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Das „Gottesjahr”
(Nach einem Menschenalter VIII)
von Wilhelm Stählin

LeerWenn ich mich recht erinnere, war es während der Tagung in Angern (Jan. 1923), aus der unsere Berneuchener Konferenzen ihren Ursprung ableiten, daß mich Walther Kalbe fragte, ob ich das von ihm begründete Jahrbuch „Das Gottesjahr” an seiner Statt als Herausgeber übernehmen wollte. Walther Kalbe war Pfarrer in dem thüringischen Dorf Schmiedehausen; ich stand mit ihm in der Arbeit des BDJ (Bund Deutscher Jugendvereine; nicht zu verwechseln mit sehr andersartigen Kreisen, die später unter diesem Namen bekannt wurden) und hatte mit ihm, der Anthroposophie und evangelisches Christentum miteinander vereinigen wollte, die ersten mich sehr erregenden Gespräche über das Verhältnis von Anthroposophie und Reformation. Ich sagte zu, weil mich die Aufgabe lockte, und ahnte nicht, daß ich damit für fast zwei Jahrzehnte einen großen Teil meiner Arbeitskraft auf ein bestimmtes Unternehmen festlegte.

LeerDen ersten Jahrgang, der wohl 1921 erschienen war, habe ich nie zu Gesicht bekommen; der 2. und 3. Jahrgang, beide noch von Walther Kalbe herausgegeben, zeigen jene Mischung von „freiem” Christentum mit leichtem anthroposophischem Einschlag, Jugendbewegung und künstlerischen Versuchen jener Jahre; wenn ich in diesen Bänden blättere, überkommt mich jedesmal ein kopfschüttelndes Verwundern, daß ich gewagt habe, in dieses Erbe einzutreten.

LeerVom 4. Jahrgang an (1924) habe ich das „Gottesjahr” herausgegeben, bis es mit seinem 17. Jahrgang (1937) sein vorzeitiges Ende fand. Die Anfänge dieser Arbeit fielen zeitlich zusammen mit den Anfängen von „Berneuchen”; es war selbstverständlich, daß sich mit die beiden Kreise auch innerlich verbanden, und daß neben dem Nürnberger Freundeskreis - unter ihnen vor allem der unvergeßliche Christian Geyer und der Dichter Theowill Übelacker; auch Anna Schieber und ihre Freundin Marie Cauer sind dazu zu rechnen - Karl Bernhard Ritter, Ludwig Heitmann, Wilhelm Thomas u. a. zu den regelmäßigen Mitarbeitern des „Gottesjahres” zählen. Im „Gottesjahr” 1927 wurde zum erstenmal auf diesen Zusammenhang mit Berneuchen ausdrücklich hingewiesen.

LeerDie ersten Bände lassen deutlich erkennen, wie stark wir alle damals von der „Jugendbewegung” geprägt waren und von dort her ein unmittelbares Empfinden für die Natur und ihre Rhythmen und für eine kosmische Weite des Christusglaubens hatten. (Vielleicht war es auch umgekehrt, daß wir einen unmittelbaren Zugang zur Jugendbewegung hatten, weil wir so stark in diesen Räumen lebten.) Diese Verbindung des christlichen Glaubens mit der Schöpfung wollten wir auch später niemals verleugnen, und so sind alle Bände des Jahrbuches ein Dokument jenes Bemühens um die Wiedergewinnung einer wahrhaft trinitarischen Frömmigkeit geworden.

LeerIm Unterschied zu den ersten 3 Jahrgängen, in denen viele kleine Absätze und Skizzen lose aneinandergereiht waren (wie es reizvoll genug in manchem Kalender geschieht), gab ich von Anfang an jedem Jahrgang sein Thema; die Aufeinanderfolge dieser zumeist nicht vorher ausposaunten Untertitel stellt selbst ein Stück innerer Geschichte dar: 1924: Das Kirchenjahr; 1925: Der Tageslauf; 1926: Die Woche; 1927: Die Lebensstufen; 1928: Von Zeit und Ewigkeit; 1929: Der Gottesdienst; 1930: Erziehung; 1931: Bibel; 1932: Natur; 1933: Kirche; 1934: Christus; 1935: Eine heilige christliche Kirche; 1936: Die Einheit der Bibel; 1937: Menschen unter Gott. Es folgten dann noch 4 „Sammelbände”, die, ohne den Titel des „Gottesjahres” zu tragen, doch eine genaue Fortsetzung des Jahrbuches darstellten: Vom heiligen Kampf (1938), Hilfe im Alltag (1939), Kleines Wörterbuch der Christenheit (1940) und schließlich das „Buch vom Sonntag”, das, 1941 geschrieben, erst 1951 erscheinen konnte. Es ist gewiß kein Zufall!, daß allein das Buch „Hilfe im Alltag”, das am entschiedensten unter allen Bänden einen unmittelbar seelsorgerlichen Dienst tun wollte, drei Auflagen erlebt hat.

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LeerIm Rückblick auf die 2 Jahrzehnte dieser Gottesjahr-Arbeit will mir die Arbeitsgemeinschaft mit einer Anzahl wirklich gleichgesinnter und in den gleichen Erkenntnissen verbundener Freunde als das Besondere und zugleich als das Beglückendste erscheinen. Wir waren verschieden genug, um nicht durch Einerleiheit zu langweilen, und es war doch immer ein wirklicher Zusammenklang, nicht nur eine Arbeitsgemeinschaft, sondern gemeinsame Arbeit. Nachdem das Gottesjahr aus dem Greifen-Verlag (Rudolstadt) in den Bärenreiter, dann den Johannes-Stauda-Verlag übergegangen war (mit dem Jahrgang 1929), wurde es bald auch das offizielle Jahrbuch des Berneuchener Kreises und ist das geblieben; die Aufgabe, die ich ganz persönlich übernommen hatte, wurde ein Auftrag der Evangelischen Michaelsbruderschaft.

LeerWenn ich kurz beschreiben sollte, was mir bei all diesen 18 Bänden vorschwebte, so würde ich etwa sagen: Es hat sich mir im Lauf der Jahre die Aufgabe einer solchen Form biblischer und christlicher Unterweisung herausgebildet, die sich an gebildete und nachdenkliche Leset wendet; vielleicht haben wir auch in dieser Hinsicht einen notwendigen Dienst etwas früher erkannt und uns etwas früher ans Werk gemacht als manche andere.

LeerDie Arbeit an diesen Bänden ist für mich mit vielen persönlichen Erinnerungen verknüpft. Vieles habe ich in einem der vielen Kaffeegärten in der Umgebung von Münster geschrieben oder diktiert, manches auch auf Ferienreisen; ich sehe mich noch von Kühen umringt am Ufer der Ems sitzen meinen Aufsatz über das „Ennteh” schreiben, oder hoch oben in der Silvretta an einem kleinen See gelagert bei der Satire über den „Sehr fleißigen Pfarrer”. Aber solche Anekdoten können ja niemanden interessieren.

LeerEine besondere Sache, die eines besonderen Berichts würdig ist, war das „Monatswerk”, zu deutsch Kalendarium, das bis zuletzt dem „Gottesjahr” vorangestellt war und das ihm schließlich das Leben gekostet hat. Von Walther Kalbe hatte ich die Gewohnheit übernommen, dem Jahrbuch einen richtigen Kalender mit den Zeiten von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang voranzustellen. Die Gedenktage, die bei den einzelnen Daten verzeichnet waren, waren eine sehr seltsame Gesellschaft; da stand in den ersten Bänden neben Benedikt von Nursia und Heinrich Seuse auch Otto von Bismarck und Wilhelm Busch, „das erste Überseekabel 1866” und „Scapa Flow 1919”. An die Revision - um nicht zu sagen: die Taufe - dieser Kalendernamen haben meine Freunde und ich viel Mühe gewendet; Christian Geyer hat in seinem Buch „Lebendiger Kalender” aus seinem unerschöpflichen Wissen ein Lesebuch über die Träger der Namen aus jenen Anfangsjahren geschaffen.

LeerErst im Laufe der Jahre ist dann so etwas wie ein christlicher „Heiligen”-Kalender entstanden; und anstelle des „Lebendigen Kalenders” ist „Die Wolke der Zeugen” getreten. Aber darüber hat Jörg Erb selbst in diesen Blättern (im vorigen Jahrgang S. 32) erzählt. - Außer den Namen standen aber im Gottesjahr-Kalender auch Sprüche für die einzelnen Wochen. Ein paar Jahre hindurch haben wir sogar den einzelnen Monaten Überschriften gegeben wie „Gnade”, „Welt”, „Ritterschaft”, „Licht”, bis mir klar wurde, daß der Monat, weil er nicht zu den Ordnungen der Schöpfungen gehört (sonst müßte das Jahr 13 „Monde” haben), darum auch kein Maß kirchlicher Ordnung sein kann (was freilich die Freunde von „Monatssprüchen” und „Monatsliedern” bis heute nicht gemerkt haben).

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LeerAber auch die Sprüche für die einzelnen Wochen haben eine merkwürdige Wandlung durchgemacht. Es waren zunächst Worte einer Allerweltsweisheit, wie wir sie auf kleinen Abreißkalenderzetteln finden; es waren gute Sprüche darunter, zunächst fast geflissentlich profanen Ursprungs und betont „weltlicher” Form. „Der Seele ist kein Ding so unbekannt wie sie sich selber”, „Disputiert nicht mit dem Satan”, „Immer nur kann dir geschehen, was du selber bist”: Das sind so einige Proben aus dem „Gottesjahr 1924”. So haben wir angefangen; aber in dem Maß als sich unsere sachliche Aufgabe verdichtete und zugleich das Kirchenjahr in unseren Gesichtskreis trat, entstanden jene „Wochensprüche”, die streng nach dem Gang des Kirchenjahres jede Woche mit einem biblischen Wort einleiteten. Seit 1928 standen sie im Wesentlichen fest, und die Veränderungen, die aus verschiedenen äußeren und inneren Rücksichten seither daran vorgenommen worden sind, sind geringfügig gegenüber dem Weg von den Anfängen bis dahin. Diese „Wochensprüche” haben eine ziemlich allgemeine Verbreitung in der evangelischen Kirche in Deutschland gefunden und sie stellen vielleicht die einzige bleibende Auswirkung der Arbeit am „Gottesjahr” dar, auch wenn die wenigsten, die sie gebrauchen, um den Ursprung wissen.

LeerAber nicht die Fehler, die wir zunächst dabei gemacht haben, sondern die Tatsache dieses Kalendariums selbst hat dann das Ende des ganzen Unternehmens herbeigeführt. Um dieses Monatswerkes willen galt das „Gottesjahr” als „Kalender” und unterstand als solcher einer nationalsozialistischen Prüfstelle für Schrifttum. Diese verbot ohne Begründung den Band, der ihr im Manuskript pflichtmäßig vorgelegt worden war. Ich fuhr nach Berlin, um authentisch zu erfahren, was wir verbrochen hatten. „Ihr ganzes Buch ist eine Kampfansage an die nationalsozialistische Weltanschauung.” „Damit hat sich dieses Buch überhaupt an keiner Stelle befaßt.” „Um so schlimmer.” „Worin sehen Sie einen Angriff auf Ihre Weltanschauung?” „Da steht zum Beispiel in einem Aufsatz über den Kreuzweg: Die Tankstellen als die Wegkapellen des heutigen Menschen können jenes Bedürfnis nach Stille und Sammlung nicht erfüllen, denen sonst die Kapellen am Kreuzweg dienten. Das ist ein heimtückischer Angriff auf die Weltanschauung des Nationalsozialismus.” „O, ich wußte nicht, daß das Benzin zu den Symbolen dieser Weltanschauung gehört.” - Damit war es natürlich aus. Wir haben, um das Buch als Ganzes zu retten, einige Stellen, die einen besonderen Zorn erregt hatten, gestrichen, haben auf das Kalendarium und schließlich auch auf den Titel „Gottesjahr” verzichtet, weil ja schließlich auch das „Jahr” gepachtet war.

LeerEs ist genau ein Menschenalter her, daß der erste Band des „Gottesjahres” erschien. Die 18 Bände spiegeln den inneren Weg dieser Jahre, und ich meine in der Rückschau, daß es eine gute und sinnvolle Linie sei, die mit manchen Krümmungen und manchen Seitenwegen von jener rasch gegebenen Zusage vom Januar 1923 bis zu den „Evangelischen Jahresbriefen” und zu Quatember geführt hat.

Quatember 1954, S. 225-227

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-18
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