom Osten her beeinflußten Darstellungen des großen Engels, so enthüllt sich ein wesentlich anderes, mehr seinem Vor- und Urbild Christus angenähertes Bild seines Wirkens. Aus byzantinischen Elfenbeintäfelchen oder aus den Mosaiken von Ravenna tritt er uns in starker Gelassenheit, ohne Waffen, nur mit dem Botenstabe seiner Vollmacht ausgerüstet, entgegen. Denn ursprünglich wies sich das Schützer- und Helferamt Michaels nicht in kriegerischen Aktionen, sondern in seiner Tätigkeit als Heiler alles Kranken und Verwundeten aus. Die alten Kultstätten des Engels im Osten, so im kleinasiatischen Chonae, waren mit Heilquellen verbunden, oder wie in Alexandrien und in Konstantinopel am Meer errichtet. Das Michaelnion von Konstantinopel galt zudem als ein Asklepeion, als eine charismatische Heilstätte, in der man sich nachts zum Heilschlaf niederlegte, in der Erwartung, daß der Herr des Heiligtums dem Kranken in diesem ein Heilmittel offenbare. Die Michaelkultstätten waren geistliche Heilstätten, aus denen ein Strom heilender Kraft in die sieche, bedürftige, von Gnadenkräften entblößte Welt floß. Es handelt sich aber bei diesem Vorgang nicht um eine notdürftige Verchristlichung heidnischer Mantik, sondern um die Verwirklichung der Verheißung Christi. Denn Gott schuf „im Anfang” eine heile, von Krankheit, von tödlichen und giftigen Kräften freie Schöpfung. Erst durch den Fall des Menschen ist dieser in seinen heutigen gebrochenen, für alle Krankheiten anfälligen Zustand geraten. Damals ist das Gift des Satansdrachen in Leib und Seele des Menschen eingedrungen und seitdem schwärt dieses von Geschlecht zu Geschlecht aus als das Böse des menschlichen Wesens und als die Krankheiten, die den menschlichen Leib verwüsten. Wenn Christus darum so auffällig oft, den Berichten der Evangelien nach, durch seine göttliche Kraft die Mühseligen und Beladenen von Krankheiten befreite, so vollzog er diese „Entgiftung” von Seele und Leib nicht nur aus mitleidender Liebe mit den Kranken, sondern auch um damit zeichenhafte, auf den künftigen Stand einer wiederhergestellten heilen, vom Satansgift in jeder Dimension befreiten Schöpfung hinzuweisen.

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LeerChristus als Heiland, als Heilmacher der Schöpfung, sendet seine Engel, die Boten seines Erlösungswerkes, als heilende Geister aus. Da Satan erst am Ende der Zeiten vernichtet wird, so ist es die Aufgabe der Engel bis zu diesem Ereignis, das vom Gifte des Satansdrachen bedrohte Gottesvolk, durch das sein Geist getrübt, seine Seele verwüstet, sein Leib geschändet wird, vor diesem zu behüten und, wenn es schon in Leib und Seele der Versiegelten eingedrungen ist, dieses wieder auszuscheiden und „abzuwaschen”. Michael ist nach der Anschauung des antiken Judentums und der frühen Kirche der Herr des Wasserelementes - nicht des „dunklen” salzigen, verschlingenden Meeres, sondern der des „lebendigen Wassers”, der Heilgewässer - Michael ist der durch Abwaschung Heilende. Darum kann es auch nicht erstaunen, daß die ältesten Michaelsdarstellungen niemals Waffen aufweisen. der Kreuzstab der frühen Michaelsikonen - in hoc signo vincit - wandelt sich schließlich zur Kreuzlanze, während das Schwert erst spät der Michaelsgestalt hinzugefügt wurde. Denn Michael kämpft nicht gegen Wesen von Fleisch und Blut, sondern gegen den Fürsten der Bosheit in der Luft (Eph. 2) - aus dein dämonenerfüllten Luftbereich, dies war die Überzeugung der alten Kirche, stammen die Krankheitsgifte, leiten sich vor allem die Seuchen und deren furchtbarste, die Pest, her. Gerade als Satansgegner ist Michael der Helfer, der Streiter gegen die Pest. Als Dank, daß er sie einst gebannt, hat ihm die Kirche den hohen Festtag des 29. September gewidmet.

LeerMichael ist zwar ein Kämpfer, aber sein Kampf gilt dem malum, unter dem im Mittelalter vor allem Krankheit, Hunger und Krieg verstanden wurden. Nicht Kriege erregt darum der himmlische Held, vielmehr ist er der Mittler des Friedens, des eigentlichen Standes der heilen Welt. „Michael send uns, deinen Friedensboten”, so fleht die Kirche im Hymnus seines Festes am 29. September. Freilich ist damit nicht ein Friede gemeint, wie die Welt ihn kennt, kein defaitistischer Pazifismus, keine bloße, durch eine Konvention gesicherte Waffenruhe, sondern die Beendigung jenes inneren Zwiespaltes im Menschen und im Gottesvolke, aus dem immer neu die den Krieg erregende Entzweiung hervorbricht. Die Christenheit bezeugt sich als Gottesvolk dadurch, daß in ihm die Liebe wirkt und der Friede herrscht. Wie Elias im Alten Bund, so ist Michael im Neuen der Versöhner der Herzen und dadurch ein seliger Friedenstifter. Gewiß, Michael als der Engel des Gottesvolkes leitet dieses durch die Völkerstürme der Geschichte. Er bricht ihm Bahn, er schafft ihm Lebensraum für sein Wachstum. Des zum Zeichen wacht er im Westwerk der Dome, das ihm von altersher geweiht ist, und wo die michaelischen, die giftigen Geister der Luft mit ihrem Dröhnen vertreibenden Glocken untergebracht sind. Dort wehrt er, so weiß es ein symbolisches Denken, eine symbolische Geographie, den von Westen, der Abendrichtung, herannahenden Todesschwaden, von dort her schützt er den Bau der Kirche, der stets ein Sinnbild der gesamten Ecclesia darstellt - schützt er das Haus, das Weib, das Gottesvolk. Aber er schützt dies nicht nur, indem er gegen die Satansheere kämpft - in diesem Kampfe wird nach dem Gesicht der Apokalypse vielmehr der Satan auf die Erde geschleudert - und nun „wehe den Menschen.”; sondern indem er es verhindert, daß der Zwiespalt - und der Satan verkörpert das Prinzip der Spaltung - in das „Innere” des Weibes eindringt, um es zu vergiften, und indem er in diesem Innern den Frieden stiftet. Denn nur wenn der Friede in der Mitte des Gottesvolkes und in den Herzen aller seiner Glieder wohnt, vermag es sowohl als ein lebendiges Zeugnis für die Gegenwart und Zukunft Christi zu wirken, wie den Kampf gegen die Feinde des Herrn zu führen. Des Christen Kampf wird nicht mit metallenen Waffen geführt, sondern mit dem Schwert der Liebe und dem Speer des Friedens. Christus ist unser Friede - und wo dieser nicht herrscht, kann kein Frieden gedeihen. Aber im Innern des Gottesvolkes kann und soll der Friede herrschen als Ausdruck eines in Christus gewonnenen neuen Lebens. Der aber diesen Frieden immer neu bewirkt und fördert, der ihn gegen seine inneren und äußeren Feinde bewahrt, das Gift des Drachen vernichtet, Leib und Seele von dessen Folgen heilt, Arzt, Retter und Held - das ist Michael, der Engel des Gottesvolkes.

Quatember 1954, S. 199-203

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 13-11-02
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