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Kirchentag unter Gottes Zorn
von Erich Müller-Gangloff

LeerKeiner, der in Leipzig dabei war, zweifelt daran: dies war nicht nur der größte, sondern auch der mit Abstand bedeutendste aller Kirchentage. Nicht einmal der Berliner Kirchentag, der erste, der im Zeichen der West-Ost-Begegnung stand, kann den Vergleich mit dem von Leipzig aushalten, wieviel weniger diejenigen, die von vornherein auf den Westen beschränkt waren. Vom Eröffnungsgottesdienst mit seinem noch nie dagewesenen Fortissimo bis zur Schlußkundgebung, die annähernd eine halbe Million Menschen auf die Beine brachte, war der Kirchentag schon in seinen äußeren Dimensionen ein Ereignis ohnegleichen - noch weit mehr aber in seiner geistlichen Tragkraft und Strahlungswirkung.

LeerEr war es gerade darum, weil er den Menschen, die sich um ihn bemühten, keineswegs in den Schoß gefallen ist, sondern den widrigsten Umständen abgerungen und abgetrotzt werden mußte. Als in Hamburg 1953 ein kleines Häuflein Überzeugter für ein Wiedersehen in Leipzig im Jahre 1954 kämpfte, war es die beinahe einhellige Meinung vieler führender Kirchentagsmänner - mit Ausnahme des Präsidenten Thadden-Trieglaff selber -, ein Leipziger Kirchentag sei viel zu verwegen, ja grenze so sehr an Wahnsinn, daß man ihn gar nicht erst versuchen dürfe. Der Verlauf des Kirchentages hat diese Befürchtung in merkwürdiger Verkehrung bestätigt - er grenzte in der Tat an Wahnsinn, aber in einem guten und positiven Sinne: so wie von je alles Große und Kühne und Geniale in der Menschengeschichte an Wahnsinn grenzte.

LeerEs ist kein Geheimnis, daß dieser Kirchentag, auch nachdem er endlich doch beschlossene Sache war, mit geradezu unvorstellbaren Schwierigkeiten der verschiedensten Art zu kämpfen hatte. Bis zum März war unklar, ob die Ostregierung ihre Zustimmung gäbe. So mußte in einem Vierteljahr alles das organisatorisch bewältigt werden, wozu sonst ein ganzes Jahr der Vorbereitung zur Verfügung stand. Nur dadurch, daß er eine beinahe sagenhafte Einsatzkraft ungezählter Hilfskräfte mobilisierte, hat der Kirchentag überhaupt in diesen Dimensionen stattfinden können.

LeerAuch als er schon begonnen hatte, war sein Gelingen keineswegs sicher. Die Neigung zu Apathie und Resignation, die heute die Menschen des Ostens allgemein bedroht, war auch auf dem Kirchentag ganz deutlich zu spüren. Es war nicht wie in Berlin damit getan, daß man die Menschen zusammenführte. Sie strömten zwar in riesigen Mengen in den Arbeitsgruppen zusammen und hörten den Referaten mit erstaunlicher Geduld und mit sichtlich wachsender Spannung zu, aber die Bereitschaft zur Diskussion war am ersten Tag in den meisten Gruppen ausgesprochen flau. Sie wurde erst am zweiten Tag bewegter und zum Teil dynamisch. Und erst am dritten Tag schien die Erstarrung ganz von den Menschen abzufallen, so daß das schwierige Experiment der Podiumsdiskussion nicht nur gelang, sondern in allen Arbeitsgruppen als der Höhepunkt der gesamten Arbeit empfunden wurde.

LeerDas galt der Sache gemäß ganz besonders für die Arbeitsgruppe, die sich mit den politischen Problemen beschäftigte und in der die Referate von Präsident Hildebrandt und Präses Heinemann besonders aufwühlend gewirkt hatten. Hier wurde an diesem abschließenden Tage das Thema „Gottes Geduld mit der Welt”, mit dem begonnen worden war, zu der für den Christen zentralen Frage nach dem Sinn von Gottes Zorn weitergeführt. Es wurde beinahe unheimlich deutlich, wie sehr Gottes Zorn auch heute und vielleicht gerade heute auf unserem Volke lastet, weil es die Last einer unbequemen Vergangenheit von sich abzuschütteln sucht und sich weithin weigert, die über uns ergangene Katastrophe als Gericht und als Mahnung zur Buße und Umkehr zu begreifen.

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LeerDahinter stand, wenn auch in Worten nicht ausgesprochen, die Frage, ob es nicht auch ein Zeichen von Gottes gerechtem Zorne sei, wenn die Wiedervereinigung so unerklärlich lange auf sich warten läßt, weil wir uns als Volk bereits wieder in einer verkehrten Einmütigkeit darüber befinden, daß das Verschulden, zu dem sich die evangelische Christenheit 1945 in Stuttgart bekannt hat, inzwischen längst abgegolten und abgetragen sei.

LeerVon dem inneren Höhepunkt her, der mit dieser Fragestellung erreicht wurde, könnte man sagen, daß der ganze Leipziger Kirchentag im Zeichen des Zornes Gottes gestanden hat, eines Zornes allerdings, der nichts als eine andere Gestalt seiner Gnade und Erbarmung ist. Noch nie vielleicht seit 1945 hat die Kirche wieder so unmittelbar im Angesicht ihres Herrn gestanden wie in Leipzig Was an politischen und halbpolitischen Begegnungen bei Gelegenheit dieses Kirchentages erfolgte, sollte nur in dieser Perspektive und nicht unter den Gesichtspunkten der Sensation betrachtet werden. Allerdings kann die Bedeutung der Tatsache kaum übertrieben werden, daß der Bonner Bundestagspräsident und ein Minister des Kabinetts Adenauer sowie zahlreiche andere westdeutsche Politiker nach Leipzig kommen konnten und auch kamen, während 1951 dem Berliner Kirchentag die allergrößten Schwierigkeiten aus dem politischen Antagonismus zwischen West und Ost erwachsen waren.

LeerUnter Gottes besonderem Zorn schien auch das Wetter dieses Kirchentags zu stehen. Bei anderen Kirchentagen hatte wohl hier und da einmal ein Regenschauer die Abfolge der großen Treffen und Begegnungen gestört, sonst hatten sie eher unter der Glut sommerlicher Hitze zu leiden. In Leipzig aber strömte das Wasser tagelang in unabsehbaren Fluten vom Himmel - bis hin zur Überschwemmung ganzer Stadtteile. Der Himmel selbst schien damit ein Nein zu diesem Kirchentag zu sagen. Aber auch in diesem anscheinenden Zorn war unschwer die Gnade zu erkennen. Die unvergleichliche Geschlossenheit dieses Kirchentages ist zu einem erheblichen Teil gerade dem gräßlichen Wetter zuzuschreiben, das die Menschen noch mehr als sonst von den Straßen in die riesigen Hallen zusammentrieb und es allen als ein besonderes Geschenk des Himmels erschienen ließ, daß die beiden Großveranstaltungen, die nur im Freien stattfinden konnten, der Eröffnungsgottesdienst und die Schlußversammlung am Sonntag, durch den Regen nicht beeinträchtigt wurden.

LeerHeinrich Giesen, der einfallsreiche und unermüdliche Generalsekretär, hatte dem Programm dieses Kirchentages den Satz vorangestellt: Wenn Gott die Wogen des Meeres nicht teilt, nützen Israel auch keine Kähne. Es war, als hätte er damit die Situation der Schlußversammlung vorausgeschaut, während der der Landregen der Vortage innehielt und nach deren Abschluß sich die Schleusen des Himmels erst vollends zu öffnen schienen. Das Volk Gottes aber hatte sich auch durch die Regendrohung nicht abhalten lassen und war noch am Sonnabend und Sonntag in zahllosen Sonderzügen in die Stadt des Kirchentages geströmt.

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LeerSo wurde dieser Sonntag noch ganz anders als bei früheren Kirchentagen zum Gipfelpunkt der gesamten Tagung - vom Lobgesang bis zum Fürbittengebet ein einziges gewaltiges Bekenntnis der Gottesgemeinde zu ihrem Herrn. Zu einem Höhepunkt ganz eigener Art aber wurde in diesem Ganzen das bewegende Grußwort, das Frau Klausener im Namen des Deutschen Katholikentages sprach. Hier wurde noch einmal deutlich, wie segensreich der Zorn Gottes in seinen Folgewirkungen sein kann, wenn die Menschen ihn nur recht als eine Gestalt seiner Gnade begreifen lernen: aller herkömmliche konfessionelle Hader wird in seinem Zeichen auf einmal merkwürdig gegenstandslos, und die Einheit des Leibes Christi, sonst nur im Credo bekannt und zur Theorie verblaßt, gewinnt auf überraschende Weise Gegenwart und Gestalt.

LeerWenn wir rückblickend die Frage stellen, was uns Leipzig, aufs ganze gesehen, gelehrt hat, so ist die Antwort in einem Satz, ja in einem Wort zu geben: es hat uns den Wert der persönlichen Begegnung neu erfahren und gegenwärtig werden lassen. Es hat uns gezeigt, daß es nicht damit getan ist, wenn wir den Menschen im Osten von Zeit zu Zeit versichern, wie sehr wir mit ihnen fühlen und was wir alles für sie zu tun bereit sind. Es bedarf der aktiven Bemühung um sie. Wir müssen uns um Begegnungen und Kontakte bemühen, wo immer sich uns die mindeste Gelegenheit dazu bietet.

LeerEs gab während dieses Kirchentages Augenblicke, in denen man das Gefühl haben konnte, jetzt könne sogleich ein Erdbeben beginnen. Und vielleicht hat nur die gnädige Dauerhaftigkeit des Regens verhütet, daß es zu unguten Entladungen dieser Spannung kam.

LeerWenn sich diese dem Nichtteilnehmer vielleicht unvorstellbare Spannung nur nach innen entlud und es so beim Wetterleuchten blieb, so ist dies außer dem Regen aber auch der Tatsache zu danken, daß es in Leipzig wirklich zur Begegnung gekommen ist, daß die Menschen des Ostens ganz unmittelbar erfuhren, in welchem Maße ihre westlichen Brüder ihre Nöte und Bedrängnisse ernst nehmen und wenigstens im fürbittenden Gebet mit ihnen zu tragen bereit sind. Auch die schwerste und schlimmste Not ist leichter zu ertragen, wenn sie nicht in der Trübsal der Einsamkeit getragen werden muß, sondern von aufrichtigen und hilfsbereiten Menschen mitgetragen wird.

LeerHundertfach und tausendfach schallte es einem in Leipzig entgegen, daß den Menschen drüben Kontakte und Begegnungen so nötig sind wie das tägliche Brot - wenn nicht sogar noch nötiger als dieses. So darf Leipzig kein Ende, es muß ein Anfang sein. Wir sollten uns durch diesen größten aller Kirchentage nicht beschämen und es auf keinen Fall an Phantasie fehlen lassen, wie das hier mit so überschwenglichem Erfolg Getane sich in anderer, vielleicht bescheidenerer, aber um so stetigerer Weise wird fortführen lassen. Wer auf diesem Kirchentag oder durch ihn etwas von Gottes Geduld und von Gottes Zorn erfahren durfte, der wird aus dieser Erfahrung keines leichten Kaufes entlassen.

Quatember 1954, S. 233-235

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-18
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