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Die fertige und die unfertige Kirche
von Gerhard Bartning

LeerWarum sind so viele Menschen der Kirche entfremdet? Was für Menschen sind es, die der Kirche entfremdet sind? Lernen wir solche Menschen näher kennen, erfahren wir häufig, daß sie in einer bestimmten Weise mit der Kirche „fertig” geworden sind. Es kommt ja auch sonst im Leben vor, daß wir mit jemandem „fertig” sind - nämlich dann, wenn er uns enttäuscht hat. Wir können sogar nach bestimmten Erfahrungen sagen: „Die Sache hat mich total fertig gemacht”. Es ist dies das Bekenntnis einer völligen Ermüdung - einer Ermüdung mehr der Seele als des Leibes. Die Sache wurde uns stumpf, und wir wurden für die Sache stumpf. Sie sagt uns nichts mehr und bedeutet uns nichts mehr. Sie befindet sich für uns im Zustand einer Todesstarre. Wir können dann sogar sagen: „Damit kann ich nichts mehr anfangen”. Die Frage ist, ob dieser Zustand einer Entfremdung von der Kirche damit zusammenhängt, daß etwas an der Kirche „fertig” sei - daß die Kirche eine „fertige” Seite habe.

LeerZwei Exempel sollen uns dieser Frage näher bringen. Manche unter uns werden auf Urlaubswanderungen auch der Dorfkirche zu Stuppach in Franken einen Besuch abgestattet haben. Wer die Lichtführung in einem spätgotischen Chorhaupt kennt und den Schmerz empfunden hat, den uns die plakatige Vollkommenheit des Nithardschen Bildes unter den Leuchtstoffröhren bereitet, weiß, was ich meine. Gewiß: das wandernde Tageslicht im alten Kirchenraum ist unvollkommen. Es erhebt uns nicht über die Zeit, sondern es überliefert uns der Zeit und damit dem Vergehen. Durch das Neonlicht und den Betonrahmen wird dem Bild die Zeit ausgezogen. Das Warme, Vieldeutige ist kalt und eindeutig geworden. Das Bild strahlt in nackter Vollkommenheit. Ich erinnere mich eines Mädchens, das beim Baden auf offener See die Kräfte verlassen hatten. Wir hofften, es sei noch Leben in diesem Leibe, und versuchten, seinen Atem zu wecken. Es war zu spät. Ich habe nie einen vollkommeneren Leib gesehen. Aber diese Schönheit war ein-deutig wie der Tod. Vor etwa achtzig Jahren gehörte die Vollkommenheit des Baustils zum Programm aller Kirchen, die neu gebaut wurden. Es ist uns bekannt, was dabei heraus kam: die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in unzähligen Exemplaren. Daß solche „Vollkommenheit” einmal durch die nackte Armut der Ruine gesühnt werden müßte, das hatte seinen Sinn.

LeerDoch sollten wir über jene wohlmeinenden Bauherren nicht spotten. Wir haben es inzwischen vielleicht gelernt, uns vor derlei Geschmacklosigkeiten besser in acht zu nehmen. Aber das Gefühl, wir seien in einem fremden, kalten, sachlichen Raume, bedrückt uns zuweilen auch in wohlproportionierten, zweckmäßigen, hörsamen neuen Kirchen. Es ist, als ob wir in solchen Räumen nichts zu suchen hätten. Aber unser Auge - das ja auch ein tastendes, greifendes Organ ist - will etwas suchen. Es will nicht alles fertig vorfinden. Es will suchen, um „Weile” zu haben, um einen Aufenthalt zu finden. Solche Räume haben oft den Schatten verbannt und damit das Erdig-Unfertige jedes wirklichen Körpers, der uns einlädt, um ihn herumzugehen und ihn zu „begreifen”.

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LeerEs gibt solche Räume, die wir mit einem Blick erfassen. Die Zeit, in ihnen etwas zu suchen, wird uns im voraus erspart, um nicht zu sagen, nachgeworfen - wie auf einer vorlauten Reklame. Man hat im Schwäbischen da und dort auf wiederhergestellten Kirchendächern auch dem Storch ein Nest erstellt in der Hoffnung, er nehme diese Einladung an. Er nahm sie zumeist nicht an. So will die Zeit nicht mehr in solchen Räumen nisten und damit fehlt ihnen das, was sie zu Gefäßen christlicher Leiblichkeit und Leibhaftigkeit macht - es fehlt ihnen ihr Atem, ihr Blut. (Nicht von allen neuen Kirchenräumen gilt dies. Es gibt wieder solche, die in entwaffnender Offenheit an der Zeit leiden - indem sie ihr zum Gefäß dienen wollen, auch solche, die sich dem hinzuhalten suchen, was aus dem Ungesagten aufbricht, die etwa der Höhle begegnen, dem Stern in der Finsternis, dem Keim und dem Ei, dem ungefügen Sproß aus zerbröseltem Boden.)

LeerAuch diese Art der Fertigkeit vermögen wir noch verhältnismäßig leicht beim Namen zu nennen. Die Frage bleibt aber, ob wir in unserer Kirche uns nicht mit Fertigkeiten anderer Art abgefunden haben und sogar unbedenklich mit ihnen arbeiten. Wir haben die Unruhe erlebt, die in manchen unserer Landeskirchen über der Entmythologisierung der neutestamentlichen Botschaft aufgekommen ist. Häufig war das treibende Moment eine sehr menschliche Angst: wir könnten eines altangestammten Besitzes verlustig gehen. Wir könnten von einer schleichenden oder akuten Inflation oder Deflation unserer theologischen Währung übereilt werden. In dieser Furcht verbirgt sich durchaus etwas Echtes und Wahres, das wir hier nicht verdächtigen wollen. Aber ein Teil dieser Furcht ist gar nichts anderes als was der Erzieher und der Psychologe kennt unter dem Namen der Angst vor Lebensverlust. Die Mutter spürt bewußter oder dumpfer, daß ihr Kind ihr entwachsen will. Sie wehrt sich dagegen und auch das Kind wehrt sich. Beide, wollen aus der Urseligkeit des geeinten Lebens nicht heraus. Diese Urverbundenheit ist unbedürftig und indiskutabel.

LeerDas wirkliche Kind ist aber unterwegs zu dem, was nicht mehr Kind ist. Und die wirkliche Mutter auch zu dem, was noch mehr ist als Mutter-Sein. Die Urverbundenheit ist Ausgang, nicht Ziel. Daher kommt die Spannung, daher kommen die Wachstumsschmerzen. Wenn wir nun durch eine bestimmte Weise oder einen bestimmten Repräsentanten der theologischen Forschung daran erinnert werden: „Du bist ja nicht mehr derselbe, der vor zwanzig oder dreißig Jahren sein Konfirmationssprüchlein gelernt hat. Du sprichst die Kindersprache nicht mehr - oder nur unter ganz bestimmten Umständen. Und doch willst du sie retten - retten, indem du sie in das Fixierbad einer handfesten Theologie tauchst, einer Theologie mit einer Kette von Heilstatsachen, am Faden einer Heilsgeschichte aufgereiht!” Ein namhafter Theologe, der sich gegen Bultmann wehrte, schrieb kürzlich: „Wir sind als Glaubende an ganz bestimmte historische, historisch auch feststellbare Sachverhalte gebunden.” Deine Sprache verrät dich! Sachverhalt, feststellen - die Sache ist fertig, mit dieser Sache bin ich fertig. Nichts gegen das er-zählen in der Theologie! Aber hier kann nichts mehr erzählt werden, weil wir bei den Sachverhalten angekommen sind.

LeerAber auch der anderen Seite kann die Frage nicht erspart bleiben: Seid nicht auch ihr der Perfektion verfallen? Ihr wollt den Inhalt der Botschaft aus seiner mythischen Form befreien. Ihr wollt die reine Existenz, die unvermischte Entscheidung. Aber auch da hört die Zeit auf und mit ihr das Erzählen, das diese „irdenen Gefäße” so gern hat. In den Gleichnissen Jesu vollzieht sich das Leben, und sie verbergen schlecht ihre Lücken, Risse, Klüfte, Öffnungen und Hüllen. Wissen die, die so munter entmythologisieren, zum Beispiel so genau, was in dem Satz : „Ich bin die Auferstehung und das Leben” da „Subjekt” und was „Prädikat” ist? Und wer macht noch Ernst damit, daß das Dogma gar keine Fest-Stellung, sondern ein Zu-spruch ist? Wie sehr verführt uns die theologische Sprache auf den Todesweg der Substantive! Und was ist doch das Werk des Heiligen Geistes in der Trinität? Das „Vorgehen”! Fertige Kirche? Nein. Kirche des kommenden Herrn, des hervor-gehenden Geistes!

Quatember 1955, S. 26-28

© Joachim Januschek
Letzte Änderung: 12-10-19
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