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von Hans Dombois |
Nach dem Zusammenbruch von 1945 gab es in Deutschland mit einem Schlage siebzig Millionen Demokraten. Jedermann tat so, als ob er es von jeher gewesen sei, obwohl auch außerhalb des Nationalsozialismus weite Kreise die Demokratie als ein Produkt der Aufklärung abgelehnt hatten. In Deutschland waren die Begriffe Rechtsstaat und Freiheit nicht mit denen der Demokratie verbunden gewesen. Das lag neben anderen Ursachen daran, daß in Deutschland der fürstliche Absolutismus Träger einer guten Verwaltung und in erheblichem Maße des Staats- und sozial-reformerischen Fortschritts gewesen war. Diese plötzliche Einmütigkeit entsprang der echten Erkenntnis, daß zwischen dem Totalitarismus zur Rechten und dem zur Linken die Demokratie als die einzig mögliche freiheitliche Lebensform übrig geblieben war. Von dieser Grundlage sich nicht mehr abtreiben zu lassen, war man mit Recht entschlossen. Die negative Seite jener Einmütigkeit war, daß sie zwei politischen Gruppen ein unverdientes Alibi lieferte: einmal den aktiven Nationalsozialisten, die es nun auf einmal nicht mehr gewesen waren. Sodann aber der ganzen Gruppe von Politikern, die bei allem unbestreitbaren guten Willen in der Zeit von 1919 bis 1933 versagt hatten. Nicht einzelne Fehler, sondern die mangelnde Integrationsfähigkeit, nicht die Reaktion der Alten, sondern die Enttäuschung der Jungen hat die Weimarer Republik widerstandslos zusammenfallen lassen. Von der Mitverantwortlichkeit dafür wird sich kein in jener Zeit politisch tätiger Mensch in Regierung und Opposition freisprechen können, also im großen und ganzen unsere Generation insgemein. Wir haben nur geerntet, was wir gesät hatten; davon war aber nach 1945 nicht allzuviel zu hören. Unsere Generation steht unter dem beherrschenden Erlebnis, daß innerhalb von nur vierzig Jahren vier verschiedene Staatssysteme aufeinander gefolgt sind, die jeweils dauernde Gültigkeit beansprucht haben. Das muß notwendig jede Staatsform für uns relativieren. In hartem Widerspruch dazu steht die Eindeutigkeit der geschichtlichen Lage, welche Demokratie als Gegebenheit und Aufgabe vor uns hinstellt. Diese Antinomie können wir nicht dadurch überwinden, daß wir mit dem krampfhaften Eifer der Neubekehrten versichern, nun endlich das zeitlos gültige Heil, die große Wahrheit ein für allemal erkannt zu haben. Das deutsche Volk hat ein Jahrhundert lang seine große geistige Kraft daran gesetzt, in Idealismus, Romantik und Historismus die Aufklärung zu überwinden. Wir kennen heute die Gefahren und Grenzen dieser Bewegungen und wissen, daß sie nur ein Durchgang gewesen sind. Es liegt nichts daran, die Aufklärung noch einmal zu verketzern; die Befreiung vom Idealismus ist eine ebenso dringliche Aufgabe. Aber hinter dieses geistige Geschehen in die Naivität der Aufklärung zurückzugehen, ist nur durch das Opfer der besseren Einsicht und die Preisgabe eines echten Stückes nationaler Geschichte möglich. Die Vorstellung, daß der wesentliche Sinn der Geschichte und ihr Ziel in der Darstellung selbstmächtiger Freiheit des Menschen in der politischen Demokratie liege, ist eine Preisgabe der Geschichte und eine theologische Häresie. Rudolf Sohm hat mit der ihm eigenen Begriffsschärfe den Ertrag der neueren verfassungsgeschichtlichen Forschung und damit das Wesen des modernen Staates in wenigen Sätzen zusammengefaßt: „Der deutsche Staat beruhte auf der ersten Stufe seiner Entwicklung in dem Gedanken des Volkes. Die deutschen Stämme mit ihren natürlichen Gliederungen machten den deutschen Staat. Das ist die Grundauffassung noch des Sachsenspiegels. Seit etwa 1200 tritt der Gedanke des Hauses als für den Staat grundlegend in den Vordergrund. Die deutschen Fürsten sind als Vasallen die persönlichen Diener (Hofleute) des Königs. An ihrer Spitze stehen die Träger der obersten Hofämter, die Kurfürsten. Das Reich wird von den Dienern des Königshauses, das Land von den persönlichen Dienern des Landesherrn regiert (Rosenstock, Königshaus und Stämme in Deutschland zwischen 911 und 1250). Auf seiner dritten Stufe erst ist der deutsche Staat durch den Körperschaftsgedanken bestimmt worden. Der Staat wird zu einem gesellschaftlichen Körper, der das Volkstum als Einheit willensfähig, handlungsfähig macht, so daß die ganze Kraft des Volkstums unwiderstehlich auch gegen eine Welt von Feinden sich erhebt. Der ganzen alten Welt war das unbekannt, aber der moderne Staat beruht darauf.” Der moderne Staat unterscheidet sich vom alten nicht nur durch die Methodik oder die Ausdehnung seiner Wirksamkeit, sondern durch seine ganze geistige Grundlage. Der alte Staat des Volkskönigtums wie der des Fürstenhauses ist durchgängig vom Ursprung her, ab origine gedacht und aufgebaut, von der Vaterschaft her, der des großen Landesvaters wie jedes einzelnen Vaters. Das bis in die Gegenwart nachwirkende ursprüngliche monarchische Gefühl des Bauerntums beruht darauf, daß der Bauer in seiner Familie und auf seinem Hofe das Oberhaupt ist und es als eine Bedrohung dessen empfindet, wenn der König als der Hausvater und Hofbesitzer des Gemeinwesens in seinen Rechten gekränkt wird. Der Untertanenbegriff ist im Verhältnis dazu eine viel spätere Erscheinung. Deshalb rotteten sich 1848 die altmärkischen Bauern zum Schutze des Königs gegen die Berliner Demokraten zusammen. Von solchen Dingen will man heute nichts mehr wissen. In einem solchen, vom Ursprung her gedachten Staate hat das Althergebrachte, das Bewährte, das wohlerworbene und ererbte Recht die Vermutung der Richtigkeit für sich. Die allgemeine Gleichheit hat hier keinen Platz. Jeder hat seinen Ort in dem ihm bestimmten Verhältnis zu dem alles legitimierenden Ursprung. Dieser Ursprung aber ist unantastbar, so daß sein Repräsentant außerhalb des Streites bleibt. Über geschichtliche Erscheinungen entscheidet nicht die Ethik. sondern die Dogmatik. Entscheidend ist, ob die glaubensmäßige Grundlage intakt und dann allerdings auch stark genug ist, eine strenge Ethik zu tragen. Mit der Verfechtung des Dienstgedankens, einer ethischen Kategorie, ist die evangelische StaatsIehre den Problemen im Grunde nur ausgewichen. Man hat oft geraten, die deutsche Demokratie solle sich an die süddeutsche ständische Tradition anschließen, in deren Namen etwa Uhland „das gute alte Recht” verfocht; aber eben dieses gute alte vorabsolutistische Recht paßte in den modernen Staat der Gleichheit ebenso wenig hinein wie das ererbte Recht des Königs. Übergangserscheinungen hat es noch lange gegeben. So haben die älteren demokratischen Wahlrechte das Stimmrecht meist noch vom Familienstand, einem gewissen Steuerzensus oder Grundbesitz (Hausvaterschaft) abhängig gemacht. Alles dies hat sich zwangsläufig von der Idee des modernen Staates her abgelebt. Sein finaler Zug läßt nur ganz bestimmte Gestaltungen zu. Lange Zeit hat man nun geglaubt, diese Finalität im Rahmen rein innerweltlicher Zielsetzungen halten zu können und gerade dadurch die echte Scheidung von geistlichem und weltlichem Bereich zu verwirklichen. Darauf beruhte zum Teil die große Staatsfreudigkeit des deutschen Protestantismus im vergangenen Jahrhundert. Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, daß die nur relativen und innerweltlichen Zielsetzungen dem Menschen nicht genügen und daß die Finalität die Tendenz zur Pseudo-Eschatologie mit sich bringt, den Versuch, letzte Sinnbestimmungen des Menschen mit den Mitteln des Staates in der Zeitlichkeit zu verwirklichen. Das hatte im Kultus der Vernunft in der französischen Revolution schon begonnen, hatte sich im radikalen Laizismus fortgesetzt und ist heute in den totalen Staaten zur politischen Form erwachsen. Die Tendenz ist überall vorhanden, in der amerikanischen Freiheitsideologie, im Wohlfahrtsstaat, im sozialistischen Gedanken des sozialen Humanismus usw. Der nur begrenzten Zwecken dienende liberale Staat sieht sich heute überall in die Verteidigung gedrängt gegenüber den radikalen Forderungen solchen Pseudoglaubens. Die Pseudo-Eschatologie ist gerade wegen ihrer abstrakten Unpersönlichkeit die natürliche Religion des säkularen Menschen. Auch die evangelische Staatslehre steht zwischen diesen beiden Feuern: zwischen der Notwendigkeit, den Staat als innerweltliche Größe auf zeitliche Zwecke zu begrenzen, und dem eschatologischen Charakter aller christlichen Verkündigung. Diese Voraussetzungen fehlen in der französischen Demokratie. Sie und ihr nachfolgend der Kontinent sind antipersonalistisch. Ihr ursprünglicher Hintergrund ist der Glaube an den harmonischen Kosmos der objektiven Vernunft, der sich in der Diskussion offenbart. Deswegen ist jedes emotionale, personale und irrationale Moment eine Störung. Es ist die Metaphysik der lückenlosen Kausalmechanlk, die sich in der Abfolge Volkswille - Abgeordneter - Regierung vollzieht, und zwar eingleisig in derselben Richtung. Wenn auch dieser Glaube an Vernunft und Diskussion zerbröckelt ist, so ist doch die eingleisige mechanische Grundkonstruktion erhalten geblieben. Das Volk als der souveräne Schöpfer und Ursprung aller politischen Dinge setzt den Staat und alle Organe aus sich heraus. Dieses mechanistische politische Weltbild nun steht in offenem Widerspruch zur geistesgeschichtlichen Lage wie zur politischen Wirklichkeit. Seit der Integrationslehre Smends ist es nicht mehr möglich, politisches Geschehen so monistisch zu sehen. Jeder politisch Handelnde wirkt durch alles Handeln auf die politische Situation in einer Weise ein, die auch bei loyalster Haltung nicht auf den Volkswillen zurückgeführt werden kann. Er verändert in unberechenbarer Weise den Aggregatzustand der Gemeinschaft, ihr Bewußtsein, ihren Willen. Schon indem er den Volkswillen befragt, wirkt er auf ihn ein, gestaltet er ihn mit. Wir wissen, in welchem Maße der Volkswille gerade durch die Art der Befragung ausgeschaltet werden kann. Aber umgekehrt ist es das echte Recht jeder Regierung, das Volk in dem ihr günstig erscheinenden Moment zu fragen und sich für das richtig Gehaltene einzusetzen. Die grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Einsichten, welche die moderne Physik an dem Problem der Nichtobjektivierbarkeit gewonnen hat, gelten auch für die politischen Erkenntnisakte der Wahl und der Willensbildung. Der Erkennende kann von dem Gegenstand der Erkenntnis nicht abgetrennt werden. Im Gegensatz dazu ist der totale Staat nur die Umkehrung des mechanistischen Erkenntnisbegriffs. Während die liberale Demokratie einen isolierten „objektiven” Volkswillen zu erkennen meint, meint die totalitäre Führung den objektiven Geschichtssinn zu erkennen und bildet den Volkswillen an diesem. Noch in einer zweiten Richtung ist die übliche demokratische Theorie unhaltbar. Sie rechnet immer nur mit dem bewußten Willen, der rational festgestellt werden kann. Sie meint damit den ganzen Menschen zu umfassen. Das ist durch nichts begründet. Jede Anthropologie und Psychologie, die heute noch allein von diesen Vordergrundserscheinungen ausgehen würde, wäre angesichts der Aufdeckung der Tiefenschichten des Menschen rettungslos veraltet. Die Vernachlässigung dieser Seiten menschlichen Wesens hängt mit der radikalen Dynamisierung unseres gesamten Lebens zusammen. Der Aktualität wird ein grundsätzlich höherer Wert beigemessen als der Kontinuität. Wir haben aber heute erkannt, daß Kontinuität und Diskontinuität komplementär zusammengehören und nur so recht begriffen werden können. Für das heute unterentwickelte Moment der Kontinuität hat unser Staatswesen keinen vollen Ausdruck mehr. Die evangelische Theologie unterliegt auch in dieser Richtung bedeutenden, echter Erkenntnis entgegenstehenden und geschichtlich bedingten Vorurteilen und Hemmungen. Es ist Aufgabe der Staatslehre, die Gegebenheiten der Zeit in Begriffe zu fassen, welche ihre Übersetzung in die politische Wirklichkeit ermöglichen. Geschieht dies nicht, so ergeben sich Spannungen, Gärungen und Explosionen. Man kann sich nicht aus Bequemlichkeit an den geistigen Entscheidungen der Zeit vorbeidrücken. Mit jenen erkenntnistheoretischen Wandlungen verbindet sich die ebenso grundsätzliche Einsicht, daß nun auch jene Relationen und Ergänzungserscheinungen nicht einfach in statischen Formeln objektiviert werden können. Die alte vom Ursprung her gedachte Monarchie wurde erst dann in der barocken Form des Absolutismus absolut, das heißt von ihrem Gegenüber, dem Volke abgelöst, als sie geistig am Anfang ihres Endes war. Bis dahin lag zwar das staatsbildende Schwergewicht bei der Monarchie, aber sie hob den Dualismus von Fürstentum und Volk grundsätzlich nicht auf. Die konstitutionelle Staatstheorie des 19. Jahrhunderts hatte in dem Versuch eines neuen Dualismus einen Wahrheitskern. Sie verkannte nur, daß die alte Monarchie und die moderne Demokratie geistig auf ganz verschiedenem Boden standen und nicht so einfach zusammenzukonstruieren waren. Nur auf Grund ganz bestimmter geistiger und geschichtlicher Umstände ist in England eine Verschmelzung beider gelungen. Ich selbst erinnere mich, wie ich mit einem erfahrenen Gelehrten als Anfänger in einer wissenschaftlichen Frage disputierte, in der ich gut Bescheid zu wissen meinte. Da wurde ich plötzlich von ihm über eine Sache belehrt, die ich nicht wußte, und fragte ihn ganz erbittert: Woher wissen Sie das? Seine Antwort war: Wenn Sie so alt sein werden wie ich, werden Sie es auch wissen. Das war eine richtige Antwort. Aber wer würde wohl als Lehrer der Naturwissenschaft oder als Lernender das für eine Antwort halten? Wir wissen zumeist nicht zu sagen, warum diese oder jene philologische oder historische Vermutung eines Anfängers „unmöglich” ist. Es ist eine Frage des Taktes, der durch unermüdlichen Umgang mit den Dingen erworben, aber nicht gelehrt und nicht andemonstriert werden kann. Dennoch ist es in solcher pädagogischen Situation fast ausnahmslos gewiß, daß der erfahrene Lehrer recht und der Anfänger unrecht hat. Freilich hängt mit diesen besonderen Wahrheitsbedingungen zusammen, daß wir auch der Forschung gegenüber keine absolut sicheren Maßstäbe haben, durch die sich echte Leistung und leere Prätention scheiden lassen, ja, daß wir oft an uns selber zweifeln, ob, was wir sagen, die Wahrheit, die wir meinen, wirklich noch enthält.” Diese Gedankengänge setzen bereits jene erkenntnistheoretische Wandlung der Gegenwart voraus. Sie lassen sich auch mit Nutzen für das politische Denken verwenden. Jener „in unermüdlichem Umgang mit den Dingen erworbene Takt” beruht eben nicht auf intelligenter Beherrschung des Gegenstandes, sondern auf der immer wieder geübten Bereitschaft, sich vom Gegenstande enttäuschen und richtigstellen zu lassen. Er entspringt aus einer echten Hingabe an den Gegenstand, zu der die Hereinnahme der Überlieferung gehört. Die so gewonnene Autorität ist die Frucht verborgenen, stellvertretenden Leidens als der Bereitschaft, an sich etwas geschehen zu lassen. Weil und solange es als der Weisheit letzter Schluß verkündet wird, daß der Mensch nicht leiden solle, so lange gibt es auch keine Autorität, auch wenn wir nach ihr rufen. Von dem Gesagten her gibt es im Rahmen einer wirklich modernen demokratischen Staatstheorie echte Möglichkeiten. Das Problem läßt sich etwa am Modell des Landratsamtes darstellen. Das preußische Landratsamt entstammte einer ständischen Tradition. Der Kreistag präsentierte dem König einen angesehenen Mann aus seiner Mitte. In dieser Mittelstellung vereinte er die königliche Autorität, das eigene Ansehen und das Vertrauen des Kreises. Er blieb lebenslänglich auf seiner Stelle und konnte so Autorität erwerben. Schon Bismarck kritisierte die Zerstörung dieser Tradition durch ehrgeizige junge Beamte, die den Posten nur als Sprungbrett benutzten. Heute ist der Landrat kommunalisiert und reiner Wahlbeamter. Jene dualistische Verbindung ist damit aufgehoben. Aber es geht heute nicht in erster Linie darum, die Kommunalisierung wieder aufzuheben; man sollte sich jedoch vom Standpunkt demokratischer Theorie, auch nach einem rechten Selbstverständnis der politischen Parteien selbst verbieten, bei wechselnden Parteiverhältnissen einen bewährten Mann einfach abzuberufen. Ein Amt ist die Gelegenheit zur Bewährung und mit der Bewährung zur Bildung von Autorität. Zerstört man das, so wird man bald nur Manager und Funktionäre, keine Menschen mehr haben. Und mit den Menschen fällt auch die Demokratie, ganz zu schweigen von der wirklichen Leistung, die immer nur auf menschlicher Hingabe, nicht auf Intellekt und Routine beruht. Die Vermenschlichung der Demokratie ist ein ebenso dringliches Problem wie die Vermenschlichung der industriellen Wirtschaft. Auch der Abgeordnete hat ein Amt, dessen Verantwortlichkeit ihm auch durch das Votum seiner Wähler, dem er sich stellen muß, nicht abgenommen werden kann. Es sündigen die Politiker und es sündigt das Volk, welches sich allzu oft der harten Wirklichkeit nicht eher stellt, als es unausweichlich und dann meist zu spät ist. Es sollte auch eine demokratische Form geben, in der die politische Bewährung und Erfahrung ihren Platz findet. Die USA haben dies im Senat verwirklicht, der durch eine längere Wahldauer und die Art seiner Zuständigkeit-ein Moment der Dauer darstellt. Hier hat weniger der einzelne als die Körperschaft eine beträchtliche Autorität. Es hilft auch nicht der beliebte Schrei nach der Persönlichkeit. Person wird häufig, aber falsch von der Maske abgeleitet, durch die etwas hindurchtönt. Aber durchtönen können sehr verschiedene Dinge, die mit Willkür ausgewechselt werden. Der wahre Ursprung ist das griechische Prosopon, die kultische Maske im Drama, die gerade nicht verdeckt und verhüllt, sondern das Dargestellte real gegenwärtig setzt. Nur wo diese Realität des Menschen für den Menschen erreicht wird, wird der ethische Idealismus überwunden. Die letzte Aporie politischen Handelns kann freilich keine Befreiung unseres politischen Denkens überwinden. Sie ist in dem Wort von Tocqueville ausgesprochen: „Demokratische Staaten entschließen sich schwer zum Kriege, aber ebenso schwer zum Friedensschluß”. Die Umkehrung ist deutlich. Autoritäre Regime entscheiden sich leicht zum Kriege, aber schließen auch leicht Frieden. Warum? Die Gesamtheit ist in Wahrheit nicht für geschichtliche Entscheidungen, sondern nur für zeitlose, insbesondere moralische Werte zu entflammen. Eben dies aber verhindert dann den Frieden. Weil man aus dem Gegner zunächst den Teufel machen muß, kann man mit diesem Teufel hinterher keinen Frieden schließen. Seit vierzig Jahren vergiften politischer Moralismus und politische Ideologien das Zusammenleben der Völker und schränken ihre Fähigkeit, Frieden zu schließen, in erschreckendem Maße ein. Unzweifelhaft sind autoritär geführte Staaten wesentlich leichter zum Machtmißbrauch versucht, wie ein Ludwig XIV. sein blühendes Land durch glorreiche Kriege zugrunde gerichtet hat. Im Grunde ist es der Gegensatz zwischen Geschichte und Geschichtslosigkeit, zwischen der Gefahr, falsch, und der Gefahr, überhaupt nicht oder entscheidend zu spät zu handeln. Man kann sich für das entscheiden, was einem als das kleinere Übel erscheint; aber man kann diese Aporie nicht aufheben. Denn sie liegt letztlich darin begründet, daß beim Menschen das A und O, der Anfang und das Ende nicht zusammenfallen. Quatember 1954, S. 204-212 |
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